Volker Winkler

Nachts lebe ich nicht!

5:23 Früh am Morgen
Tosende Gewitter ziehen durch meine Gedanken und zeichnen in grellen Blitzen groteske Konturen. Blutrote Wirbel durchfurchen meine Welt, reißen Bäume entzwei und zerstören alles in meinem Blickfeld. Pure Angst erfaßt meine Glieder. Meine Beine kleben starr, wie festgewachsen, am nicht vorhandenen Boden. Ein Gesicht erscheint und wird entstellt, als würde ein schwarzes Loch an ihm zerren und es schließlich verschlingen.
Verstört reiße ich meine Augen auf. Ich durchstoße, mit meinen Blicken verzweifelt nach Vertrautem suchend, die Finsternis meines Zimmers. Doch die häßlichen Bilder in meinem Kopf bleiben. Bilder von Angst und Kälte, von Qualen und Tod. Woher kommen diese abgründigen Horrorszenarien? Habe ich das erlebt?
Ich weiß es nicht!
Keiner weiß das. Denn niemand kennt mich, nicht einmal ich. Mein jetziges Leben begann vor etwa einer Woche auf einer Steintreppe am Rande der Elbe. Meine Augen erblickten die kühl blinkenden Sterne am Himmel – und die kalte Dunkelheit der Nacht. Ich hatte dieselben Gedanken wie eben. Ich spreche deutsch, bin 1,75 Meter groß und trage eine zerkratzte Nickelbrille. Mehr weiß ich nicht. Doch – esse ich Nüsse, geht es mir hundeelend. Bei jedem Schluck Milch dreht es mir den Magen um und wenn Backfisch an mein Bett gebracht wird, bin ich für kurze Zeit glücklich. Wer bin ich? Wie bin ich?
Keiner kann meine Fragen beantworten, keiner kennt den Grund für meine Träume, die mich Nacht für Nacht  quälen. Sie huschen an mir vorbei wie ein Schwarm Vögel, manchmal manifestieren sich für kurze Zeit Figuren, Objekte und Orte, doch dann zerfließen sie wieder im Strudel der Dunkelheit. Das einzige Bild, an daß ich mich erinnern kann, hat sich eingebrannt, wie Natronlauge auf blanker Haut: das Gesicht eines älteren Mannes, Mitte 60. Hellgraues, dünnes Haar, dunkelgrauer Bart, Hundegesicht, winzige Augen von einer Hornbrille verdeckt. Doch wie fast alles auf dieser Welt, kenne ich ihn nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt existiert. Doch eines ist klar, er hat Angst vor mir? Warum? Was bin ich?
Erschöpft blicke ich zur Uhr.
5:35 Uhr
Das Licht im Flur vor meinem Zimmer geht an. Schritte sind zu Hören, Stimmen zerreißen meine Stille. Ich kann es fühlen. Das Leben strömt in meine Adern. Denn nachts lebe ich nicht. Der Tod reißt mich jeden Abend hinfort, zeigt mir seine abartige Welt und wirft mich jeden Morgen zurück in ein Leben. Ob es mein Leben ist, weiß ich nicht. Ich bin nicht einmal sicher, ob es ein Leben gibt, das ich vorher gelebt habe. Die Nichtexistenz eines solchen vorherigen Lebens wäre ebenso unlogisch, wie seine Existenz ohne meine Erinnerungen daran unvorstellbar ist. Es ist verstörend, eine Tatsache akzeptieren zu müssen, die man sich nicht im Entferntesten vorstellen kann. Wo gehöre ich hin? Ich habe diese Frage noch am selben Tag meiner Wiedergeburt gestellt. Ich habe sie wiederholt, ich habe sie geschrieen und geheult. Doch die Antworten kamen nicht in mein Gedächtnis zurück. Seitdem zermartere ich mir tagsüber den Kopf über meine Herkunft, meine Träume und ihre Bedeutung und über mich. Was war ich für ein Mensch? - Eine absurde Frage, angesichts meines offensichtlich am Leben befindlichen Körpers inklusive eines, abgesehen von meinen Erinnerungen, voll funktionierenden Geistes. Ich bin nicht tot, mein Körper ist weit davon entfernt. Ich scheine gesund und sportlich zu sein. Doch ich weiß nicht warum. War ich Athlet? Bauarbeiter? Postbote? Hatte ich eine Familie, die mich jetzt vermißt? Wenn auch nur ein Zehntel meiner Fragen eine Antwort erhalten könnten, ich wäre der glücklichste Mensch auf dieser Welt, die ich im Übrigen auch nicht kenne.
Ich habe mir in den vergangenen Tagen Nachrichten angesehen, habe Boulevardmeldungen verschlungen und Menschen beobachtet. Die einzig verwertbaren Erkenntnisse: ich kann lesen – und ich bin kurzsichtig.
„Guten Morgen, Herr Schmidt, haben sie gut geschlafen?“ – Sie haben mich Thomas Schmidt genannt, um mich in den Akten und bei Visiten benennen zu können. Ebensogut wäre eine Nummer gewesen: ‚Hallo Nummer 834, haben sie gut geschlafen.’ Ich stöhne leicht.
„Wieder schlimme Träume gehabt? Sie Armer!“ Mitleidig blickt sie mich über den Rand ihrer dunkelbraunen Brille an. Dann tauscht sie die Blumen auf dem Tisch aus und wischt grob den Boden. Er wird nicht besonders schmutzig. Ich bekomme keinen Besuch, der Dreck im Zimmer verteilen könnte. Mich kennt niemand. Und ich kenne auch niemanden. Es tut weh, die Familienbesuche der anderen Patienten zu sehen. Die fröhlichen Gesichter, die aufgeregten, leicht gedämpften Stimmen. Doch mein Stuhl bleibt leer. Nur der Psychologe setzt sich jeden Morgen auf ihn, um mit mir zu schwatzen. Er versucht meine Träume, oder besser, meine Erinnerungen an meine Träume zu erfahren, vergeblich, ich weiß ja selbst nichts mehr.
Als die Krankenschwester den Raum verläßt, bin ich wieder allein. Langsam verdunkelt sich mein Geist. Der Tod hat mich wieder.
10:13 Uhr
Klitschnaß geschwitzt schrecke ich hoch. Was für ein furchtbarer Traum. Der alte Mann sah mir direkt ins Gesicht. Dann verzerrte er es unter Schmerzen. Sein verzweifelt aufgerissener Mund formte ein langgezogenes „Nein“, dann verschwamm es, und dunkle und rote Nebelschwaden verwischten seine Konturen.
Ich streiche  mir einige nasse Strähnen aus dem Gesicht. Grelles Sonnenlicht durchflutet meinen Geist und verdrängt meine Träume. Vorsichtig setze ich meine Füße auf den Boden. Leichte Kopfschmerzen erinnern mich an einen nicht mehr in meinem Gedächtnis gespeicherten Unfall. Ich habe eine große Beule am Hinterkopf. Der Arzt ging bei seiner Diagnose von einem Schlag mit einem dumpfen Gegenstand aus. Irgend etwas ist mir auf den Kopf gefallen. Vielleicht ein runder Stein oder eine schwere Platte. Natürlich weiß das niemand genau. Fest steht, daß ich von einem Schlag auf den Kopf eine Gehirnerschütterung  davongetragen habe. Ich schnaufe laut, als sich der Satz ‚Keiner weiß, warum!’ wieder über die Fakten legt. Ich stehe auf und verlasse mein Zimmer.
Meine Schritte führen mich schlurfend und schwerfällig zuerst in den Aufenthaltsraum, dann zurück durch wahllose mit geschäftigen Ärzten und Krankenschwestern gefüllte Gänge in mein Zimmer. Ich lege mich wieder auf mein Bett und schalte den Fernseher ein.
„… Leiche gefunden worden. Die Staatsanwaltschaft prüft nach Aussagen ihres Sprechers Tobias Faber noch die Fakten. Aller Voraussicht nach, handelt es sich jedoch um Mord. Das Opfer ist ein 63-jähriger Mann aus Pinneberg. Er wurde mit einer offensichtlich tödlichen Kopfwunde in einem Gebüsch seines weitläufigen Grundstücks gefunden, nachdem er seit letztem Donnerstag vermißt wurde. Ich gebe aus Hamburg zurück ins Studio.“ Ich starre den Nachrichtensprecher an. Grauen durchflutet mein Hirn. Pochende Kopfschmerzen breiten sich aus und machen mir die ganze Tragweite der Meldung bewußt. Morde passieren jeden Tag und werden in den Medien groß und breit zertreten. Doch dieser Mord ist etwas besonderes, denn er hat mit mir zu tun. Ich weiß es so genau, wie nichts anderes in den letzten Tagen. In der rechten oberen Ecke des Fernsehbildes hat man ein Foto des Opfers eingeblendet: ein älterer Mann, Mitte 60, hellgraues, dünnes Haar, dunkelgrauer Bart, Hundegesicht, winzige Augen verdeckt von einer Hornbrille. Wer um Himmels Willen ist dieser Mann, der Mann aus meinen Träumen?
Elektrisiert zappe ich durch die Kanäle auf der Suche nach mehr Informationen. Ich finde nichts. Und während mein Finger immer wieder den Kanalschalter der Fernbedienung zerquetscht, stelle ich mir eine Frage, deren Auswirkungen ich beginne zu begreifen: Bin ich ein Mörder?
Es muß so sein. Ich erinnere mich an seine hilflosen Blicke die sich Nacht für Nacht in mein Bewußtsein brennen. Ängstlich, flehend, um dann schmerzverzerrt zu verschwinden. Oh Gott, was habe ich getan? Ich blicke wieder zum Fernseher. Ich habe unbewußt weitergeschaltet. Da! Eine Meldung, derselbe Mann, sein Bild untertitelt mit „Entführt und ermordet!“ Eiskalter Schweiß tritt auf meine Stirn. Ein Schleier umfängt meine Sinne, während ich den Worten des Sprechers folge.
„Der 63-Jährige wurde nach Angaben der zuständigen Polizeibehörde seit 2 Wochen vermißt. Gerichtsmedizinische Untersuchungen haben ergeben, daß der Mann durch einen dumpfen Schlag auf den Hinterkopf ums Leben gekommen ist. Die Tatzeit wird auf Montag vor einer Woche neun Uhr datiert.“ – Montag morgen vor einer Woche– Heute ist Mittwoch, sieben, zwei … neun Tage. Genau die Zeit, die sich in meinem Gedächtnis in dunklen Nebelschwaden verliert. Mein Herz setzt einen Moment aus. Habe ich das wirklich getan? Ich verfolge die Nachrichten weiter.
„Der Polizeisprecher Assmann teilte am Morgen mit, daß es eine heiße Spur und einen Tatverdächtigen gibt, dessen Aufenthaltsort ermittelt werden konnte. Über eine mögliche Verhaftung konnte Assmann aus polizeilichen Gründen keine Auskünfte geben.“ Plötzlich höre ich Stimmen vom Flur. Mein Psychologe. Keine Frage, er ist aufgeregt. Noch ehe ich den Fernseher ausschalten kann, steht er mit zwei weiteren Personen m Raum. Meine Sinne rauschen. Noch betäubt von den Neuigkeiten, die ich eben aus dem Fernsehen erfahren habe, blicke ich abwesend in ihre rot schimmernden Gesichter.
„Herr Fähnel?“ Einer der beiden Ermittler setzt sich auf den Stuhl vor mir. Der andere beobachtet aus dem Hintergrund, keine Chance zur Flucht.
„Äh …“ bringe ich hervor und sehe meinen an der Tür stehenden Psychologen hilflos an.
„Er leidet unter retrograder Amnesie.“ Der im Hintergrund stehende Beamte sieht ihn fragend an. „Er kann sich an nichts vor dem Tag erinnern, an dem er gefunden wurde, auch nicht an seinen Namen.“ Die Ermittler tauschen Blicke und wenden sich wieder mir zu.
„Sie wissen nicht, wer sie sind?“ Vor Angst sitze ich starr und ungelenk auf meinem Bett, die Fernbedienung noch immer in meiner verkrampften Faust. Ich schüttle langsam den Kopf.
„Nun, wir wissen wer sie sind!“ Mir gefriert das Blut in den Adern. Unwillkürlich sehe ich auf den Bildschirm des Fernsehers, wo seit einigen Sekunden fröhliche Kinder über saftig grüne Wiesen springen, doch ich bemerke sie nicht. Ich sehe den grauhaarigen Alten. Ich sehe sein vor Schmerzen entstelltes Gesicht, wie es mich ansieht, wie es fleht … um Hilfe bettelt. Hilfe von seinem Mörder?  - „Ja?“ bringe ich hervor und sehe ihn für einen Moment direkt an.
„Sie kennen den Mann aus den Nachrichten?“ er schielt ebenfalls zu meinem Fernseher. Ich habe einen Nachrichtensender eingestellt. Er weiß genau, was ich eben gesehen habe. Mein Körper zittert, wie der eines kleinen Jungen vor dem übermächtigen Lehrer, dessen Mund jeden Moment  die unausweichliche Botschaft über das Versagen in einer wichtigen Arbeit verkünden wird. Ich fasse meinen Mut zusammen. Ist es nicht egal? Ob hier oder im Gefängnis? Ich habe kein Leben in Freiheit, das ich verlieren könnte. Ich habe keine Familie, die ich vermissen würde, die mich vermißt – oder doch?
Mutig sehe ich dem Ermittler ins Gesicht, auf das schlimmste gefaßt.
„Er ist ihr Vater.“
Mein Kopf brummt. Ich schwanke und möchte ohnmächtig werden; fliehen in die dunkle Stille, ohne Wahrheiten, die ich nicht akzeptieren kann. Doch nichts passiert. Ich sehe ihn an. Ist das Wirklichkeit, kein Albtraum? Ich warte auf das schwarze Loch, das meine Gedanken wegreißt und auffrißt. Doch es ändert sich nichts. Der Ermittler sieht mich mitleidig an.
„Sie wurden entführt. Ihr Vater hat es nicht geschafft, zu entkommen.“ Eine Träne rollt über meine Wange. Sie ist ein Stein, der von meiner Seele fällt, um von einem neuen ersetzt zu werden. Sie ist meine Trauer, meine Verzweiflung über die fehlende Erinnerung daran, ob ich alles getan habe, was möglich war, um ihn zu retten. Ich werde nie erfahren, ob ich ihn retten wollte oder kopflos geflohen bin. Schmerz zerbricht meine Starre und läßt Sturzbäche aus Tränen über meine Wangenknochen ergießen.
„Es tut mir leid.“ Sagt einer der Ermittler. Dann öffnen sie die Tür zum Gehen. Ein kleiner Junge springt durch den Türspalt und rennt auf mich zu.
„Papa!“ ruft er und umarmt mich so heftig, daß ich keine Zeit habe die Fernbedienung wegzulegen. Als sie klappernd auf den harten Boden fällt, halte ich meinen Sohn in den Armen. In der Tür steht eine brünette Frau. Ihr wundervolles Haar fällt wie Wellen über ihre Schultern und rahmt ihr zuckersüßes Gesicht ein. Ich kann mich nicht erinnern, doch ich fühle meine Liebe zu ihnen. Ja, das ist meine Familie. In diesem Moment begreife ich, daß Ich nicht allein bin auf dieser großen, unbekannten Welt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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