Rolf Kirsch
Bredenbergs Gedanken über Meinungen
Bredenberg, der gerne über alles Mögliche nachdenkt, hatte kürzlich seiner Bibliothek ein Buch entnommen, das er, Bredenberg, eine lange Zeit nicht mehr aufgeschlagen hatte. Bredenberg besaß Bücher, die er niemals von Anfang bis Ende las. Solche Bücher schlug Bredenberg einfach auf, las irgendeinen Absatz und verfiel ins Denken. So erging es Bredenberg erneut.
Er las:
Man wird als den Grundfehler des weiblichen Charakters Ungerechtigkeit finden. Er entsteht zunächst aus dem dargelegten Mangel an Vernünftigkeit und Überlegung, wird zudem aber noch dadurch unterstützt, daß sie, als die Schwächeren, von der Natur nicht auf die Kraft, sondern auf die List angewiesen sind; daher ihre instinktartige Verschlagenheit und ihr unvertilgbarer Hang zum Lügen.
Bredenberg schluckte. Durfte man ein solches Buch in seiner Bibliothek haben, dachte er. Hat man jemals eine solche Meinung zu irgendeiner Zeit äußern dürfen, gar in einem Buch, fragte er sich.
Bredenberg stellte auf der Rückseite des Buches fest, dass der Autor dieses Zitats von 1788 bis 1860 gelebt hatte und war erleichtert.
In jenen fernen Tagen durfte man voller Irrtum sein, dachte Bredenberg. Heute jedoch, nach vielen Jahren angehäufter Vernunft und Sachlichkeit, heute, so dachte Bredenberg, wird jedermann über eine solche Meinung nur lachen, sie belächeln, nicht teilen, sie nicht äußern, schon gar nicht drucken.
Bredenberg war froh. Er, Bredenberg, lebte in einer aufgeklärten Zeit, in einem Jahrhundert, welches frei von irrigen und falschen Meinungen war, jedenfalls weitgehend.
Aber, stutzte Bredenberg, zu der Zeit, als diese Zeilen entstanden, wurde eine solche Meinung möglicherweise nicht ausgelacht, belächelt, stattdessen geteilt, geäußert und – wie Bredenberg sah – gedruckt. Zu dieser Zeit war diese Meinung vielleicht kein Irrtum, kein Fehler, sondern wurde in gedankenträchtigen Zirkeln und Vereinen bis in die Nacht diskutiert.
Bredenberg dachte nun lange über den Unterschied nach, eine Meinung zu teilen oder eine Meinung zu verstehen.
Eine Meinung, die er teilte, konnte er gut verstehen. Eine Meinung, die er nicht teilte, sollte er zu verstehen suchen, auch wenn es Mühe machte.
Und nun freute sich Bredenberg auf alle Meinungen, die ihm in Zukunft Mühe machen würden.
Befriedigt ordnete er das Buch des Philosophen Arthur Schopenhauer wieder in die Bibliothek ein, wo es seinen Platz behalten durfte.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.07.2007.
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