Michael Mews

Morde sind immer ungesund

 
Claudia Giani
 
Sonntag, 14. Oktober gegen 23 Uhr in Madison, USA.
 
 
Alfredo Budoni steht in einem fremden Wohnzimmer, in dem die Stille einer Grabkammer herrscht. Zufrieden betrachtet er sein Werk und das kleine Loch in der Stirn der älteren Dame, aus dem helles Blut sickert und langsam auf die weiße Bluse tropft.  
Claudia Giani sitzt schräg, mit angewinkelten Beinen und offenen, starren  Augen in ihrem Sessel. Ihr Gesichtsausdruck ist immer noch angsterfüllt. Eiskalt lächelnd sieht Alfredo Budoni sie an, während er mit der linken Hand den Schalldämpfer seiner Mk XIX lautlos abschraubt. Die Desert Eagle Mk XIX ist eine israelische Militärpistole, angefertigt für das Kaliber 44 Magnum, die ihn noch nie im Stich gelassen hat.
Leise geht er durch die offen stehende Terrassentür in die schwarze Nacht hinaus, durch den Garten zur Straße und steigt in einen dunkelblauen Chrysler.
 
Er zieht die Lederhandschuhe aus, startet den Motor und fährt, zuerst ohne das Licht einzuschalten, in Richtung Chikago davon. Vorbei am Western Hills Park mit seinen zweigeschossigen, weißen Holzhäusern, die von kleinen Gärten umgeben sind. In Gedanken sieht er sich schon im Flugzeug nach Zürich sitzen.  
Erst heute Morgen hatte  er per E- Mail die Nachricht erhalten, dass auch in Zürich Arbeit auf ihn wartet. Die Nacht ist sternenlos. Es fängt an zu regnen. Die ersten Tropfen schlagen gegen die Windschutzscheibe, immer heftiger, und nun kommt auch noch ein Wolkenbruch. Eimerweise stürzt das Wasser herunter und schlägt trommelnd auf das Auto. Die Scheibenwischer bewegen sich hektisch, die Bäume biegen sich im Wind.
 
„Fahr nicht zu schnell, Alfredo. Auf keinem Fall auffallen!“, sagt er leise zu sich und konzentriert sich weiter auf die im Schlagregen kaum erkennbare Straße. Seine Gedanken schweifen ab, nach Porto Palo, einem kleinen Dorf auf Sizilien, nahe bei Marinella seinem Geburtsort.
„Ich freue mich schon auf mein Zuhause und meinen alten Freund Moreni.
Doch da wäre nur noch der deutsche Architekt in der Pipeline. Auf ihn scheint es Morini besonders abgesehen zu haben.“
 
                                                                       *
Moreni Bellano
 
 
Montag 15. Oktober in Palermo, Italien
 
Die Stimmung am Hafen ist noch ruhig. Erst vor wenigen Minuten schob sich die Sonne wie ein großer, glühender Ball über den Horizont, und taucht das Meer und die zahlreichen Fischerboote in ein warmes Licht. Einige Fischer entladen ihren nächtlichen Fang, während über ihnen die Möwen kreisen und spitze Schreie ausstoßen.  
Nahe am Hafen, bei der Piazza Acqasanta sitzen zwei ehrenwerte, ältere Herren, Demetrio Malgesso und Moreni Bellano, vor einem Bistro. Beide schon über fünfzig, sehen wie sizilianische Bauern aus und genießen ihren Capuccino. Niemand würde vermuten, dass sie einen großen italienischen Konzern leiten.
 
„Haben sich die Unstimmigkeiten in Chikago  geregelt?“, fragt Demetrio, scheinbar desinteressiert, während  er die Passanten beobachtet.
 „Alfredo hat diese Angelegenheit für uns erledigt“, antwortet sein Gegenüber. Pedro Giani wird sich in Zukunft hüten bei dem Heroingeschäft unseren Gewinnanteil zu unterschlagen.  Seine Mutter musste es leider ausbaden.“
„Und was ist mit dem deutschen Architekten, hast  du auch an ihn gedacht?“
„Er wird von Alfredo Besuch erhalten. Seine Absicht  Grundstücke an der Westküste bei Marinella zu kaufen, wo sich unsere Bauernhäuser und Laboratorien befinden, wird sich nicht verwirklichen lassen. Damit erledigt sich auch sein Plan eine Ferienanlage mit dem Namen „Paradieso“ dort zu errichten.“ 
„Das himmlische Paradies wird er bald kennen lernen“, antwortet Demetrio und zeigt sein Haifischlächeln.
 Eine Weile schauen beide hinaus aufs Meer und hängen ihren Gedanken nach.
„Wie ist eigentlich dieser Alfredo, können wir uns auf ihn verlassen? Erzähl mir ein wenig von ihm“, fordert Demetrio seinen Partner auf.   
„ Ich kenne ihn von Kindheit an, er ist aus meinem Dorf. Ehrgeizig, studierte in Moskau Medizin, hatte dann Kontakt mit der russischen Geheimpolizei, erhielt dort eine gute Ausbildung und meldete sich eines Tages bei mir. Es gab Probleme zwischen ihm und den Russen. Ich stellte fest, dass er ein hervorragend  durchtrainierter Einzelkämpfer ist, und so ließ ich ihn eine Reihe von Arbeiten erledigen, was er auch zu meiner vollsten Zufriedenheit tat. Er versteht sein Handwerk. Er sieht sehr gut aus, ist Anfang dreißig, spricht vier Fremdsprachen und benimmt sich wie ein Gentleman. Er ist ungefähr 1.80 m groß, schlank, muskulös und hat kurze, schwarze Haare. Er wirkt mit seinen behaarten Armen sehr männlich. Am liebsten trägt er sehr geschmackvolle und teure Anzüge. Für jeden Auftrag erhält er eine neue Identität mit Pass. 
Nur dieses Mal klappte es nicht, weil die Sache mit dem Deutschen so eilig ist.  Aber es wird schon nichts schief gehen. Er ist einer unserer besten Killer“
 
„Du garantierst  also dafür, dass die Sache klappen wird?“
 
„Aber ja“, erwidert Moreni knapp, mit dem Charme eines Aktenkoffers und gibt seinem Leibwächter am Nebentisch unauffällig das Zeichen zum Aufbruch. Der Bodyguard greift in die Tasche, nach dem kalten Metall und erhebt sich. Über dem Hafen kreisen noch immer die Möwen, spitze Schreie ausstoßend.
                                                                    *
 
 
Gustus Arik
 
 
Montag, 15. Oktober, Berlin, Deutschland
 
 
In Dahlem, einer vornehmen berliner Villengegend, packen Gustus und Heidi Arik in ihrer Jugendstilvilla die Koffer.  
 
Gustus Arik ist ein sehr erfolgreicher Architekt. Viele seiner Großaufträge erhält er von der öffentlichen Hand. Er hat gute Beziehungen zum Senat.  Freundschaften, die er seit seiner Studienzeit pflegt, zahlen sich inzwischen aus, nach dem Motto: eine Hand wäscht die andere.
Obwohl er mittlerweile Ende fünfzig und längst reich geworden ist, kann Gustus nicht genug bekommen.  Deshalb möchte er noch, bevor der sich von den Geschäften zurückzieht, das Projekt seiner Ferienanlage „Paradieso“ verwirklichen.
 
Gustus ist sehr schlank, etwas über 1,65 m groß und hat blaugrüne Augen. Beim Sprechen hält er oft den Kopf leicht vorgestreckt geneigt. Er sieht dann seinen Gesprächspartner von unten heraufblickend an, was an einen angreifenden Stier erinnert. Seine Worte sind wie subtile Faustschläge, wenn er sich bei Besprechungen durchsetzt. Die Gegner empfinden ihm gegenüber kein homogenes Sympathiegefühl. Gerne trägt er Anzüge und dazu passende schwarze Lackschuhe. Seine Frau ist erst 38 Jahre alt. Sie ist von froher Natur. Als er sie kennen lernte, arbeitete sie in der Universitätsbibliothek.
 
„Heidi, bitte beeile dich etwas, in zehn Minuten kommt das Taxi.“  
„Moment Liebling, noch der Reißverschluss… sooo, jetzt bin ich bereit.“  
„Gut Heidi, dann geh schon vor, ich komme gleich nach.“  
„Vergiss nicht die Alarmanlage scharf zu stellen.“  
„Keine Angst, das werde ich nicht vergessen.“
 
Im Taxi legt Gustus seinen Arm um Heidis Schulter und sieht sie lächelnd an. Heidi schaut mit ihren braunen, leidenschaftlichen  Augen verträumt zu ihm auf.  
„Ich freue mich schon so sehr auf Fuerte und das El Azor. Wir waren bestimmt seit acht Monaten nicht mehr dort.“  
„Aber ja,  Schatz. Zuerst müssen wir zu der Bank in Zürich. Dort habe ich wegen unserem Nummernkonto noch einige Dinge zu erledigen. Dann steht mir auch noch die Geschäftsbesprechung mit den Investoren im El Azor, wegen der Ferienanlage auf Sizilien bevor. Hoffentlich verlaufen die Verhandlungen  erfolgreich. Danach stehe ich dir voll zur Verfügung“, sagt Gustus mit seiner warmen Stimme schmunzelnd und zuversichtlich: „Wir werden Fuerte genießen“.
Gustus drückt Heidi an sich, während seine Hand sich zärtlich auf ihre Brust legt. Er wirft ihr ein schwaches lächeln zu. Ihre Lippen beben. Nach der Landung in Zürich fahren beide zur Bank und anschließend ins Hotel. Sie gehen früh schlafen, um erholt am nächsten Tag nach Fuerteventura zu fliegen, mit einer Boeing 707.
                                                              *
 
 
 
Jens Lupa
 
 
Dienstag, 16. Oktober, Zürich, Schweiz
 
Den Ausweis stecke ich in meinen Rucksack. In ihm steht mein Name: Jens Lupa. Geboren am 16. Juni in Zürich. Alter: Anfang dreißig. Staatsangehörigkeit: Schweizer. Größe: hundertachtzig Zentimeter. Augenfarbe: blau. Das ist alles richtig. Auch die Augenfarbe stimmt. Sie sind so blau und geheimnisvoll wie das wilde, fast unendlich tiefe blaue Meer. Was nicht darin steht ist, dass ich 76 kg wiege. Mein Haar ist lockig und so dunkel, dass es in der Dämmerung nahezu schwarz wirkt. Es ist nicht zu kurz und auch nicht zu lang. Es flattert im Wind. Einen Scheitel gibt es nicht. Unter dem schmalen Oberlippenbart habe ich eine Narbe, die durch die Barthaare fast vollständig verdeckt wird. Bevor ich an dieser Stelle den Kontakt mit einer Faust hatte, gab es diese Narbe noch nicht. Diese Faust gehörte einem Schulkameraden. Ich fahre viel mit dem Fahrrad. Daher sind meine Beine muskulös und ich liebe die Farbe blau. Dunkelblau. Das wirkt sich auch auf die Farben meiner Kleidung aus. Aufgewachsen bin ich artgerecht, wie ein glückliches Huhn.
 
Gerade habe ich meinen Namen auf das kleine Schild am Koffer geschrieben, da klingelt es an der Wohnungstür. „Eine Sekunde“, rufe ich, stecke das Namensschild in den dafür vorgesehenen Schlitz und öffne die leicht knarrende Tür.  
„Hallo Dario. Das ist richtig fein von dir, dass du mich zum Flugplatz bringst.“ 
„Beeil dich, ich stehe im Parkverbot“, sagt Dario hastig, packt meinen Koffer und trägt ihn zum Auto.  
Als er den Motor startet, sagt er: „Du hast es wirklich gut, vier Wochen Urlaub auf Fuerteventura. Das könnte ich jetzt auch gut gebrauchen.“  
„Ich freue mich auch schon schrecklich darauf, Dario.“  
„Schade, dass Vanessa das nicht mehr miterleben kann. Sie ist viel zu früh verstorben“. 
Als ich darauf nicht antworte, sagt er: „Verzeihung, ich wollte dich nicht daran erinnern. Du bist erst Anfang dreißig und siehst gut aus. Vielleicht ergibt sich eine Urlaubsbekanntschaft mit einer netten Dame.
Wie hast du übrigens das Problem mit deinem Zeitungskiosk gelöst?“
„Lukas wird mich vertreten, er ist sehr zuverlässig. Letztes Jahr hat er das auch gemacht.“
 
Nach einer fünfzehnminütigen Fahrt Richtung Kloten haben wir unser Ziel erreicht.
 
Im Flughafengebäude schlängle ich mich durch die Massen. Zielsicher zu der wartenden Schlange vor dem Abfertigungsschalter. Eine anonyme, monotone  Lautsprecherstimme verkündet: „Achtung, Sicherheitshinweis. Lassen sie ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt. Über alleinstehende Gepäckstücke informieren sie bitte das Sicherheitspersonal.“ Mein Koffer ist nicht alleinstehend. Im Gegenteil. Er befindet sich in guter Gesellschaft mit den anderen Koffern in der Warteschlange.
 
Die Boing 707 ist bis auf den letzten Platz ausgebucht. Gustus und Heidi sitzen in der Reihe 3, Jens in der Reihe 16 und Alfredo in der Reihe 18.
  
„Zu dumm, dass ich wegen der Gepäckkontrolle meine Mk XIX nicht mitnehmen konnte“, denkt Alfredo. „Im Hotel muss ich gleich Moreni anrufen, damit er mir eine organisiert. Zum Glück habe ich ja auch noch meinen Ring mit dem verborgenen Stahldraht dabei. Gut auch, dass ich den Hotelaufkleber am Koffer des Deutschen lesen konnte. Das erspart mir eine Menge Recherchen.“ In Gedanken lässt Alfredo die acht Männer und zwei Frauen Revue passieren, die er bisher mit dem Stahldraht erdrosselt hat. Seine Augen flackern dabei leicht. Har.
 
Dann denkt er wieder an den Deutschen. „Sein  Name ist  Gustus. Der Name passt zu ihm. Schade, dass seine Frau dabei ist. Vermutlich werde ich nun beide ins Paradies befördern müssen.“
 
 
 
Der Flug
 
 
Dienstag, 16. Oktober, Fuerteventura, Spanien
 
Der Flug verläuft seit dem Start vollkommen ruhig. Kurz nach der Meeresenge bei Gibraltar und dem danach kommenden Atlasgebirge wird eine große Rechtskurve eingeleitet, zum offenen Meer, in Richtung Fuerteventura. Langsam entschwindet unter mir die Küste und das Meer öffnete sich in seiner schier endlosen Weite. Im Bordprogramm läuft der Film: „Die Suche nach dem verborgenem Meerbusen“. Ein Stück, das mich nicht besonders interessiert. Daher sehe ich aus dem Fenster. Es ist ideales Flugwetter. Der Himmel zeigt sein schönstes Blau mit einigen mächtigen Cumulus Wolken am Horizont. Ein Zeichen für starke, vertikale Winde mit Gewitter, Blitz und Hagel, die kleinere Flugzeuge besser meiden sollten. „Was für ein Glück, das wir weit über diesen Wolken fliegen“. Immer wieder bin ich fasziniert von den nie gleichen Wolkengebilden. Nie werde ich mich je daran satt sehen können. Das Motorengeräusch erinnert mich an das Schnurren eines Kätzchens. Jetzt war die Freiheit wirklich grenzenlos und da war es wieder, das Gefühl ein Vogel zu sein. Ich meinte die Neunte von Beethoven zu hören... Freude, Freu-eude, Freude schöner Götterfunken...   
 
 
Als Gustus Arik auf den Gang an mir vorbei geht, um sich etwas die Beine zu vertreten, sehe ich staunend die auffallend schöne Armbanduhr an seinem Handgelenk.
Eine hellbraunes, breites Lederarmband mit einer großen, goldenen Uhr. Am äußeren Ring befinden sich lauter, winzige Diamanten, die in allen Farben glitzern. Auch das hellblaue Ziffernblatt ist vornehm gestaltet.
 
„So eine Uhr hätte ich auch gerne. Wenn ich zwanzig Jahre lang spare, könnte ich mir auch so eine Uhr kaufen. Aber lieber investiere ich mein Geld in Urlaubsreisen, denn dafür brauche ich nicht zwanzig Jahre lang zu warten. Schade, dass der Reichtum so ungerecht verteilt ist“, denke ich neidisch und sehe wieder aus dem Fenster.
 
Gustus geht nun an der Reihe 18 vorbei. Alfredo betrachtet gierig seine Uhr, grinst boshaft und denkt: „Pass schön auf diese Uhr auf, mein lieber Freund, denn bald wird sie mir gehören. Ich freue mich schon darauf.“
 
Nach einer etwas holprigen Landung rollt die Maschine aus, bleibt stehen und die Passagiere verlassen über die Gangway das Flugzeug. Die Rollbahn befindet sich direkt an der Küste. In der Nähe von der Hauptstadt Puerto del Rosario. Das Meer ist zum Greifen nahe und der wilde, atlantische Wind begrüßt die Passagiere.
 
Mit dem Rucksack in der Hand gehe ich unter dem strahlend blauen Himmel zum Flughafengebäude. Am Transportband für die Koffer bilden sich Menschentrauben. Ich drängele mich vor, sehe zum Glück auch schon meinen Koffer, zerre ihn durch die Menschenmenge hindurch und gehe zum Transferbus. Unterwegs drückt mir jemand einen gelben Zettel in die Hand, vermutlich ein Reklamezettel, den ich ungelesen in meine Jackentasche stecke. Der Fahrer nimmt mir den schweren Koffer ab, um ihn in die Gepäckablage zu  legen. Auch der Herr mit der Glitzeruhr steigt in den Bus ein.
 
Die Fahrt zum Hotel hat viele Zwischenstopps, damit die Passagiere an ihren jeweiligen Ferienanlagen aussteigen können. Während der Fahrt bewundere ich die Landschaft, die ich schon so oft gesehen habe. Die vielen Dünen und die Mondlandschaft der Berge mit ihren unterschiedlichen, faszinierenden Brauntönen. Ein wundervoller Anblick.
 
Nun biegt der Bus von der Hauptstraße nach links auf eine kleine Piste, fährt um einen Berg und von weitem kann ich, voller Vorfreude auf die kommenden Urlaubstage, das Hotel El Azor mit dem blauen Meer im Hintergrund sehen. Es ist achtgeschossig, da es aber am Hang errichtet wurde, kann man von der Straße aus nur vier Geschosse sehen. Mit seinen architektonischen Formen passt es gut in die karge Landschaft. Es hat die Form von einem V. Die Spitze von diesem V zeigt in Richtung Strasse und die beiden Arme zum Meer.
 
„Nach den Formalitäten an der Rezeption werde ich mich von der Reise auf meinem Balkon ausruhen und den Meerblick genießen“, denke  ich und gehe, etwas müde von der Anreise, zum Fahrstuhl. Auch Gustus und seine Frau stehen wartend vor der Aufzugstür.
In der obersten Etage angekommen, gehe ich zum Apartment 801 und das Ehepaar Arik zu Nr. 802.
 
                                                                       *
 
In einem nahe gelegenen Hotel sagt Alfredo zu sich:„Schon Morgen werde ich mich unter die Gäste vom El Azor mischen, um zu sehen, wie ich meinen Freund am besten ins Paradies schicken kann“, und sieht gierig in Gedanken die Uhr von Gustus. Dann denkt  er an Moreni und an das Problem mit seiner Mk XIX. „Das Telefongespräch habe ich ja fast vergessen.“ Er nimmt hastig das Telefon, setzt sich auf den Balkon mit dem traumhaften Meerblick, wählt Morenis Nummer und gerade als er wieder den Telefonhörer auflegen wollte meldete sich eine Stimme: „Bellano, ja Bitte…“
 
„Buon giorno Moreni, ich bin es, Alfredo.“
„Hallo Alfredo, wie geht es dir?“
„Danke, ausgezeichnet! Aber ich habe eine Bitte an Dich.“
„Ja?“
„Ich möchte etwas reparieren, habe aber mein Werkzeug nicht hier.“
„Ich denke, dass dürfte kein Problem sein, ich helfe dir gerne. Schicke mir deine Adresse per E- Mail.“                                                  
„Das werde ich gleich machen.“
„Arrivederci Alfredo.“
„Arrivederci allora e a presto, Moreni und grüße auch meine Freunde von mir.“ 
 
 
Ausflugsplanung
 
 
Mittwoch, 17. Oktober.
 
Am nächsten Tag, gleich nach einem köstlichen Frühstück geh ich in den gepflegten Garten, lege mein Handtuch auf eine Liege, die unter einer schattenspendenden Palme steht und erfrische mich in dem blauen, kühlen Wasser vom Pool. Er ist groß, organisch geformt und eingerahmt von hohen Palmen, blühendem Oleander und Lorbeerbäumen, die sich im Wasser spiegeln. Das Gras ist smaragdgrün. Ein mediterraner Lustgarten für die Augen und eine Oase der Erholung. Im Pool sind wenige Gäste. Sicherlich liegt das daran, das jetzt keine Schulferien sind. Beim schwimmen beobachte ich neugierig die anderen Menschen. Mein Blick bleibt auf dem Gesicht von einem jungen Mann haften, der gerade aus dem Pool kommt und sich nun abtrocknet. Er sieht blendend aus mit seinem athletischen Körper, den schwarzen Haaren und seiner leicht gebräunten Haut.
 
Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Ich habe das Gefühl, dass ich es irgendwo schon gesehen habe. Aber Wo? Vielleicht im Flugzeug? Mir fällt es einfach nicht ein. Nach einiger Zeit bemerke ich meine Gänsehaut. Ich friere, gehe aus dem Wasser          und lege mich auf meine, von der Sonne angewärmte Liege. Die zwei Liegen neben mir sind inzwischen von einem Ehepaar besetz. Auch diese Gesichter kommen mir bekannt vor. Mein Blick fällt auf das Handgelenk des Herrn. Er trägt eine Armbanduhr, mit vielen, sehr kleinen, glitzernden Diamanten am Außenring. Sofort kann ich mich an die beiden erinnern. Sie waren nicht nur im gleichen Flugzeug und Bus wie ich, sondern sie sind auch meine Zimmernachbarn. Ich überlege, wie ich mit ihnen in ein Gespräch kommen kann.
 
„Entschuldigen sie, könnten sie mir bitte sagen, wie spät es ist?“, frage ich beiläufig den Herrn. „Im Urlaub sollte die Zeit eigentlich grenzenlos sein, trotzdem hätte ich gerne gewusst, wie spät es ist.“
Er sieht auf seine Glitzeruhr, blickt mich dann freundlich an und sagt lächelnd: „Es ist 11:32 Uhr. Sind sie nicht unser Zimmernachbar?
„Ich glaube, sie haben Recht. Ich habe sie nicht gleich erkannt. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Jens Lupa. Meine Freunde nennen mich Jens. „Mein Name ist Gustus Arik und das ist meine Frau. Auch zu mir können sie gerne Gustus sagen.“
„Und zu mir Heidi“, sagte Heidi lachend und mit strahlenden Augen.
 
Wir haben uns fast zwei Stunden lang fröhlich unterhalten, sind auch auf der „Du- Ebene“ gelandet, als Heidi uns beide ansieht, die Stirn etwas runzelt und leise sagt: „ Bitte seht jetzt nicht da drüben hin. Da sitzt ein Mann auf seiner Liege, hält eine Zeitung in der Hand, liest aber nicht. Er starrt uns ständig an und wenn ich meinen Kopf in seine Richtung drehe, dann tut er so, als ob er lesen würde.
 
Unauffällig sehe ich zu dem Mann, der im Schatten einer Palme sitzt. „Mir kommt er irgendwie bekannt vor, aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich ihn gesehen habe.“
 
„Gustus und Jens“, sagte Heidi „gleich hinter dem Hügel vor uns ist der Strand. Lass uns zum Strand gehen und im Meer baden.“
„Das ist die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt“, sage ich freudig. Wir stehen gemeinsam auf und schlendern im Schatten der Palmen zum Strand.
 
                                                                       *
 
Vor der Rezeption in der großzügigen Eingangshalle, mit dem Blick auf das offene Meer, stehen keine Gäste. Eine leise, angenehme Hintergrundmusik schwebt durch die Halle. Die Fahrstuhltür öffnet sich und ein junger, Herr in sportlicher Freizeitkleidung, mit schwarzen Haaren und einer Reisetasche in der Hand geht lässig zur Rezeption.
 
„Si Senor?“
„Mein Freund, Gustus Arik, hat seine Tasche am Pool liegengelassen und ich möchte sie gerne ihm auf sein Zimmer bringen“, dabei hält er seine Tasche hoch und lächelt den Hotelangestellten an. „Könnten sie bitte so freundlich sein und mir seine Zimmernummer sagen?“
„Momento.“ Der Hotelangestellte tippt den Namen in seinen Computer und sagt: „Zimmer 802. Kann ich sonst noch behilflich sein?“
„Danke“, sagt der Herr mit der Tasche und schlendert zum Aufzug.
 
In der achten Etage öffnet sich die Aufzugstür, der Herr steigt aus dem Aufzug, geht den Gang entlang an vielen Türen vorbei, bleibt vor der Tür mit der Nummer 802 stehen, sieht sich prüfend um, während seine Hand in die Jackentasche gleitet und einen Schlüsselbund raus holt. Es dauerte wenige Sekunden und die Tür öffnet sich leise.
 
Alfredo verlässt das Apartment und hat alle vorbereiteten Vertragsunterlagen von Gustus für die Ferienanlage Paradieso durchgelesen. Nahe der Hotelvorfahrt steigt er in sein Auto und startet den Motor.
 
 Nun sitzt er im Hotelzimmer und denkt über sein weiteres Vorgehen nach, als es leise an der Tür summt. Er blickt irritiert auf das frisch gemachte Bett und runzelt die Stirn: „Die Putzfrau war doch schon da.“ Vorsichtig öffnet er die Tür einen Spalt. Eine Junge Frau steht vor ihm, ein Päckchen in der Hand haltend. „Entschuldigen sie die Störung, aber sind sie Herr Budoni?“
„Warum?“
„Ich habe hier ein Geschenk vom Herrn Bellano.“
Prüfend sieht Alfredo sie an, als er das Päckchen entgegen nimmt.
 
„Ich danke ihnen und sage sie viele Grüße an Bellano von mir.“ Er schließt die Tür und packt zwei Mk XIX, beide mit Schalldämpfer, die reichhaltige Munition und einen Umschlag aus, geht auf den Balkon und denkt: „Jetzt habe ich alles, was ich brauche. In wenigen Tagen werde ich meinen Job erledigt haben. Bestimmt wird alles so einfach wie bei Claudia sein.“
 
Er öffnet den Umschlag und hält zwei neue Pässe in der Hand. „Gut, dass Moreni auch an die Pässe gedacht hat. Jetzt fühle ich mich schon etwas wohler.“ Er betrachtet zufrieden beide Pässe. Einer ist ausgestellt auf einen Dietrich Schuster, aus Frankfurt. Der andere auf den Namen Wolfgang Andersson aus München. Er nimmt sein Taschenmesser und den alten Pass, zerschneidet ihn in viele kleine Teile, die er in den Aschenbecher legt und anzündet.
 
Alfredo setzt sich auf den Balkon und stellt ein Glas mit spanischem Rotwein vor sich auf den Tisch. Die Sonne ist schon nahe am Horizont und die wenigen, kleinen Wolken erstrahlen in einem märchenhaften rosa, über dem nun dunkelblauen Meer. Der Himmel leuchtet hellblau, wie mit Pastellkreide gemalt. Ein bezaubernder Anblick. In immer neue Formen verwandeln sich die Wolken und manche lösen sich auch auf, so, als wären sie plötzlich unsichtbar.
 
Gedankenverloren genießt Alfredo dieses Schauspiel und denkt dann wieder an Moreni.
„Die Logistik von Moreni funktioniert wirklich gut. Erst Gestern rief ich ihn an und schon heute habe ich die Mk XIX von ihm erhalten. Gustus und Heidi haben sich also mit einem Gast angefreundet. Ob ich ihn auch in das Paradies schicken muss?
 
Welche Möglichkeiten habe ich denn hier, mein Werk zu vollenden? Ich muss sie beobachten und auf eine günstige Gelegenheit warten“, denkt er, als er sein Glas austrinkt und sich erhebt.
 
                                                                       *
 
Am Strand vor dem El Azor kommen gerade Gustus, Heidi und Jens aus dem Meer und trocknen sich ab.
 
„Wollen wir uns Morgen, gleich nach dem Frühstück zusammensetzen und gemeinsam einen Ausflug planen?“, schlägt Heidi freudig vor, als sie ihre Haare mit dem Handtuch abtrocknet.
 
„Das ist ein sehr guter Vorschlag“, sage ich. „Ich bin schon neugierig, für welchen Ausflug wir uns entscheiden werden. Hier gibt es ja so viele Möglichkeiten.“
 
„An welche denkst du denn gerade, Jens?“
„Unser Hotel liegt ja an der Ostküste und an der schmalsten Stelle von dieser Insel. Bis zur Westküste sind es gerade mal sechs Kilometer. Ein Ausflug zur Westküste, durch die Dünenlandschaften würde uns bestimmt gefallen.“
„Kann man dort auch baden?“
„Nein, die Strömungen sind dort so stark, dass das Baden lebensgefährlich ist. Jedes Jahr sind an der Westküste einige Todesfälle zu beklagen. Aber die Landschaft mit den Steilküsten und hohen Brandungen ist sehr reizvoll. Letztes Jahr habe ich dort sogar 30 cm große Krebse gesehen.“
„Hast du noch einen Vorschlag?“
„Aber ja, eine Segeltour um die Insel, oder mit dem Flugzeug nach Teneriffa. Dort können wir dann auf den höchsten Berg von Spanien fahren und die Wolken von oben bestaunen. Von dort oben hat man eine herrliche Aussicht. Man sieht sogar die Nachbarinsel Gomera. Kolumbus soll dort Proviant an Bord genommen haben, bevor er über den Atlantik segelte und Amerika entdeckte.“
 
„Das hört sich gut an“, sagt Gustus, „darüber werden wir Morgen eine Entscheidung treffen. Lasst uns auf die Zimmer gehen. Ich möchte mich dort abduschen. Nach dem Schwimmen im Meer fühle ich mich hungrig, daher will ich auch bald zum Essen gehen. Ich schlage vor, das die Dreierbande“, und das sagt er lächelnd, „sich Morgen nach dem Frühstück am Pool trifft.“
 
Alle Drei gehen, inzwischen hungrig, über die hohe Düne zum Hotel und bereiten sich auf das Abendessen vor.
 
Strandwanderung
 
 
Donnerstag, 18. Oktober
 
Gleich nach dem Frühstück treffen sich die Drei am Pool. „Nun, wo möchte denn das Pärchen gerne hin? Habt ihr euch schon entschieden?“, frage ich neugierig und breite mein Handtuch auf der Liege aus.
„Jens, ich treffe hier in wenigen Tagen Geschäftsfreunde, mit denen einiges zu bereden ist“, Gustus unterbricht seinen Satz, um nachzudenken, „Wir könnten einen Ausflug vor diesem Treffen und einen danach machen. Gestern Abend, an der Bar sprachen wir auch über deine Vorschläge und würden gerne zuerst die Segeltour, vor meiner Besprechung machen und anschließend nach Teneriffa fahren. Und danach möchten wir mit dir zur Westküste wandern. Bist du mit dieser Reihenfolge einverstanden?“
Zufrieden mit seinem Vorschlag antworte ich: „Aber gerne. Ich werde alles organisieren und informiere euch dann über die Abfahrtzeiten. Einverstanden?“
 
Während des Gespräches habe ich das Gefühl, als ob mich Heidi mit ihren bezaubernden braunen Augen ständig anschaut und schnell den
Blick weglenkt, wenn ich sie ansehe. Ich merke, dass mein Puls schneller wird. Plötzlich sagt sie flüsternd: „ Gusti, ich glaube, ich leide an einem Verfolgungswahn. Da drüben, auf der anderen Poolseite liegt wieder der Mann von gestern und sieht ständig in unsere Richtung.“
 
„Ich gebe dir recht, du leidest an einem Verfolgungswahn“, grinsend steht Gustus auf und springt in den Pool. Sofort springt Heidi hinterher und Gustus sagt, laut lachend, als sie wieder auftaucht: „Auch ich leide an diesem Wahn, wenn du mich ständig verfolgst.“
 
„Wenn er doch nur alleine wäre“, denkt Alfredo wütend und erhebt sich von seiner Liege, um spazieren zu gehen. „Ein Kopfschuss und das Problem wäre beseitigt.“
 
„Ich gehe im Meer baden“, rufe ich beiden zu, nehme mein buntes Handtuch, werfe es über die Schulter und trabe los, die große Düne runter und befinde mich schon auf dem Strand. Es ist Ebbe und da das Meer sich zurückgezogen hat, gehe ich 500 Meter über den nassen Sand, bis zu der kleinen Brandung.
 
Der Wind bläst mir ins Gesicht und meine Gedanken wandern zu Heidi. Unterwegs zur Brandung sehe ich das freundliche Gesicht und die braunen, leuchtenden Augen von ihr vor mir. Ich merke, dass ich sie sehr sympathisch finde.
 
Diesen Tag verbringe ich alleine, am Strand mit Lesen und Abkühlungen im Meer. Das Meer ist ruhig und die kleinen Wellen werfen sich platschend gegen den nassen Sand. Oft habe ich ein Skizzenbuch bei mir, so wie heute, in das ich Kurzgeschichten eintrage. Das Schreiben von Geschichten bereitet mir immer wieder große Freude. Da der Wind an Stärke zunimmt und es mir zu kühl ist, packe ich meine Sachen ein und gehe zurück zum Hotel.
 
Auf dem Rückweg zum Hotel kommen mir Gustus und Heidi entgegen. Heidi ruft:
 
„Hallo Jens, wir haben eine Strandwanderung vor uns, bis später im Hotel. Tschüß.“
 
Es ist sehr windig geworden, beide tragen eine sportliche Freizeitkleidung. Eine dunkelblaue Hose, Rollkragenpulli, Turnschuhe und Gustus hat noch eine weiße Mütze auf, die in der Sonne leuchtet. Gerade habe ich die Düne vor dem Hotel erklettert, da kommt mir auch noch der Mann entgegen, von dem Heidi sich beobachtet fühlt.
Ich setzte mich an die Hotelbar mit der wunderschönen Aussicht auf das Meer und bestelle mir einen Brandy. „Vielleicht hat Heidi doch Recht, wenn sie denkt, dass dieser fremde Mann sie beobachtet? Oder ist das ein Zufall, dass auch er zum Meer geht?“
 
Alfredo, auch sportlich angezogen, geht mit großem Abstand den beiden hinterher. Vereinzelt sind auch andere Hotelgäste zu sehen. Seine Hände stecken in den Hosentaschen, mit der linken Hand fühlt er den Schalldämpfer, mit der rechten die Mk XIX.
 
„Zu dumm, es sind zu viele Leute unterwegs. Es sieht nicht so aus, als wenn ich jetzt schon die beiden ins  Paradies schicken kann. Wenn es dunkel wäre, wäre alles viel einfacher. Vielleicht machen die beiden heute Abend eine romantische Strandwanderung, um die Sterne zu beobachten? Das wäre dann meine Gelegenheit. Ich werde ihnen zeigen, wie die Sterne funkeln.“ Alfredo dreht sich um und geht zu seinem Auto.
 
Am Abend parkt Alfredo das Auto in der Nähe vom El Azor, unter einem Baum. Er steigt aus und seine Haare flattern im heftigen Wind. Hier, an der engsten Stelle von Fuerteventura ist es oft besonders windig. Er bleibt vor der hell erleuchteten Eingangshalle stehen, da er aber an der Rezeption nicht gesehen werden möchte, geht er um das Gebäude, zum Pool und hat fast schon den anderen Eingang erreicht, als er jemanden sieht, der in Richtung Strand geht. Wegen der Dunkelheit kann diese Person nur schemenhaft erkennen. Sie hat eine dunkle, sportliche Freizeitkleidung an und auf dem Kopf eine weiße Mütze.
 
„So etwas nenne ich Glück. Gustus alleine, auf dem Weg zum Strand. Nun mein Lieber, das wird deine letzte Strandwanderung gewesen sein. Genieße jede Sekunde, denn bald geht dein Licht aus. Es dauert nicht mehr lange, bis die Ebbe einsetzt. Sie nimmt nicht nur das Wasser mit sich, sondern auch alles, was im Wasser schwimmt. Auch dich, mein lieber Gustus. Auch dich. Ob die Haifische sich schon auf dich freuen?“
 
Die Person geht die Düne runter und taucht weiter in die Dunkelheit ein. Nur die weiße Mütze ist im spärlichen Mondlicht zu sehen. Mit Abstand folgt Alfredo der weißen Mütze. Die Geräusche vom Wind und den Wellen übertönen seine Schritte. Nach zehn Minuten geht Alfredo schneller und befestigt den Schalldämpfer an der Mk XIX. Jetzt trennen ihn nur noch wenige Zentimeter von der Mütze. Er hält mit der rechten Hand die Mk XIX in Mützenhöhe, spürt das kalte Metall und drückt ab. Der Rückstoß ist nicht stark. Platschend, wie die Brandung, kippt der Schatten vor ihm mit der weißen Mütze in das schwarze Meer.
 
„Sicher ist sicher“, sagt Alfredo, eiskalt lächelnd. Er zielt auf die Mütze und drückt noch drei Mal ab. Das Plopp Plopp Plopp geht im Wind unter. Die zerfetzte Mütze löst sich vom Kopf und wird langsam von den schwarzen Wellen verschluckt.
 
„Vergiss nicht die Haifische von mir zu grüßen“, ruft Alfredo gegen den Wind, laut lachend. „In diesem Leben muss man sehen, wo man bleibt, oder?“
 
Zu gerne hätte Alfredo noch die starren Augen von Gustus gesehen, aber die Dunkelheit verwehrte ihm diesen Genuss. Har.
 
Mit schnellen Schritten und zufrieden geht er durch die schwarze Nacht und dem heftigen Wind zurück, um das Hotel, bis zu seinem Auto. Plötzlich bleibt er wie angewurzelt stehen. „Verdammt, warum habe ich nicht gleich daran gedacht. Die Uhr. Ich wollte doch ihm noch seine Uhr abnehmen. Soll ich umkehren, um sie zu holen? Nein, die Ebbe hat ihn bestimmt schon ein ganzes
Stück in das offene Meer gezogen.“
 
Er startet den Motor und fährt, zuerst ohne das Licht einzuschalten in Richtung seines Hotels davon. In Gedanken sieht er sich schon im Flugzeug nach Sizilien sitzen.
 
„Das war ja noch einfacher als bei Claudia.“ Grinsend und voller Zufriedenheit fühlt er sich jetzt erheblich wohler, da er sein Ziel erreicht hat. Der Zweck heiligt die Mittel.
 
„Den Rückflug werde ich nicht im Hotel buchen. Ich fahre Morgen direkt zum Flugplatz und buche dort. Das ist unauffälliger.“
 
 
Wiedersehen macht nicht immer Freude
 
 
Freitag, 19. Oktober
 
Schwebend gleitet Alfredo durch die sich auftürmenden Wolkenlandschaften, die vom Mond beleuchtet werden, um dann immer tiefer zu sinken. Jetzt sieht er das weite, offene Meer unter ihm. Über ihm die dunklen Wolken, die nicht den ganzen Himmel bedecken, so dass das Mondlicht  sich glitzernd im Meer spiegelt. Gerade beobachtete er noch die Milchstraße und nun die fast schwarzen Wellen, mit ihren Schaumkronen. Je tiefer er sinkt, umso deutlicher erkennt er die Höhe der Wellen, sie sind sehr hoch und mächtig wild.
 
Dann wacht er auf, streckt sich  und geht in das Badezimmer. Unter der erfrischenden Dusche versucht er, seinen Traum zu deuten. Aber das gelingt ihm nicht.
 
Gleich nach dem Duschen packt Alfredo seinen Koffer, frühstückt, bezahlt an der Rezeption seine Rechnung, steigt in das Auto ein und fährt in Flughafenrichtung. Nach zehn Minuten sieht er auf der rechten Seite nicht nur das Meer mit den Dünenlandschaften im Vordergrund, sondern auch das Hotel El Azor.
 
„Eine Abschiedserfrischung im Pool wäre doch jetzt genau das Richtige für mich. Und dann ab nach Sizilien.“ Er biegt rechts in die schmale Straße ein, parkt hundert Meter vor dem Hotel, zieht sich im Auto die Badehose an und geht zum Pool. Nur wenige Gäste sind am Pool. Mit einem Kopfsprung taucht er in das kühlende Wasser.
Als er auftaucht, um Luft zu holen, schüttelt er sich wie ein Hund, viele kleine Wassertropfen fliegen von seinen Haaren durch die Luft und verteilen sich im glitzernden Wasser.
 
Er reibt sich die Tropfen aus den Augen, öffnet sie und erstarrt vor Schreck. Der Schock fährt mehrmals, wie ein Blitz durch seinen Körper. „Das darf doch nicht wahr sein“, denkt er und starrt wie hypnotisiert auf die Liegen vor ihm.
 
Auf diesen Liegen sitze ich, Heidi und Gustus.
 
Heidi stoppt mitten im Gespräch und flüstert: „ Da ist wieder der Kerl. Und er starrt uns gerade an.“ Gustus und ich drehen unsere Köpfe zu Alfredo, der nun aus dem Pool klettert und in Strandrichtung geht.
 
„Heidi, ich glaube du hast Recht. Auch ich habe langsam das Gefühl, dass dieser Kerl uns beobachtet.“
 
Es ist wieder Ebbe und Alfredo geht den Weg, den er gestern Nacht ging. Er hält Ausschau nach einer Leiche. Es war aber weit und breit keine zu sehen. „Also hatten die Haifische etwas zum knappern“, stellte er zufrieden fest.
 
„Dieser verdammte Gustus. Ich war mich gestern so sicher, ihn erkannt zu haben, aber ich habe mich in der Dunkelheit geirrt und den falschen erschossen. Verdammt! Das ist mir noch nie passiert. Was soll ich jetzt bloß machen, zurück zu meinem Hotel? Nein, das ist zu auffällig. Ich werde mir ein neues Apartment nehmen müssen und den Wolf im Schafspelz spielen.“
 
Alfredo geht zurück zum Pool, springt wieder in das Wasser, taucht auf und spürt, dass jemand von hinten auf seine Schulter tippt. Schnell dreht er sich um und sieht in die schönen braunen Augen von Heidi.
 
„Entschuldigen sie, dass ich sie beim Schwimmen störe. Darf ich ihnen eine Frage stellen?
 
„Aber gerne, bitte fragen sie nur.“
„Nun, wie soll ich es sagen…Ich habe manchmal das Gefühl, das sie uns beobachten…“
Alfredo blickt sie erstaunt an. „Sie haben Recht und ich möchte mich bei ihnen dafür entschuldigen.“ Alfredo fragt sich nun, wie er diese Situation zu seinem Vorteil nutzen kann.
 
„Lachen sie mich aber bitte nicht aus. Ich erkläre ihnen gleich alles. Vor ungefähr zehn Jahren war ich mit einer Freundin im Kino. Wir sahen uns einen spannenden Spionagefilm an. Der Held in diesem Film, ein trickreicher Spion, hatte mich damals sehr beeindruckt. Noch lange Zeit später musste ich an ihn denken. Ihr Mann sieht genauso aus wie dieser Held im Film! Was macht ihr Mann beruflich, ist er vielleicht Schauspieler?“
 
„Nein, er kann aber sehr gut schauspielern. Zum Glück ist er kein Schauspieler. Er ist Architekt.“
 
„Auch ich wollte zuerst Architektur studieren, habe mich aber dann für Medizin entschieden. Bei mir steht der Mensch im Mittelpunkt. Das Leben und der Tod.“
 
„Dann sind sie also ein Arzt?“
 
„Aber ja.“ Alfredo lachte Heidi charmant an. „Lassen sie uns aus dem Wasser gehen, dann können wir gerne weiter plaudern.“
 
„Ich möchte sie meinem Mann vorstellen, sind sie damit einverstanden?“
 
„Ja. Gerne sehe ich mir den Helden aus der Nähe an.“
 
Gemeinsam gehen sie aus dem Wasser und Heid ruft schon fröhlich von weitem: „Gustus, ich möchte dir meine neue Bekanntschaft vorstellen.“
 
Ich rutsche auf der liege zur Seite, um unseren neuem Gast Platz zu machen und sage: „Bei mir ist genug Platz, bitte setzen sie sich doch.“
Er setzt sich zu mir und Heidi berichtet kurz von dem Gespräch im Pool. „Wir haben uns schon etwas über sie gewundert, denn wir hatten den Eindruck, dass sie uns beobachten. Nun ist ja alles aufgeklärt. Dass ich wie ein Schauspieler aussehe, hat mir noch niemand gesagt. Ich fühle mich geehrt. Danke. Wohnen sie auch in diesem Hotel?“ Fragend sieht Gustus seinen Gast an.
 
„Nein. Ich wohne in der Nähe vom Stella Canaris. Mir gefällt es aber im El Azor viel besser. In den letzten Tagen war ich schon öfters hier. Ich fühle mich hier richtig wohl. Das Hotel steht einsam in den Dünen. Der Strand ist viel näher als beim Stella Canaris und es ist hier auch windiger und daher nicht so heiß. Ich liebe den Wind. Das sind alles Dinge, die mir gefallen.“
 
„Ich hatte ganz vergessen, uns vorzustellen. Das ist meine Frau Heidi Arik, das ist Jens Lupa aus Zürich und mein Name ist Gustus Arik. Wir kommen aus Berlin. Darf ich fragen, wie sie heißen?“
 
„Aber natürlich dürfen sie das.“
 
Heidi steht auf, um ihre Liege etwas in den Schatten von der Palme zu schieben. Und Alfredo versuchte sich an den Namen zu erinnern, der in dem Pass steht, den er von Moreni erhalten hat.
 
„Mein Name ist Dietrich Schuster. Ich wohne in Frankfurt am Main. Kennt jemand von ihnen Frankfurt?“
 
„Frankfurt kenne ich nur flüchtig. Vor langer Zeit hatte ich aus beruflichen Gründen das Vergnügen, für einige Stunden in Frankfurt zu sein.“
 
Nach einer Stunde unterhaltsamer Plauderei sagt Alfredo: „So, nun muss ich zu meinem Auto gehen, denn ich habe einiges zu erledigen. Ich wünsche allen noch einen erholsamen, sonnigen Tag.“
 
Als Alfredo ging, sagt Gustus: „Er ist ja nettes Kerlchen. Ich schlage vor, dass wir alle zuerst in den Pool gehen und anschließend zum Strand. Einverstanden?“ Alle nickten zustimmend. Plötzlich schreit Gustus: „Wer zuerst im Pool ist, hat gewonnen.“ Alle springen hastig auf und platschen in das kühle Wasser.
 
                                                                       *
 
Alfredo fährt den Wagen wieder zurück, in Richtung Stella Canaris und mietet sich in einem neuen Hotel ein Apartment.
Im Zimmer packt er den Koffer aus und denkt: „So ein Fehler wie der, der mir gestern Nacht passierte, darf sich nicht wiederholen.“ Verärgert hängt er seine Kleidung in den Schrank.
 
                                                                       *
 
Durch den nächtlichen, starken Wind ist das Meer noch etwas aufgewühlt und die Wellen sind höher als sonst. Der leuchtend blaue Himmel ist fast wolkenfrei. Gustus und Jens tummeln sich zwischen den Wellen im Meer und Heidi liegt auf ihrem Handtuch, im Schatten einer Palme. Sie sieht neben dem dunkelblauen Rucksack von Jens einige Muscheln, die er gesammelt hatte und ein Skizzenbuch liegen, nimmt das Buch zu sich, schlägt wahllos eine Seite auf und liest die Geschichte: „Carnivore“. Es ist eine kleine, aber sehr feine Geschichte über eine Fleischfressende Pflanze. Nicht nur der Hund von Jens, sondern auch sein Lieblingsfeind werden ihre Opfer.
 
„Diese Geschichte gefällt mir. Hoffentlich ist das Hundchen wieder aufgetaucht. Ich muss Jens fragen, ob ich die anderen Geschichten auch lesen darf.“ Sorgenvoll blickt Heidi zur Brandung und wundert sich darüber, dass die beiden noch immer im Meer sind. Sie steht auf, geht zur Brandung und blickt suchend auf die Wellen. Dann entdeckt sie weiter draußen zwei kleine schwarze Punkt, die abwechselnd, im Rhythmus der Wellen verschwinden und wieder auftauchen. „Das müssen sie sein.“ Nun geht sie, zuerst zögerlich, in das kalte Wasser und schwimmt zu ihnen.
 
„Ihr dürft nicht so weit raus schwimmen, denn auch hier kann es gefährliche Strömungen geben“, sagt Heidi, noch etwas außer Atem, als sie die beiden erreichte.
 
„Okay. Dann lass uns zurück schwimmen“, antworte ich und sehe lächelnd in die braunen Augen von Heidi.
 
„Jens, ich war vorhin etwas neugierig und habe dein Skizzenbuch aufgeschlagen und die Geschichte über die Carnivore gelesen. Sie gefällt mir ausgesprochen gut. Darf ich die anderen auch lesen?“
 
„Aber natürlich.“
 
Am späten Nachmittag, sitze ich, geduscht und umgezogen, in der Nähe von der Rezeption an der Bar. Vor mir steht ein Glas mit Brandy. Durch die großen, raumhohen Glasscheiben habe ich einen faszinierenden Panoramablick auf das weite Meer.
 
Alfredo betritt die Bar, nickt mir freundlich grüßend zu, geht an mir vorbei und setzt sich an die Bar.
 
Kurz danach schlendern Gustus und Heidi, Arm in Arm, auf die Bar zu und setzen sich zu mir. Auch sie bestellen sich einen Brandy. Verträumt blicke ich eine Weile auf das Meer und sage dann: „Ich habe zwei Neuigkeiten für euch. Vorhin habe ich an der Rezeption gehört, dass ein Gast aus diesem Hotel verschwunden ist. Es wird vermutet, dass er ertrank. Heidi, du hast Recht. Beim nächsten Mal werden wir nicht so weit raus schwimmen.“
 
Alfredo sieht uninteressiert auf das Meer, spitzt aber neugierig seine Ohren, damit ihm kein Wort entgeht.
 
„Und was ist die zweite Neuigkeit, Jens?“; fragt Gustus, nimmt einen Schluck Brandy und läst seinen Blick aus dem Panoramafenster gleiten.
 
„Vorhin habe ich erfahren, dass unsere Inselumfahrt mit dem Segelschiff sich wegen kleinen Reparaturarbeiten verschieben wird. Wir werden also zuerst, nach deiner Besprechung, übermorgen Teneriffa besuchen, wenn ihr damit einverstanden seid. Anschließend, Gustus, können wir die Schiffsfahrt nachholen.“
 
„Ich bin damit einverstanden“, sagt Heidi, Gustus anschauend, der wohlwollend nickt.
 
Gustus, der das Gespräch mit anhört, sieht immer noch völlig gelangweilt aus dem Panoramafenster, das ruhige Meer betrachtend, während er denkt: „Hoffentlich wurde die Leiche von Haien zerfetzt. Wenn sie an den Strand gespült werden sollte, dann dauert es nicht mehr lange und die Polizei taucht hier auf. Vorsichtshalber müsste ich noch meine Mk XIX in den Dünen vergraben, damit das Korpus Delikti nicht auffindbar ist. Ich werde dann Gustus mit dem versteckten Stahldraht in meinem Ring strangulieren müssen. Aber das dürfte auch kein Problem sein.“ Er denkt jetzt wieder an die acht Männer und zwei Frauen, die er mit diesem Stahldraht strangulierte und trinkt einen Schluck Bier.
 
„Ich werde mir täglich eine Tageszeitung kaufen, damit ich rechtzeitig erfahre, ob die Leiche an den Strand gespült wurde. Und gut, dass ich nun weiß, dass Gustus Übermorgen nach Teneriffa fährt. Ich werde mich an der Rezeption erkundigen, welcher Reisebus auf Teneriffa gebucht wurde. Am besten, ich fahre Morgen schon zu dieser Insel und steige dann rechtzeitig in den Bus.
 
Was für ein Glück, dass ich nicht direkt zum Flugplatz gefahren bin, sondern einen Abstecher zum El Azor gemacht habe. Erst dadurch konnte ich meinen Fehler erkennen. Ich kann es kaum erwarten, wieder in Sizilien zu sein. Aber ich darf nicht direkt hinfliegen, denn ich muss ja meine Spur verwischen. Ich werde, wie immer, nach Rom fliegen. Dort können mich dann meine Freunde abholen und mir auch gleich einen neuen Pass geben. Falls jemand mich verfolgen sollte, wird er meine Spur in Rom verlieren.
 
Und ich darf mir auch keine freundschaftlichen Beziehungen mit dieser Dreierbande erlauben. Schön auf Distanz bleiben, Alfredo!“
 
 Als er sich umdreht, sind die Plätze von Gustus, Heidi und Jens leer. Alfredo bezahlt sein Bier und geht durch die Eingangshalle zu seinem Auto.
 
 
 
Die Konferenz
 
 
Samstag, 20. Oktober
 
Gleich nach dem Frühstück geht Gustus mit Heidi zu ihrem Apartment, um sich umzuziehen.
 
„Mein Reißverschluss klemmt wieder, Gustus, hilf mir doch bitte.“
„Moment, sooo…, er war wirklich nur eingeklemmt.“
 
Gustus zieht sein weißes Hemd, eine dunkelblaue Krawatte und einen vornehmen, sommerlichen Anzug an, Heidi ihren Bikini und darüber einen Bademantel. Als sie zur Tür geht, sagt sie, sich zu Gustus umdrehend: „ Ich werde unten am Pool sein. Vielleicht treffe ich Jens dort. Wenn du mit deiner Besprechung fertig bist, dann komm bitte gleich zu mir und erzähle mir alles. Ich bin schon schrecklich neugierig auf das Ergebnis und drücke dir die Daumen.“
 
„Heidi, ich habe ein gutes Gefühl, es wird schon alles gut gehen. Die Zukunft gehört uns. Tschüß, mein Schatz.“
 
Am Pool stehen noch viele freie Liegen. Heidi entdeckt schnell die Liege von Jens. Jens selbst kann sie nicht sehen, er ist auch nicht im Wasser. Aber der Rucksack von Jens liegt auf seiner Liege. Heidi breitet ihr großes Handtuch auf der nebenstehende Liege aus und setzt sich. „Wo mag nur Jens stecken? Vielleicht am Strand?“
 
Neben dem Rucksack liegt die Sonnencreme, eine Tageszeitung und auf der Zeitung das Skizzenbuch, damit der Wind die Zeitung nicht in alle Richtungen streut. Neugierig greift Heidi sich das Skizzenbuch, schlägt eine Seite auf und fängt an zu lesen. Dieses mal die Geschichte: „Salto Mortale“. Eine spannende Story über ein Flugproblem. Sie endet damit, dass Jens aufwacht und alles zum Glück nur träumte. Und er hatte verschlafen. Ausgerechnet an seinem Hochzeitstag. Na denn: Guten Flug!
Gerade, als Heidi das Skizzenbuch wieder auf die Liege vom Jens legt, spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter. In Gedanken noch bei der gelesenen Geschichte, dreht sie sich um und sieht in meine blauen Augen, als ich sage:
„Habe ich dich erschreckt?“
„Nein Jens. Ich habe gerade Salto Mortale gelesen. Hast du wirklich deinen Hochzeitstag verschlafen?“
Grinsend antworte ich: „ Das verrate ich dir nicht. Aber diese Geschichte passt sehr gut zu dem morgigen Tag. Wir werden mit einer Cessna nach Teneriffa fliegen. Freust du dich schon darauf?“
„Ja. Ich bin schon ganz ungeduldig. Kommst du mit in das Wasser?“
„Ja, aber wo ist Gustus?“
„Er hat jetzt eine Besprechung in dem Konferenzraum vom Hotel.“
„Dann lass uns doch eine Strandwanderung machen. Die Besprechung dauert bestimmt noch einige Stunden. Sie scheint sehr wichtig für ihn zu sein. Unterwegs kannst du mir erzählen, worum es in dieser Besprechung geht. Du merkst schon, ich bin etwas neugierig.“
Beide packen  ihre Sachen und gehen zum Strand. Heidi legt ihre Hand auf meine Schulter und etwas zögerlich lege ich auch meine Hand auf ihre Schulter. Ich fühle mich glücklich, sie neben mir wissen zu dürfen.
Inzwischen betritt Gustus das Konferenzzimmer. Ein ovaler Tisch aus rötlichem Kirschholz steht mittig in dem länglichen Raum, an dem drei Herren sitzen. In dem Tisch ist eine rötliche, ovale Granitplatte eingelassen. Auf der Steinplatte stehen eisgekühlte Getränke. Daneben das Modell der geplanten Ferienanlage Paradieso, das Gustus vor einigen Tagen an seinen Partner geschickt hat.
Zwei Wände sind mit Kirschholz verkleidet, eine Wand ist weiß und dient als Projektionsfläche und in einer anderen befindet sich ein raumhohes Fenster, hinter dem das Meer zu sehen ist.
Senor Garcia, der Investor und die beiden anderen Herren erheben sich. Senor Garcia geht auf Gustus zu, begrüßt ihn herzlich und sagt: „Darf ich ihnen meine Berater vorstellen? Mr. Charif ist ein erfahrener Hotelberater. Er hat bereits zwei Ferienanlagen auf Fuerteventura errichtet. Senor Sanchez ist mein Finanzberater und Senor Fernandes kümmert sich um juristische Fragen.“ Die Hände werden geschüttelt und Gustus schließt seinen Laptop an den Beamer an, der lautlos von der Decke herunter schwebt.
Gustus startet das Power Point Programm und beginnt mit seinem Vortrag.
„Meine Herren, die Anlage besteht aus einem Haupthaus mit einem geschickt versteckten Wirtschaftsteil, einer großzügigen, glasüberdachten Vorfahrt, alles umgeben von einer gestalteten Gartenanlage. Das Haupthaus ist umgeben von vielen Bungalows. Von oben betrachtet bilden die Bungalows ein großes Herz, dessen Spitze auf das Meer zeigt. In der Mitte von diesem Herz befindet sich, wie ein Diamant, das Haupthaus. Die verschiedenen Poolanlagen sind von schattenspendenden Palmen umgeben.“
Gustus erläutert alle Funktionsbereiche, die Abstimmungsgesräche mit der Baubehörde und den Finanzierungsplan. Die Bauzeit der luxuriösen Anlage beträgt zwei Jahre. Nach drei Stunden intensiver Beratung wird vereinbart, dass in 14 Tagen auf Sizilien ein Treffen bei einem Notar stattfinden soll, um die Verträge zu unterzeichnen.
Da keine Bedenken für die Realisierung der Anlage bestehen, verabschieden sich alle. Gustus packt seinen Laptop in eine schwarze Ledertasche ein und geht zu seinem Zimmer, um sich umzuziehen.
Zufrieden mit sich selbst und dem Gesprächsergebnis geht Gustus auf den Balkon, blickt zum atlantischen Horizont und sieht das nun schnell zu verdienende Geld schon vor sich. Seine Gedanken schweifen nach Sizilien. Auch zu den beiden Bauern, die ihn bei seinem letzten Aufenthalt in Marinella besuchten. Sie versuchten ihn zu überreden, sein Projekt nicht zu realisieren. „Was ich mir vorgenommen habe, führe ich auch zu Ende“, war seine Antwort gewesen. Beim Abschied wünschten sie ihm Gesundheit und ein langes Leben. Auch das Haifischlächeln von einem der beiden Bauern sieht er noch vor sich.
„Ich muss mich beeilen, bestimmt wartet Heidi am Pool auf mich“. Er zieht sich um und fährt mit dem Aufzug zur untersten Ebene, um dann zu ihr zu gehen. Sie sieht ihn sofort und winkt ihm zu. Als er auf sie zugeht, streckt er seinen Arm aus und bildet mit der rechten Hand eine Faust. Der Daumen zeigt nach oben.
„Ich habe mir eine Erfrischung verdient. Die Zukunft gehört uns. Kommst du mit in den Pool? Die Besprechung lief erfolgreich. In 14 Tagen wird der Vertrag auf Sizilien unterzeichnet.“
„Nimmst du mich mit?“
„Das überlege ich mir noch“, sagt er und springt in den Pool. Heidi und ich springen hinterher und Gustus berichtet im Wasser von der Konferenz.
„Ich gratuliere zu deinem Erfolg, Gustus! Aber vergiss bitte nicht, dass wir morgen sehr früh aufstehen müssen, um rechtzeitig die Cessna zu erreichen. Das Taxi, das ich bestellt habe, wird uns um 6 Uhr abholen. Das bedeutet, dass ihr euren Erfolg nicht zu lange feiern dürft, denn ein frühes Aufstehen ist Morgen angesagt.“
Als ich aus dem Pool klettere, ruft Heidi: „ Jens, lass doch bitte dein Skizzenbuch mit den Geschichten auf Deiner Liege liegen, damit ich heute Abend vor dem Einschlafen etwas zum lesen habe.“
„Das mache ich gerne. Und vergesst nicht, den Besprechungserfolg zu feiern.“ Jens packt seine Sachen auf der Liege in den Rucksack ein, lässt das Buch aber liegen und geht auf sein Zimmer.
Am Abend, nach dem Abendessen sitzen Gustus und Heidi auf ihrem Balkon und beobachten den Sonnenuntergang. Vor ihnen stehen auf dem Tisch zwei gefüllte Rotweingläser. Sie hängen ihren Gedanken nach, genießen die Ruhe und sprechen wenig miteinander. Der  pastellfarbene, blaue Himmel mit den wenigen, rosaroten Wolken und dem dunkelblauen Meer wirkt märchenhaft und lädt zum träumen ein. Nach dem Sonnenuntergang wird es schnell dunkel und beide gehen in ihr Zimmer.
Als Heidi sich müde in das Bett legt, blättert sie in dem Buch vom Jens und liest noch die Geschichte: „Die Trauminsel“.
„Diese unbewohnte Insel mit ihren weißen Stränden gehört zu den schönsten Inseln im Atlantik. Es ist eine grüne Insel mit einem mediterranen Klima. In der Paradiesebene gibt es Einhörner und kleine Hügel, die besonders als Landeplatz für positive Gedanken geeignet sind…
 
 Friedlich und entspannt lag Lupa in seinem Liegestuhl, ein liebliches Lächeln umspülte sein bärtiges Gesicht, als er die Augen schloss, um von dieser Insel zu träumen…
 
Eine Schlingpflanze, die über ihm hing, war nicht nur besonders dick, sondern auch ausgesprochen schön, denn sie hatte verschiedene Grüntöne, wie ein kleines, orientalisches Muster. Obwohl es hier unten windstill war, bewegte sie sich leicht…
 
Als die Schlange nun über den modrigen Boden kroch, noch dicker als vorher, träumte Lupa immer noch von seiner Insel, während er von Verdauungssäften umspült wurde.
 
Heidi legt das Buch zur Seite und als sie einschläft, träumt sie nicht von Verdauungssäften, sondern von der Insel mit den Einhörnern.
 
 
 
Teneriffa
 
Sonntag, 21. Oktober
 
Es ist dunkel und noch sehr früh am Morgen. Nur sehr wenige Fenster des Hotels sind erleuchtet, das von einem kühlen, heftigen Wind umspült wird. Die Sterne glitzern am schwarzen Himmel und nur das Tosen des Windes und der Brandung sind zu hören. In der Hotelvorfahrt, vor der erleuchteten Rezeption stehen zwei Personen. Beide haben eine dunkle Jacke an und den Rollkragenpullover bis zum Kinn hochgezogen. Zwei Rucksäcke stehen vor ihren Füßen auf dem Boden. Die etwas kleinere Person blickt auf ihre Armbanduhr und sagt:
 
„Gustus, in wenigen Minuten kommt das bestellte Taxi und Jens ist noch nicht hier. Hoffentlich hat er nicht verschlafen. Übrigens, Letzte Nacht habe ich von Einhörnern geträumt.“
„Von Einhörnern?“
„Ja, von Einhörnern. Bevor ich einschlief, las ich noch in dem Buch von Jens. In einer Geschichte tauchen auch Einhörner auf. Sie leben auf einer fantastischen, besonders schönen Insel. Das Buch habe ich in der Seitentasche vom Rucksack eingesteckt. Du solltest auch mal deine Nase in dieses Buch stecken. Ich bin mir ganz sicher, dass einige Geschichten dir gefallen werden.“
 
„Gib mir das Buch, wenn wir im Flugzeug sind. Auf diese Geschichten bin ich schon neugierig. Du, da kommt Jens.“
 
Heidi dreht sich um und sieht mich, als ich gerade aus der Drehtür komme. „Hallo ihr beiden, fast hätte ich verschlafen. Brrr, ist der Wind kalt. Ich hätte mir lieber auch etwas Wärmeres anziehen sollen“, rufe ich ihnen zu und Heidi ruft zurück: „ Wie geht es dir?“
„Wenn ich an die Alternativen denke, dann geht es mir gut.“
 
Jetzt sieht man in der Ferne Scheinwerfer, die in der Dunkelheit über die Dünenlandschaften streifen. „Unser Taxi kommt“, ruft Heidi und hebt ihren Rucksack auf.
 
Die Fahrt zum Flugplatz Puerto del Rosario dauert etwas über eine Stunde. Unterwegs erhellt sich der Himmel, färbt sich rötlich und die Sonne geht auf. Ein Schauspiel, das keiner der Drei würdigen kann, denn dazu sind sie noch viel zu müde.
 
Die Cessna glänzt in der Sonne. Sie steht seitlich neben der Rollbahn und der Pilot davor. Als sie einsteigen, sitzen bereits vier weitere Passagiere in der kleinen Maschine. Bald nach dem Start knackt es in den Lautsprechern und der Pilot begrüßt sie:
 
„Meine Damen und Herren, mein Name ist Pedro. Ich bin ihr Pilot. Wir werden in einer Höhe von 6000 Metern nach Teneriffa fliegen. Das Flugwetter ist ausgezeichnet. Wir werden nach Norden Fliegen bis Lanzarote und dann, nach einer Linkskurve weiter bis Teneriffa. Ich wünsche ihnen einen angenehmen Flug.“
 
Schon nach wenigen Minuten sind sie über Corralejo, dem nördlichsten Ort auf Fuerteventura. Rechts sieht man die kleine Insel Lobos und weiter vorne Lanzarote.
 
Ich sehe, dass Heidi aus der Seitentasche von ihrem Rucksack mein Skizzenbuch mit den Geschichten holt und es Gustus zum lesen gibt. „Wenn du etwas über Lanzarote lesen möchtest, dann musst du Yellow Submarin lesen“, rufe ich Gustus zu. Gustus sucht diese Geschichte und liest:
 
 
Yellow Submarin
 
Es war auf Lanzarote, gleich nach der Ankunft, als mir jemand auf dem Weg zum Bus einen Zettel in die Hand drückte. Ich las nur die Überschrift „Yellow Submarin“ und steckte den Zettel in die Jackentasche.
 
Erst nach vielen Tagen griff ich zufällig in meine Jackentasche und hatte dann den Zettel, auf dem „Yellow Submarin“ stand in der Hand. Es war ein Reklamezettel, der dafür warb, mit einem gelben U- Boot, die Unterwasserwelt zu bewundern…
 
…und dann hörten wir auch schon ein metallisches Kratzen an der Bordwand. Zuerst leise, aber dann dröhnte es durch das ganze Schiff. Erschrocken sah Mirco mich an. Jetzt war wieder das helle, metallisches Kratzen zu hören und das Boot bewegte sich nicht mehr…
 
Ich dachte daran, was passieren könnte, wenn wir hier weiter hängen bleiben würden und merkte, dass sich auf meiner Stirn Angstschweiß bildete. Auch meine Hände waren plötzlich feucht. Wie lange reicht der Sauerstoff? Würden Freunde vom Kapitän uns suchen, wenn wir nicht rechtzeitig zurückkommen würden? Müssen wir nach oben an die Wasseroberfläche schwimmen und wie kommen wir aus dem Boot? Oder haben wir hier unten eine Überlebenschance? Und was sollen wir bei einem plötzlichen Wassereinbruch machen? Wo werden sich dann in dem U- Boot Luftblasen bilden, um das Leben noch einige Minuten zu verlängern? Wenn das Boot mit uns hier unten liegen bleiben würde, dann würde es auch nach einigen Jahren mit Muscheln besetzt sein und eine Attraktion für andere U- Boot Reisende bilden?
 
Ich stellte mir vor, wie in einigen Jahren ein anderes U- Boot, voller Feriengäste im Bauch, ganz nah an unser Boot fährt, so dass die Touristen durch die großen Bullaugen unsere Skelette bewundern können. Sollte dieser U- Bootuntergang Absicht sein, um die Unterwasserwelt für andere Touristen attraktiver machen zu können? Wir würden dann, visuell leicht verändert, auf vielen Urlaubsfotos und Ansichtskarten zu sehen sein…
 
 
 
Als er die Geschichte zu Ende gelesen hat, reicht Gustus das Buch Heidi, damit sie es wieder in die Seitentasche vom Rucksack steckt und sagt: „Die Geschichte gefällt mir sehr gut. Aber das ist keine Geschichte für Leute, die Platzangst haben. Jens, bei dieser Gelegenheit fällt mir auch eine Geschichte ein. Das ist eine wahre Geschichte, die ich vor vielen Jahren selbst erlebt habe. In deinem Buch gibt es noch viele leere Seiten. Darf ich meine Geschichte in dein Buch schreiben?“
„Aber gerne, ich freue mich schon auf diese Geschichte.“
„Heidi, bist du bitte so nett und gibst mir das Buch aus der Seitentasche?“
Sie reicht ihm das Buch, Gustus blättert es auf und trägt seine Geschichte ein.
 
Als Gustus mit seinen Eintragungen fertig ist, reicht er mir das Buch. Von Neugier getrieben klappt er sofort das Buch auf und fängt an zu lesen:
 
 
Auch auf Leichen liegt man weich
 
Vor einer Woche bekam ich einen neuen Planungsauftrag, ein sehr altes, mehrgeschossiges Haus aus der Gründerzeit sollte modernisiert und umgebaut werden. Eine reizvolle Aufgabe, über die nicht nur ich mich freute, sondern auch meine Portokasse…
 
…wir gingen in den Keller, ich und das ungemütliche Gefühl, dass mir im Nacken saß, als mir bewusst wurde, dass ich völlig alleine in diesem alten, großen Haus war…
 
…meine Schritte hallten durch den dunklen und merkwürdig modrig riechenden Keller. Links und Rechts vom Gang waren Bretterwände, hinter denen sich die Kellerflächen der ehemaligen Mieter befanden…
 
…die Unterlage, auf der ich lag, war weich. Vermutlich ein alter Teppich. Zurückrutschend, stand ich an der Brettertür, die leicht knarrte und hatte plötzlich das Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Die Gänsehaut besuchte mich und auch das ungemütliche Gefühl, dass ich vorhin im Nacken hatte. „Da, war da nicht gerade ein knirschendes, leises Geräusch gewesen? Waren das Schritte?“, dachte ich. Schnell und tastend ging ich zur Kellerausgangstür…
 
Im Auto sitzend, wurde mir klar, dass ich im Keller auf der Frauenleiche gelegen haben musste, als ich nach der Außenwand tastete. Und das knirschende Geräusch, das ich gehört hatte, waren das die Schritte von dem Mörder gewesen? Und was wäre passiert, wenn ich nicht gleich den Keller verlassen hätte, oder in die Richtung gegangen wäre, in der ich die knirschenden Schritte gehört habe?
 
Wäre das für mich ungesund gewesen?
 
„Auch auf Leichen liegt man weich“, sagte ich, während ich den Motor anstellte.
 
„Gustus, hast du das wirklich selbst erlebt? Das ist ja schrecklich spannend.“
„Ja, das habe ich selbst erlebt. Ich denke, dass ich damals auch Glück gehabt habe, dass ich nicht…“
 
Ein lautes Knacken in den Lautsprechern unterbricht den Satz von Gustus und der Pilot meldet sich mit: „Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten werden wir auf Teneriffa landen. Aber nicht auf dem Flughafen Reina Sofia im Süden, den sie vielleicht schon kennen, sondern auf Los Rodeos bei La Laguna. Dieser Flugplatz ist für alle interinsularen Flüge bestimmt. Ich hoffe, sie hatten einen angenehmen Flug.“
 
Die Landung mit der Cessna verläuft problemlos und bald sitzen alle in einem Taxi, um zu dem vereinbarten Treffpunkt zu fahren, an dem der Reisebus auf sie wartet.
 
Als das Taxi neben dem Bus hält, sitzt Alfredo bereits im Bus. Er flog einen Tag früher nach Teneriffa. Der Reisebus ist nur halbvoll und in der letzten Reihe sitzt er alleine. Seine Hand gleitet in einen kleinen Rucksack und fühlt die Desert Eagle Mk XIX, mit dem bereits angeschraubten Schalldämpfer. Das Magazin ist gefüllt mit dem Kaliber 44 Magnum.
 
Zufrieden zieht er seine Hand wieder aus dem Rucksack und betrachtet den Ring mit dem versteckten Stahldraht an seinem Finger. „Ich habe mich gut vorbereitet“, denkt er. „Mit einem von den beiden Werkzeugen werde ich Erfolg haben und das himmlische Paradies wird heute um weiteres Mitglied reicher werden.“
 
 
 
 
Die Busfahrt
 
Gustus, Heidi und ich steigen in den klimatisierten Bus und erblicken auch gleich eine, noch nicht besetzte Reihe. Gustus und Heidi setzen sich nebeneinander, ich setze mich auf die andere Seite des Mittelganges. Der Busfahrer startet den Motor und die Reisebegleiterin greift zum Mikrofon: „Buenos dias, meine Damen und Herren. Mein Name ist Nadia. Ich bin ihre Reisebegleiterin. Unser Busfahrer, heißt Jose. Er ist sehr erfahren und wird uns sicher zu unserem Ziel bringen. Zuerst fahren wir durch einige kleine Orte auf der Südseite, um dann auf den Pico del Teide, Spaniens höchsten Berg zu fahren. Von dort werden wir, nach einer Stunde Aufenthalt, über die Nordseite zurück zum Ausgangspunkt…“
 
Aufmerksam höre ich der Reisebegleiterin zu und hole eine Mineralflasche aus meinem Rucksack. Als ich die Flasche wieder in den Rucksack, der neben mir auf dem leeren Sitz steht, lege, sehe ich mich um und erblicke in der letzten Reihe Alfredo. Er betrachtet die vorbeiziehende Landschaft und hat mich offensichtlich nicht bemerkt. Schnell setze ich mich auf den leeren Platz neben mir, der Rucksack erhält einen Fensterplatz, und berühre mit meiner Hand Heidi an der Schulter. Fragend sieht sie mich an. „Heidi, drehe dich bitte nicht um, aber rate mal, wer in der letzten Reihe sitzt. Es ist Dietrich Schuster“, flüstere ich. „Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall?“
„Du hast Recht.“ Sie dreht sich zu Gustus um und flüstert ihm etwas in sein Ohr. Er zieht seine Augenbrauen hoch und scheint auch überrascht zu sein. „Das ist wirklich ein merkwürdiger Zufall.“
 
„Meine Damen und Herren“, tönt es aus dem Lautsprecher, „in zehn Minuten werden wir unseren ersten Zwischenstopp haben. Wir halten nur zwanzig Minuten, vor einem Restaurant. Die Erfrischungsgetränke sind schon vorbereitet. Rechts von dem Restaurant sehen sie den Ort San Miguel mit sehr schönen Motiven zum Fotografieren.“
 
Im Restaurant geht Alfredo an ihnen vorbei, bleibt kurz stehen und sagt lächelnd: „Hallo, das ist ja ein schöner Zufall, sie hier zu treffen. Ich möchte aber nicht aufdringlich sein. Bestimmt werden wir uns noch öfters im Hotel sehen und dann können wir auch über die Reiseeindrücke plaudern“ und geht weiter, zu dem Tisch, auf dem die Getränke stehen. „Nur noch kurze Zeit und dann ist endlich das Problem aus der Pipeline gelöst“, denkt er, als er sich erfrischendes, kühles Wasser in seinen Hals gießt.
 
 
Pico del Teide
 
 
Nun, nachdem alle Passagiere eingestiegen sind geht die Busfahrt bergauf. Vorbei an kargen, steinigen Landschaften und bizarren Gesteinsformationen, mit einem herrlichen Blick auf das weite, blaue Meer. Im Lautsprecher knackt es wieder: „Meine Damen und Herren, links sehen sie gleich einige Affenpalmen und dahinter einen Drachen- und Eukalyptusbaum. Und rechts am Hang einen Feigenkaktus, einen Zitronenstrauch und danach Johanniskraut. Auf dieser Insel wachsen sehr viele Heilpflanzen, auch Aloe Vera. In unterschiedlichen Höhen werden auf Teneriffa verschiedene landwirtschaftliche Produkte geerntete, wie zum Beispiel Bananen, Tomaten, Getreide, Kartoffeln und verschiedene Obstsorten. Wir werden bald den Aussichtspunkt Mirador Fortaleza erreichen. Er befindet sich in einer Höhe von 3550 Metern. Bevor Sie dann die gigantische Aussicht über den Wolken auf das Meer und die Nachbarinsel Gomera genießen, beachten sie bitte Folgendes: trotz der strahlenden Sonne ist es dort oben sehr kühl. Bitte nehmen sie daher warme Kleidung mit, wenn sie aus dem Bus aussteigen. Und verlassen sie nicht die vorhandenen Wege bei ihren Spaziergängen. Es gibt hier einige Stellen, an denen man leicht abstürzen kann und beim Durchqueren der steilen Geröllfelder kann man sehr schnell ins Rutschen kommen. Und unterschätzen sie auch bitte nicht die besonders intensive Ultraviolettstrahlung…“
 
„Heidi, kommst du mit zu den Geröllfeldern?“, frage ich sie grinsend. Sie schüttelt den Kopf und sieht weiter aus dem Fenster.
 
„…und der Name El Teide kommt aus der Sprache der Ureinwohner, der Guanchen. Einer Sage nach bezeichnet er das Zuhause des Bösen Dämonen Guayota. Er soll den Sonnengott Magec gefangen haben. Durch die Gefangennahme des Sonnengottes trat eine Dunkelheit ein, die die Guanchen sehr erschreckte. Sie riefen ihren obersten Gott Achaman mit Erfolg um Hilfe und die Dunkelheit verschwand. Der Pico de Teide hat einen vulkanischen Ursprung und befindet sich in einer Caldera mit einem Durchmesser von 17 Kilometern. Die Calderen entstehen durch den Einsturz der Magmakammern von Vulkanen. So, nun fährt der Bus in seine Parkposition. Ich erwarte sie in einer Stunde, bitte seien sie pünktlich, da der Bus sonst ohne sie abfährt.“
 
Mit den anderen Passagieren klettere ich aus dem Bus, entferne mich von ihm und bleibe vor einem Abhang stehen. Gustus und Heidi befinden sich neben mir. Staunend genießen wir den fantastischen Panoramablick auf das Meer und die  Bergspitze, die mit Schnee bedeckt ist, der in der Sonne hell leuchtet. Fast die ganze Südküste liegt uns zu Füßen. Trotz der Wolken unter uns können wir die Insel Gomera erkennen.
 
„Dort unten hat es warme 36° C, aber hier oben fange ich schon an zu frieren“, sage ich zu den beiden und hole meinen Pullover aus dem Rucksack.
„Als Alexander von Humboldt hier oben war, hatte er sich bestimmt auch warm angezogen“, sagt Gustus zu mir und legt seine Hand auf meine Schulter. „Wir werden dich jetzt alleine lassen und uns hier oben etwas umsehen.“ Als beide weg gehen, setze ich mich auf einen Stein und lasse die Aussicht auf mich einwirken. Ich denke daran, dass Kolumbus dort unten bei Gomera an Land ging um Proviant zu organisieren, ehe er weiter in Richtung Amerika segelte. Dann muss ich an  Vanessa denken. Schade, dass sie jetzt nicht bei mir ist. Erfüllt von Traurigkeit und der Sehnsucht nach ihr, hole ich aus dem Rucksack mein Skizzenbuch, schlage eine leere Seite auf, um mich mit dem Schreiben einer Geschichte auf andere Gedanken zu bringen. Ich suche nach einem Thema und ohne, dass ich schon das Ende der Geschichte kenne, fange ich an zu schreiben:
 
Mitternachtsmord
 
Es war schon nach Mitternacht…
…die heftigen Windböen peitschten heulend den prasselnden Regen gegen die Windschutzscheibe, während hinter mir die Äste im Wind wild um sich schlugen und sehr gefährlich ächzten…
…dann betrat ich das Haus, schüttelte mich und das Wasser spritze von meinem Mantel gegen die Treppenhauswände, um dort geheimnisvolle, fast grauenhafte, dynamische Ornamente zu erzeugen…
…hätte ich diese richtig gedeutet, dann hätte ich mit Sicherheit meine Wohnung nicht betreten…mein Mantel tropfte wie ein Wasserrohrbruch…
…furcht erregende Dunkelheit blickte zurück, die seltsamer Weise verschwand, als ich das Licht anknipste…
 
 
Zufrieden lese ich die Geschichte durch und stelle mir in Gedanken alles bildlich vor. Gerade, als ich sie zum zweiten Mal durchlesen will, zucke ich plötzlich erschrocken zusammen. Das laute Hupen vom Bus dröhnt unangenehm in meine Ohren. Ich sehe auf meine Armbanduhr: „Die eine Stunde ist aber schnell vergangen.“ Auf dem Weg zum Bus gucken mir wartenden Passagiere durch die Fenster ungeduldig entgegen. Ich steige ein, gehe ich zu meinem Sitz, bemerke aber sofort, dass die Plätze von Gustus und Heidi leer sind.
 
„Meine Damen und Herren“, klingt die Stimme von Nadia aus dem Lautsprecher, „Ich glaube, dass nun alle Gäste eingestiegen sind und wir mit unserer Rückfahrt beginnen können.“
 
Der Busfahrer schließt die Türen. Hastig gehe ich durch den Mittelgang nach vorne zu der Reisebegleiterin.
„Meine Nachbarn, die neben mir saßen, Herr und Frau Arik, fehlen noch. Wir müssen auf sie warten. Bestimmt kommen sie gleich.“
Nadia blickt nervös zuerst auf ihre Armbanduhr und dann zu mir. „Zehn Minuten können wir noch warten, danach müssen wir weiterfahren. Es kam schon öfters vor, dass Passagiere nicht rechtzeitig den Bus erreichten. Sicherlich haben sie nicht bemerkt, dass die Zeit so schnell vergangen ist. Der Busfahrer wird über Funk  die nachfolgenden Busse darüber informieren, dass sie noch zusätzlich zwei Passagiere mitnehmen sollen.“ Sie nickt dem Busfahrer auffordernd zu, damit er über Funk die anderen Fahrer informiert und sieht wieder auf ihre Uhr. „Die zehn Minuten sind nun vorbei. Jose, wir starten.“ Der Motor springt an, der Bus setzt sich langsam in Bewegung und ich mich auf meinen Platz. Als ich mich umdrehe, sehe ich in der letzten Reihe Dietrich Schuster. Er hält einen Reiseführer in der Hand und liest.
 
Durch den Bus schwebt leise eine spanische Hintergrundmusik, die abrupt durch Nadias Lautsprecherstimme unterbrochen wird. „Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass es ihnen auf dem Pico del Teide gefallen hat. Leider haben zwei Passagiere nicht rechtzeitig unseren Bus erreicht. Aber das ist schon öfters passiert. Die nachfolgenden Busse sind darüber bereits über Funk informiert und werden sie mitnehmen. Es gibt also keinen Grund, sich hier Sorgen zu machen.
 
Wir fahren jetzt über die Nordseite des Teidemassivs, zurück zu unserem Ausgangspunkt. Kurz vor La Orotava werden wir noch einen kleinen Zwischenstopp einlegen. Wir fahren jetzt durch eines der fruchtbarsten Täler dieser Insel…“
 
Meine Gedanken waren bei Gustus und Heidi. Warum haben sie den Bus verpasst? Hatten sie nicht auf die Zeit geachtet? Oder ist ihnen etwas passiert?“ Unsinn, wenn einem von ihnen etwas passiert wäre, dann wäre der andere bestimmt zum Bus gekommen, um Hilfe zu holen. Ich werde sie morgen fragen, warum sie den Bus verpassten“, denke ich, die vorbeiziehenden Landschaften betrachtend.
 
Der Bus hält in der Nähe von La Orotava vor einem freistehendem Restaurant. Im Schatten vor dem Haus sitzt ein älterer Herr auf einer Bank und zu seinen Füßen liegt ein großer schwarzer Hund. Beide scheinen zu schlafen. Mit den anderen Passagieren steige ich aus und setzte mich auf der Terrasse an einen freien Tisch, im Schatten eines Drachenbaumes. Der angenehme Wind kühlt meine Stirn. In Gedanken sehe ich Heidi mit ihren braunen Augen vor mir, als Dietrich Schuster zum Nebentisch geht, seinen Rucksack auf den Stuhl legt, ihn mit seiner rechten Hand öffnet, die Brieftasche an sich nimmt und sich in das Restaurant begibt, um vermutlich ein Getränk zu holen. Mir fällt auf, dass sich auf seinem Handrücken eine Schürfwunde befindet, unterhalb seiner Armbanduhr. Er muss wohl auf seinem Tide- Spaziergang gestolpert sein.
 
„Es ist wirklich merkwürdig, dass Dietrich Schuster den selben Ausflug am gleichen Tag wie wir gebucht hat“, denke ich, als ein kleiner Junge an meinem Stuhl vorbei rennt, den Stuhl am Nebentisch mit dem Rucksack vom Alfredo fast umkippt und aus meinem Gesichtsfeld verschwindet. Mein Blick wandert zu den vielen Gästen, die, sich unterhaltend, an den Tischen sitzen, um dann an dem fast umgekippten Stuhl mit dem Rucksack hängen zu bleiben. Mein Blick erstarrt. Der Rucksack lag nun umgekippt auf dem Stuhl und aus der geöffneten Reissverschlußtasche sind eine Glitzeruhr und eine Pistole mit einem Schalldämpfer gerutscht. „Gustus Uhr“, schoss ein Gedanke mir durch den Kopf.  Vor mir sehe ich Dietrich Schuster aus dem Restaurant kommen, mit einer Mineralflasche in der Hand. Spontan stehe ich auf und gehe in Richtung Bus. Im Rücken spüre ich nicht nur die Sonne, sondern auch die stechenden Blicke von Dietrich Schuster.
 
Auf der Rückfahrt kreisen meine Gedanken ständig um die Glitzeruhr. Warum liegt in seinem Rucksack die Uhr von Gustus? Warum braucht Dietrich Schuster eine Pistole und noch dazu um Urlaub? Eine schlimme Vermutung ergreift mich. Ich will sie aber nicht wahrhaben und versuche mich von diesen Gedanken abzulenken, aber ohne Erfolg. Immer wieder beschäftigen sich meine Gedanken mit diesen Fragen. Auch noch auf dem Rückflug mit der Cessna nach Fuerteventura und der anschließenden Taxifahrt zum El Azor kann ich mich von meinen Vermutungen nicht befreien.
 
Um mich zu beruhigen, suche ich nach harmlosen Erklärungen. Vielleicht gehört diese Uhr gar nicht Gustus, sondern Dietrich Schuster? Vor meinen Augen sehe ich, wie Dietrich mit seiner rechten Hand die Brieftasche aus seinem Rucksack nimmt. Ich sehe auch die Schürfwunde auf dem Handrücken und seine Armbanduhr am rechten Arm. Mein Atem stockt. „Das er eine Reserveuhr im Rucksack hat ist unwahrscheinlich. Es muss Gustus Uhr gewesen sein, die aus dem Rucksack rutschte. Hätte Dietrich auch so eine Glitzeruhr getragen, so wäre mir das bestimmt schon vorher aufgefallen. Und welche Bedeutung soll ich der Pistole beimessen?“ Erst jetzt bemerke ich den imaginären Todesgeruch.
 
Der Ärger über meine Feigheit überfällt mich. „Hätte ich Dietrich gleich angesprochen und nach der Uhr gefragt, dann hätte es auch sicherlich für alles eine einfache Erklärung gegeben und ich müsste mich nicht mit schrecklichen Vermutungen Quälen. Aber wenn es wirklich die Uhr von Gustus war, die ich gesehen habe? Hat Gustus ihm die Uhr zur Aufbewahrung gegeben? Unsinn! So eine wertvolle Uhr würde er nie einer fremden Person geben. Und woher kam die Schürfwunde auf seiner Hand? War er wirklich nur ausgerutscht, oder fand vielleicht ein Zweikampf statt? Aber warum, wo ist das Motiv? Vielleicht wegen der Uhr? Nein, auch das ist Unsinn! Es muss ein Motiv geben. Ohne Motiv gibt es auch keinen Mord!“ Bei diesem Gedanken erschrecke ich und merke, dass meine Knie weich werden. „Vielleicht ist Dietrich nur ein kleiner Taschendieb und hatte es auf Gustus Uhr abgesehen. Aber wie kann man unauffällig so eine Armbanduhr vom Arm entfernen, ohne bemerkt zu werden? Ich glaube, es war doch gut, dass ich Dietrich nicht nach der Glitzeruhr gefragt habe. Ob er merkte, dass ich sie gesehen habe? Bestimmt geht er davon aus, dass ich nicht nur die Uhr, sondern auch die Pistole gesehen habe. Werde ich nun von ihm Besuch erhalten? Und wird der Besuch für mich ungesund sein? Er weis dass wir, Gustus, Heidi und ich uns im Urlaub angefreundet haben. Und warum hat er mich nicht angesprochen und Bedauern ausgedrückt wegen dem Fernbleiben von Gustus und Heidi. Vielleicht sogar einige aufmunternde Worte gesagt. Er hat das nicht getan, aber warum nur?“
 
Der Taxifahrer fährt sehr schnell und an der Landschaft erkenne ich, dass ich bald beim El Azor sein werde. Der Sonnenuntergang hat sich schon vollzogen, aber die wenigen Wolken am Himmel sind noch rötlich gefärbt. Mit quietschenden Reifen hält das Taxi in der Vorfahrt. „Er muss es ja wirklich sehr eilig haben. Vielleicht wartet schon seine Frau mit dem Abendessen auf ihn?“ Ich gebe ihm ein großzügiges Trinkgeld und gehe mit meinem Rucksack zur Rezeption.
 
„Si Senor?“
„Ich hätte gerne den Schlüssel für das Zimmer 801. Wissen Sie, ob die Gäste von dem Zimmer 802 schon da sind? Wir hatten heute einen gemeinsamen Ausflug, uns dann aber getrennt.“
„Uno Momento por favor, nein, sie scheinen noch nicht hier zu sein. Die Schlüssel liegen noch in ihrem Fach.“
„Gracias.“
Ich gehe zur Bar, bestelle mir ein kühles Bier und setze mich vor dem  Panoramafenster in einen Clubsessel. Vor mir liegt das weite Meer. „Jens“, sage ich zu mir, „du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Mit Sicherheit wird es für alles eine einfache Erklärung geben. Bestimmt sitzen beide in einem anderen Bus und fahren gerade in das Tal, um sich für die Nacht ein Hotelzimmer zu suchen. Morgen werden sie dann einen Flug nach Fuerteventura buchen und am spähten Nachmittag wieder hier im Hotel sein. Hmm, wie gut das kühle Bier schmeckt.“ Das leere Glas stelle ich vor mir auf den Tisch und stehe, nun ruhiger als vorher, auf, um zu meinem Zimmer zu gehen.
 
Nach einer erfrischenden Dusche und dem Abendessen bewege ich mich zum Strand. Inzwischen ist es dunkel geworden. Der Vollmond scheint und der Sand reflektiert das kalte Licht. Es ist Ebbe und die Brandung 500 Meter entfernt. Während der Wind durch meine Haare streift, lass ich den Tag an mir vorbei ziehen. Ich denke an das frühe Aufstehen, an die Taxifahrt zum Flugplatz...
 
Dann drehe ich mich um, um zurück zum Hotel zu gehen, sehe in einiger Entfernung einen Schatten der schnell hinter den Dünen verschwindet. „Ich bin nicht der einzige nächtliche Strandwanderer“, denke ich und beschleunige meine Schritte, denn Ich fühle mich beobachtet.
 
Plötzlich macht es „Plopp“, als ich im Hotelzimmer den Korken aus der Rotweinflasche ziehe. Auf dem Balkon knipse ich die Lampe an, stelle das Rotweinglas auf den Tisch und das kleine Radio an. Leise ertönt spanische Musik. Das Skizzenbuch liegt vor mir auf dem Tisch und der Wind schlägt eine freie Seite auf. Meine Gedanken sind bei Lukas in Zürich. „Es ist schön, einen guten Freund zu haben, der mich auch in meinem Zeitungskiosk vertreten kann, wenn ich verreist bin.“ Mir fallen die Dinge ein, die er mir vor zwei Wochen in einem Cafe erzählte. Ich fange an zu schreiben:
 
 
Die Toilettentür
 
Gemütlich saß ich mit einem Freund an einem Tisch, als er sagte:
„Das muss ich dir noch unbedingt erzählen. Gestern Abend, ich saß im Flugzeug…
…plötzlich wurde die Tür von der  Pilotenkanzel aufgerissen, der Pilot stürzte heraus, rannte an mir mit einem starren Blick vorbei und verschwand auf der Toilette!
…zuerst dachte ich, irgendetwas ist kaputt, aber nein, er ging zur Toilette, schloss die Tür ab und war nicht mehr zu sehen“.
„Na und? Wenn ich auf die Toilette gehe, schließe ich auch immer die Tür ab. Nur die alten Römer taten das nicht, aber die hatten ja auch keine Flugzeuge“.
„…er hätte ja auch zwei Wochen früher gehen können, aber nein, er wartet gierig bis zum Landeanflug, um erst dann zu gehen..“
Ich rannte den Gang entlang, bis zur Toilette…
…nun fing der Pilot von innen an zu klopfen. „Sollten das Morsezeichen sein?“, dachte ich und morste zurück: „Sofort aufmachen“. Der Pilot fing an zu rufen…
…hat der Pilot vielleicht das Fenster geöffnet und ruft nun aus dem Fenster, weil das Funkgerät nicht funktioniert?
…hoffentlich fällt dem Piloten nicht ein, dass er vielleicht auch noch Rauchzeichen geben könnte.
…plötzlich hörte ich wieder ein Klopfen an der Toilettentür.
 „Morsezeichen an den Tower?“, dachte ich. Die Tür wurde von innen aufgebrochen, kippte und der Pilot rannte in seine Kanzel.
Lachend stand nun mein Freund auf, verabschiedete sich von mir und ging.
 
Nun gehe auch ich, nicht aus dem Hotel, sondern in mein Bett, in dem mich Träume von Toilettentüren nachts begleiten.
 
 
 
 
Die Bestätigung
 
 
Montag, 22. Oktober
 
Dieser Tag verläuft ruhig. Als am späten Nachmittag Gustus und Heidi noch immer nicht im Hotel auftauchen, lege ich mich an den Pool, beobachte die Gäste und entdecke auf der Liege neben mir eine kanarische Inselzeitung, die jemand liegengelassen hat. Zuerst lese ich einige Kleinanzeigen durch, Hinweise zu verschiedenen Restaurants, die Gezeitendaten und kam dann zu dem Nachrichtenteil. Meine Augen bleiben an einer Überschrift hängen:
 
„Urlauber auf dem Tide verunglückt“ und meine Augen werden größer, als ich weiter lese. „Gestern Abend wurden Frau und Herr A. aus Berlin tödlich verunglückt auf dem Teide gefunden. Vermutlich sind sie bei einer Wanderung von einem Felsen abgestürzt. Die genaue Todesursache kann erst nach einer Obduktion festgestellt werden.“ Ich lege die Zeitung zur Seite und spüre einen Schock in mir. „Also hat Dietrich Schuster doch etwas damit zu tun? Ist er der Mörder?“
 
Sofort kommt mir der Gedanke, auf mein Zimmer zu gehen, um konzentrierter nachdenken zu können. Auf dem Weg zur Rezeption sehe ich schon von weiten zwei Polizisten von der Guardia Urbana dort stehen.
 
„Könnte ich bitte den Schlüssel für das Zimmer 801 haben“, frage ich mit weichen Knien den Hotelangestellten. Er reicht mir den Zimmerschlüssel und sagt:
 
„Wir haben sie öfters zusammen mit Frau und Herrn Arik gesehen. Die beiden Herren neben ihnen möchten sich gerne mit Ihnen unterhalten. Kommen sie doch bitte mit in unser Büro.“
 
Das Büro macht einen aufgeräumten Eindruck. „Bitte nehmen sie Platz“, sagt der Hotelangestellte zu mir und den beiden Polizisten, zeigt auf einen Besprechungstisch mit vier Stühlen und verlässt den Raum.
 
„Sind sie Herr Jens Lupa?“, beginnt einer der beiden das Gespräch.
„Ja, mein Name ist Jens Lupa.“
„Kennen sie Herrn Gustus und Frau Heidi Arik aus Berlin?“
„Ja, wir haben uns im Urlaub angefreundet und waren gestern gemeinsam auf Teneriffa, auf dem Tide. Vorhin habe ich in der Inselzeitung die schreckliche Nachricht von dem Unglück gelesen. Wie konnte das nur passieren?“
„Unser aufrichtiges Beileid. Inzwischen haben wir das Ergebnis von der Obduktion, das Zimmer untersucht und die persönlichen Sachen von dem Ehepaar Arik für eine weitere Untersuchung auf das Polizeirevier gebracht. Aus dem Obduktionsergebnis geht hervor, dass es kein Unfall war. Beide Personen sind zwar von einem Felsen abgestürzt, aber das war nicht die eigentliche Todesursache. Herr Arik wurde vorher durch einen Kopfschuss getötet und Frau Arik wurde mit einem Stahldraht erdrosselt.“
 
Ich fühle, wie diese Nachricht mich erschüttert und lähmt.
 
„Bitte beschreiben sie uns alle Aktivitäten, die sie auf dem Teide unternommen haben.“
 
Als ich mit meinem Bericht fertig bin, sagt der Polizist: „Alles was sie sagten, stimmt mit dem überein, das wir von dem Busfahrer und der Reisebegleiterin gehört haben. Und nun erzählen sie uns bitte alles was sie hier erlebt haben. Von ihrer Ankunft auf Fuerteventura bis heute.“
 
Nach meinem Bericht, in dem ich auch alles über Dietrich Schuster erwähnte, machen sich beide Polizisten einige Notizen.
 
Beide Polizisten stehen auf, verabschieden sich von mir, als einer von ihnen sagt: „Und sie wissen wirklich nicht, in welchem Hotel Herr Schuster wohnt?“
 
„Nein, wirklich nicht.“
 
Nachdem die Polizisten den Raum verlassen haben, gehe ich auf mein Zimmer, setze mich auf dem Balkon an den Tisch und versinke in meinen Gedanken.
 
Vor einer Stunde hatte Alfredo seinen Koffer gepackt, die Hotelrechnung bezahlt und einen neuen Mietwagen gebucht auf den Namen Wolfgang Andersson, aus München. Er fährt in nördliche Richtung, biegt in eine seitlich Piste ein und hält an einer einsamen Stelle an, um den Pass mit dem Namen Dietrich Schuster zu zerschneiden. Als er die Schnipsel anzündet, betrachtet er die Flammen, bis sie verlöschen und der Wind die Asche zerstreut. Dann demontiert er die benutzte Mk XIX und vergräbt die Einzelteile an unterschiedlichen Stellen im Sand der Dünen.
 
„So, das wäre geschafft. Zu dumm auch, dass mir die Uhr aus dem Rucksack gerutscht ist. Bestimmt hat Jens die Uhr erkannt. Gerne würde ich sie behalten, aber unter diesen Umständen ist es wohl besser, wenn ich mich auch von ihr trenne.“ Er holt die Uhr aus der Rucksacktasche und vergräbt auch sie tief im Sand. „Eigentlich könnte ich mir nun einen Flug nach Rom buchen und dann meine Freunde anrufen, damit sie mich vom Flugplatz abholen. Aber wäre es nicht besser, vorher auch Jens ins Paradies zu schicken? Er weis zuviel und könnte mir daher gefährlich werden.“ Alfredo setzt sich in sein Auto und nimmt sich einen kräftigen Schluck aus der Mineralflasche. „Und wie sieht mein Plan aus? Gleich hinter dem El Azor befindet sich die Ferienanlage Esmeralda. Zu Fuß sind beide Anlagen nur dreißig Minuten von einander entfernt. Also ein idealer Standort, um meinen Plan zu realisieren.“ Alfredo startet den Motor, fährt über den weichen Sand auf die Hauptstraße, in Richtung Norden. Nach einigen Minuten sieht er auf der rechten Seite das Hotel El Azor. Und nach einigen weiteren Minuten biegt er rechts ab und hält vor der Vorfahrt vom Esmeralda. Er geht durch die großzügig gestaltete Eingangshalle auf die Rezeption zu. „Guten Tag, mein Name ist Andersson. Wolfgang Andersson“ und legt dabei lässig seinen Pass auf den Tresen. „Ich hätte gerne für eine Woche ein Zimmer bei Ihnen. Ist noch eines frei?“
„Haben sie ein Zimmer vorbestellt?“
„Nein. Eigentlich wollte ich nur einen Tag hier bleiben. Ich bin aus beruflichen Gründen hier und war zu einer Besprechung eingeladen. Aber wenn ich schon hier bin, dann möchte ich diese wunderschöne Insel auch genießen.“
Der Hotelangestellte schaut auf seinen Computer und sagt, ohne aufzublicken: „Wir befinden uns nicht in der Ferienzeit, daher sind noch viele Zimmer frei. Diese Anlage besteht aus verschiedenen Häusern. Sie können ein Zimmer hier im Haupthaus haben, oder eins, gleich neben dem Pool. In den unteren Häusern, die sich fast am Strand befinden, sind auch noch einige Zimmer frei.“
„Ich liebe den Strand. Daher würde ich mich freuen, wenn ich ein Zimmer in den unteren Häusern haben könnte.“
 
Alfredo füllt das Anmeldeformular aus, erhält den Zimmerschlüssel und eine kurze Wegbeschreibung. Das Zimmer ist im spanischen Landhausstil eingerichtet und von seiner Terrasse hat er einen direkten Blick auf den Strand und das Meer.
 
 
 
 
 
Nicht immer geht das Licht aus
 
 
Dienstag, 23. Oktober
 
Nach dem Frühstück nehme ich meinen bereits gepackten Rucksack, um zum Strand zu gehen und finde auch gleich ein einsames, schattiges Plätzchen. Entspannt lege ich mich auf mein Handtuch und frage mich, warum mussten die beiden sterben?
 
„Ich bin mir ganz sicher, dass Dietrich Schuster der Mörder ist. Jetzt verstehe ich auch, warum er sie so lange beobachtet hat. Er suchte nach einer günstigen Gelegenheit, um sie töten zu können. Es war also auch kein Zufall, dass er auf dem Teneriffa- Ausflug im gleichen Bus wie wir saß. Und wenn er von Anfang an schon vorhatte, seinen Plan zu realisieren, dann hat er sich bestimmt bei uns mit einem falschen Namen vorgestellt. Daher wird die Polizei auch keine Chance haben, ihn zu finden. Er scheint sehr clever und kaltblütig zu sein. Aber warum das alles? Wo ist das Motiv?
 
Es könnte im beruflichen Bereich von Gustus zu finden sein. Vielleicht hat er einen Bauherren verärgert? Nein, einer seiner Bauherren würde bestimmt nicht nach Fuerteventura fliegen, um ihn zu töten. Verärgerte Bauherren nehmen sich Anwälte, um ihre Interessen durchsetzen zu können. Aber wenn es kein Bauherr getan hat, dann könnte es jemand sein, der es im Auftrag eines Bauherrn getan hat. Ein Auftragskiller. Aber so etwas gibt es doch nur in Italien, oder? „Dieses Verbrechen hat einen Gegner und der Bin ich.“
 
Plötzlich denke ich an seine Geschäftsbesprechung. Paradieso! Ja, dass könnte es sein. Er plante ein Projekt auf Sizilien. Gustus muss irgendetwas auf Sizilien falsch gemacht haben und als Geschenk setzt man ihm einen Auftragskiller in den Nacken. Damit es keine Zeugen gibt, musste auch Heidi sterben. So könnte es gewesen sein. Auf solche Geschenke würde ich sehr gerne verzichten. Kann es sein, dass auch ich noch von diesem Todesengel Besuch zu erwarten habe? Ich muss vorsichtig sein. „Und nun brauche ich dringend eine Abkühlung, nicht wegen meinen Vermutungen, sondern wegen der Sonne.“
 
Es macht mir immer wieder Spaß, in der Brandung unter den Wellen durchzutauchen. Jetzt lasse ich mich im Wasser treiben, so, dass nur mein Kopf sich über dem Wasser befindet. Ahhh, ist das angenehm. Bei jeder Welle werde ich angehoben, sehe den Strand vor mir, um dann anschließend im Wellental nur noch Wellen zu sehen. Im Wellental komme ich mir fast so vor, wie ein Schiffsbrüchiger, oder wie Robinson Crusoe? Jetzt werde ich wieder angehoben, aber was ist das? Ich stutze. Auf dem Strand geht jemand in der gleichen Körpergröße und mit den Bewegungen wie …
 
Wieder im Wellental, warte ich auf die nächste Welle, um angehoben zu werden. Und da kommt sie ja auch schon.
 
…wie Dietrich Schuster! Er hat aber eine grüne Freizeitkleidung an und trägt eine Sonnenbrille und eine grüne Mütze. So etwas würde er aber nie anziehen. Dazu ist er viel zu eitel, oder vielleicht doch? Als Tarnung? Und wieder fange ich an nachzudenken. Er kommt von rechts und geht in Richtung El Azor. Rechts befindet sich die Ferienanlage Esmeralda. Sucht er mich vielleicht und deswegen die Verkleidung? Jens, du siehst Gespenster. Pass auf, dass du keinen Sonnenstich bekommst.
 
Ich gehe an den Strand zu meinem Handtuch. Von dem grünen Marsmännchen ist weit und breit nichts zu sehen. Frierend trockne ich mich ab und lege mich in die Sonne, die wärmenden Strahlen und den warmen Sand unter mir genießend.
 
„Jetzt bin ich schon acht Tage hier und habe noch keine Urlaubskarte an meine Freunde geschrieben. Das muss ich heute Abend nachholen“, sage ich leise zu mir und greife nach der Mineralwasserflasche im Rucksack. Der Erfrischende Schluck tut mir gut. Das grüne Marsmännchen habe ich schon längst vergessen, als ich mein Skizzenbuch aufschlage und zu schreiben beginne:
 
 
Vivitur parvo bene (glücklich lebt man mit wenigem)
 
Als ich, inzwischen müde vom Wandern, auf dem schmalen Pfad um die hohen Felsen ging, konnte ich endlich das Haus sehen. Nun hatte ich mein Ziel erreicht. Den schweren Rucksack nahm ich ab, stellte ihn an den Lavendelstrauch und setzte mich auf den daneben liegenden Stein. „Nach dem langen Marsch habe ich mir das Ausruhen verdient, oder?“, sagte ich zufrieden, entspannt und lächelnd.
 
Das war ein langer Reisetag gewesen. Nach der Landung in Marseille nahm ich gleich die Fähre und kam im Süden von Korsika an, in Propriano. Dort schnappte ich mir ein Taxi und weiter ging es bis nach Bonifacio, der südlichsten Stadt auf Korsika. Mit der anschließenden, fast zweistündigen Wanderung auf schmalen Pfaden erreichte ich mein Ziel, ruhte mich aus und betrachtete die Landschaft.
 
Im Hintergrund stand dass von Wolken eingehüllte Hochgebirge, vor mir ein altes Haus, aus dem gleichen Felsgestein errichtet, aus denen auch rechts vor mir die steilen Klippen waren. Das rötliche Ziegeldach war mit Moos besetzt, die Tür stand offen und bewegte sich leicht im Wind.
 
Die neben dem Haus stehenden Zypressen, Ölbäume, Platanen und Dattelpalmen warfen ihren Schatten auf die im Vordergrund wachsenden Ginster-, Myrte- und Lavendelsträucher.
 
Das laute Donnern der Brandung klang noch nicht bedrohlich, sondern wie Musik…
 
 
Als ich diese Geschichte beendet habe, packe ich meine Sachen ein, klopfe mir den Sand von den Beinen und trabe zum El Azor. Die Sonne sticht gnadenlos auf meinen Rücken. Unterwegs denke ich daran, als ich vor langer Zeit zum ersten Mal im El Azor war. Ich kann mich noch genau daran erinnern. Es war an einem frühen Nachmittag. Das Wetter war traumhaft schön. Ich saß an der Hotelbar auf einem Barhocker und stillte meinen Durst mit Mineralwasser (weder geschüttelt, noch gerührt und manchmal sehe ich auch nicht so aus, als ob mich das interessieren würde). Ich war fast der einzige Gast. Neben mir saß ein Fremdenlegionär. Wir unterhielten uns, als plötzlich die Luft vibrierte. Ein schrilles Summen, schnell anschwellend kam immer näher und wurde kreischend lauter und lauter. „Eine Granate“, dachte ich und blieb erstarrt auf dem Barhocker sitzen, während der Fremdenlegionär sich mit einem Sprung unter den Tisch warf. Wir beide warteten angsterfüllt auf den Explosionseinschlag, aber er kam nicht. Wenige Sekunden später öffnete sich unerwartet eine Toilettentür und wir beide erkannten: das Geräusch konnte nur von der Toilettenspülung gekommen sein. Grinsend sah ich in die Augen vom Fremdenlegionär und er in meine.
 
Nun habe ich endlich die Restaurantsterrasse erreicht und befriedige gierig meinen Hunger. Aber ich fühle mich unwohl. Der salzige Sand kratzt unter dem Hemd auf dem Rücken. Und je mehr er kratzt, desto größer wird die Sehnsucht nach einer Dusche.
 
 
Im 8. Stock, vor dem Apartment 801 bleibt ein Herr in einer grünen Freizeitkleidung stehen. Er befindet sich alleine auf dem Flur, holt etwas aus seiner Tasche und öffnet nach einigen Sekunden die Tür. Im Zimmer ist Niemand. Die gläserne Schiebetür zum Balkon ist geöffnet und der Vorhang flattert im Wind. Er schließt die Tür hinter sich zu und die nun herrschende Stille kommt ihm angenehm bekannt vor, so wie in einer Grabkammer. Neben der Eingangstür stehen zwei raumhohe Garderobenschränke, aus dunkelbraunem Holz mit Lamellentüren. Die Lamellen bewirken eine ständige Belüftung des Schrankinnenraumes. Alfredo öffnet eine Schranktür, schiebt die dort hängenden Hemden zur Seite, steigt in den Schrank und lässt die Tür leicht angelehnt. Durch die Schlitze der Lamellen kann er etwas vom Zimmer erkennen. Er schraubt den Schalldämpfer auf seine Mk XIX und wartet. „Wer warten kann, der kann auch etwas.“
 
Nach dem Essen stehe ich vor der geschlossenen Aufzugstür, wartend auf den Aufzug. „Unter die Dusche, dann wieder nach unten, Postkarten kaufen und an der Bar, vor dem Panoramafenster an meine Freunde schreiben“, denke ich ungeduldig. Als sich die Teleskoptür öffnet, steige ich in den leeren Aufzug: „Hoffentlich bleibt er nicht stecken“ und erinnere mich daran, dass ich vor langer Zeit in einem Büro arbeitete und dort im Aufzug stecken geblieben bin. „Das wäre doch ein Thema für eine neue Geschichte.“ Im achten Stock angekommen, gehe ich über den weichen Teppich im Flur zu meinem Apartment, schließe die Tür auf und stürze in das Badezimmer, um zu duschen. Abgeduscht und angezogen begebe ich mich auf den Balkon, um das nasse Handtuch zum Trocknen aufzuhängen.
 
Langsam, sehr langsam schiebt Alfredo den Schalldämpfer mit der Mk XIX durch den Schlitz der angelehnten Garderobenschranktür. „Nur noch wenige Sekunden, mein Freund und auch Dein Licht geht aus. Deine Freunde im himmlischen Paradies warten schon auf dich. Ich freue mich schon darauf, deine angsterfüllten Augen zu sehen.“  
 
Plötzlich klingelt es an der Tür. Ich öffne sie und vor mir steht die Putzfrau. Ich gehe aus und die Putzfrau in das Zimmer.
 
Als alle acht Postkarten beschrieben wurden, erhebe ich mich aus meinem gemütlichen Sessel und sehe durch das Panoramafenster einen Mann zum Strand gehen, der eine grüne Freizeitkleidung an hat, eine grüne Mütze und eine Sonnebrille trägt. Ich renne zur Rezeption, werfe die Postkarten nicht weg, sondern in den Briefkasten und eile zum Strand.
 
Am Strand blicke ich aufgeregt nach links, in Richtung der Ferienanlage Esmeralda. Vereinzelt laufen einige Feriengäste am Strand entlang. Und da, ist da nicht ein kleiner grüner Punkt, der sich von mir weg bewegt? Ich renne in Richtung grüner Punkt. Als ich ihn etwas eingeholt habe, bleibe ich stehen, ziehe meine Hose und das Hemd aus und nur mit der Badehose bekleidet, gehe ich schnellen Schrittes weiter. „Wenn der Grüne sich umdrehen sollte, so sehe ich für ihn wie die anderen Badegäste bei dieser Entfernung aus. Er wird mich nicht erkennen.“ Und tatsächlich, er dreht sich mehrmals um, jedoch ohne Notiz von mir zu nehmen. „Wenn er sich umdreht, dann doch nur, weil er einen Verfolger hinter sich vermutet, oder?“
 
Bald hat er die Nähe von Esmeralda erreicht, klettert die Dünen links hoch und verschwindet aus meinem Gesichtsfeld. Nun fange ich an zu rennen, habe die Düne erreicht, klettere sie hastig hoch und sehe gerade noch, wie die grüne Gestalt auf die Terrasse eines Hauses der Anlage zu geht. Schnell lasse ich mich fallen und bleibe im Sand, hinter einem großen Stein liegen. Der Schweiß läuft mir in die Augen. Vorsichtig hebe ich meinen Kopf und sehe, dass er die Terrassentür öffnet. Spontan ducke ich mich, robbe rückwärts im Sand, die Düne runter und renne in Richtung Gorriones. Völlig außer Atem, hechelnd, bleibe ich beim Hotel stehen, werfe meine Hose und das Hemd auf eine Liege und springe in den Pool.
 
„Ahhh, tut das gut!“ Das Wasser ist angenehm warm. Die Palmenblätter biegen sich über mir im Wind, ich tauche unter und eine Idee taucht in mir auf. „Warum habe ich nicht gleich daran gedacht. Sicher ist sicher.“ Nach einigen Runden im Wasser gehe ich aus dem Pool, trockne mich ab, ziehe meine Sachen an und bewege mich zur Rezeption.
 
„Si Senior?“
„Ich habe ein Zimmer mit der Nummer 801. Sie kennen die unglückliche Geschichte von meinen Freunden. Sie hatten das Zimmer 802. Ich möchte nicht ständig an das Unglück erinnert werden, wenn ich an dem Zimmer 802 vorbei gehe. Könnten Sie mir bitte ein anderes Zimmer geben?“
„Uno Momento, wir haben direkt unter dem Zimmer 801 ein freies. Würde das Zimmer 701 ihnen zusagen?“
„Aber gerne“
 
Lange brauchte ich nicht, um meine Sachen zu packen und eine Etage tiefer zu ziehen.
 
„Jetzt weis ich ja, wo dieser Kerl wohnt. Wenn ich früh aufstehe, dann kann ich sein Apartment untersuchen, nachdem er es verlassen hat, um zu Frühstücken.“ Dann denke ich an die Geschichte, die mir im Aufzug einfiel, schlage mein Skizzenbuch auf und beginne zu schreiben:
 
 
Der Aufzug
 
Um 20:31 Uhr verließ ich das Büro, schloss die Tür ab, stellte die Alarmanlage scharf und drückte auf den Aufzugsknopf. Es dauerte eine Weile, bis der Aufzug kam, da ich mich in der obersten Etage befand. Endlich öffneten sich die Teleskoptüren, ich stieg ein, drückte auf den Knopf „EG“ und sah zu, wie sich die Türen schlossen. Der Aufzug fuhr nach unten und auf der Anzeige über der Tür konnte ich ablesen, in welcher Etage er sich gerade befand. Er war sehr klein, gerade mal 80 / 80 cm. Also hatte dieser Aufzug einen großen Vorteil: umfallen konnte man in ihm nicht…
 
 
 
 
Der Schutzengel
 
 
Mittwoch, 24. Oktober
 
Der Wecker klingelt pünktlich um 6 Uhr. Was sollte er auch sonst tun? Ich gehe auf den Balkon, strecke mich und blicke müde in die Dunkelheit. Die warme Dusche tut mir gut. Nach dem Frühstück, das aus etwas Obst besteht, welches ich mir gestern vom Büffet mitgebracht habe, packe ich meinen Rucksack und marschiere am Strand entlang in Richtung Sonnenaufgang und Esmeralda. Meine Schuhe sinken in den nassen Sand ein und hinterlassen tiefe Abdrücke. In der Nähe von Dietrichs Terrasse setzte ich mich so in einen Hauseingang, dass ich die Terrassentür gut beobachten kann, aber nicht bemerkt werde. Einige Frühaufsteher gehen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Es ist mehr als eine Stunde vergangen, als plötzlich die Vorhänge hinter den großen Glasscheiben zur Seite gezogen werden, die Tür sich öffnet und Dietrich, nur mit einer Badehose bekleidet, auf die Terrasse tritt. Das ist wirklich Dietrich, ich erkenne ihn genau, obwohl er im Schatten steht. Mein Puls schlägt schneller und mein Kopf bewegt sich ruckartig zur Gebäudeecke, so dass ich ihn gerade noch beobachten kann.
 
Dietrich nimmt das blaue Handtuch von der Wäscheleine und geht zurück in sein Zimmer. Die Tür bleibt offen stehen, die Vorhänge bewegen sich leicht und irgendwo zwitschern Vögel. Schon nach einigen Minuten verlässt er, inzwischen angezogen, das Apartment, zieht die Tür hinter sich zu und geht in entgegen gesetzter Richtung von mir weg. Auch dreht er sich nicht um, er muss sich hier sehr sicher fühlen. Die Palmenblätter flattern, wie mein Herz, als ich aufstehe und langsam auf die Terrasse zugehe. Nun hole ich mein Taschenmesser aus dem Rucksack, drehe mich kurz um, fühle mich nicht beobachtet und drücke die Klinge in den Türspalt, um den Schnapper zur Seite zu schieben. Fast geräuschlos lässt sich dir Tür öffnen und ich stehe auch schon in seinem Zimmer.
 
„Hoffentlich hat er nichts vergessen und kommt nicht gleich zurück“, denke ich. Mein Herz schlägt wild, meine Augen durchstreifen hastig das aufgeräumte Zimmer. Vor dem Garderobenschrank stehen zwei gepackte Koffer. Auf den Kofferaufklebern lese ich den Name Wolfgang Andersson. Ist das sein neuer Name? Der Zielflughafen ist Rom. Rom! Also nicht sehr weit weg von Sizilien. „Ich wette um alles in der Welt, dass Dietrich, beziehungsweise Wolfgang ein Italiener ist. Er hat seinen Auftrag erledigt und fliegt nun zurück.“ Eigentlich wollte ich noch seinen Rucksack durchsuchen, der neben den Koffern steht. Aber abgelenkt durch die rasenden Gedanken in meinem Kopf habe ich das vergessen. „ Wenn er sich auf die Rückreise vorbereitet, dann betrachtet er mich nicht mehr als sein weiteres Opfer. Ich habe mich hier also mit meinen Vermutungen getäuscht. Das ist gut so. Am liebsten würde ich die Polizei rufen, für meinen Verdacht habe ich aber keinerlei Beweise. Ob ich einen Koffer öffnen soll, um…?“ Plötzlich höre ich hinter mir auf der Terrasse Schritte, erschrocken drehe ich mich um, sehe einen sich bewegenden Schatten vor den geschlossenen Gardinen und gehe schnell in das dunkle  Badezimmer. Dort bleibe ich  hinter der geöffneten Tür stehen. Das Geräusch eines Schlüssels, das in das Türschloss gesteckt wird dringt zu mir und der Luftzug der geöffneten Tür. Nun höre ich das Tapsen von Schritten im Wohnzimmer. „Ich bin doch ein Idiot“, schießt es mir durch den Kopf. „Das Apartment hat doch noch einen zweiten Ausgang, auf der Innenseite zum Flur hin. Warum bin ich nicht durch diesen Ausgang geflüchtet? Was mache ich, wenn er mich hier entdeckt? Soll ich dann…?“
 
Die Schritte kommen näher. Durch den Türspalt sehe ich Dietrich. Er zieht sich aus und legt seine Kleider auf den Koffer. Mit seinem muskulösen, durchtrainierten Körper möchte ich nicht in Kontakt kommen. „Wird er vor der Abreise noch duschen?“. Voller Todesangst halte ich meinen Atem an. Nur mit einer Badehose bekleidet geht Dietrich zur Terrassentür. Ich höre ein leises Klicken und die Tür ist zu. Es ist mäuschen still. Noch eine Sekunde und dann gehe ich leise zur Flurtür und drücke die Klinke runter. Die Tür öffnet sich. Am Flurende ist  eine großzügige Treppenanlage. Auf meiner linken Seite führen die Stufen runter in Richtung Atlantik und auf der rechten Seite zum Pool. „Bestimmt wird er zum Meer gegangen sein.“ Schnell gehe ich die Treppe zum Pool hoch. Lautes Kindergeschrei und die blendende Sonne strömt mir entgegen. Der Pool liegt schon hinter mir und ein gläserner Aufzug bringt mich hoch zur Rezeption. Während der Fahrt nach oben sehe ich das Meer und den unendlichen Horizont, und unter mir plötzlich einen Mann in einer Badehose, der hochblickt und mich anstarrt. Dietrich!
 
Der Aufzug hält auf der Rezeptionsebene. „Soll ich ein Taxi bestellen?“. Eilig renne ich zur Rezeption, sehe, dass vor der Einfahrt gerade ein Taxi hält und eine ältere Frau einsteigt. Schon stehe ich neben dem Taxi, reiße die Tür auf und setze mich neben die mich überrascht anguckende Dame. Sie macht den Mund auf, doch ich bin schneller: „ Entschuldigung, aber ich warte schon eine halbe Stunde auf dieses Taxi. Sicherlich haben wir den gleichen Weg und ich bezahle auch.“
Das Taxi setzt sich in Bewegung.
„Ich fahre zum Stella Canaris, möchten sie denn auch dort hin?“, sagt die Dame und schaut mich ungläubig an.
„In Stella Canaris war ich schon sehr oft. Dort ist es wirklich traumhaft. Besonders die vielen freilaufenden Pfauen begeistern mich jedes Mal. Fahren sie auch wegen den Pfauen dort hin?“
„Nein, ich besuche dort meine Tochter. Auch sie ist  freilaufend“, dabei lacht sie. „Aber die Pfauen gefallen mir auch sehr gut.“
„Ich werde etwas früher aussteigen, weil ich noch zum El Azor muss. Sie haben aber doch nichts dagegen, wenn ich den Taxifahrer bezahle?“
Lächelnd sieht sie mich an: „Aber ich bitte Sie. Gerne nehme ich sie mit, aber bezahlen werde ich.“
„Dann bezahle ich das nächste Mal“, sage ich schmunzelnd, verabschiede mich und steige beim El Azor aus.
 
Gerade habe ich mein Zimmerschlüssel an der Rezeption abgeholt, gehe zum Aufzug, als der Hotelangestellte mich zurück ruft: „Haben sie nicht gestern das Zimmer von 801 nach 701 gewechselt?“
„Ja, warum?“
„Sie haben wirklich einen guten Schutzengel.“
„Ja, ich weis. Wir fahren immer gemeinsam in den Urlaub. Aber warum sagen Sie mir das?“
„Nun, wie soll ich ihnen das sagen? Die Polizei war auch schon hier. Gestern Abend zog ein neuer Gast in das Apartment 801. Die Putzfrau fand ihn heute Morgen in seinem Bett.“
„Ich schlafe auch am liebsten im Bett. Hat er denn verschlafen?“
„So kann man es auch sagen. Er schläft noch immer. Er wurde erschossen. In seinem Bett. Die Polizei tippt auf einen Raubüberfall. Es wurde aber nichts gestohlen. Vermutlich wurde der Einbrecher bei seiner Tat gestört.“
Erschrocken frage ich ihn: „Soll ich mein Zimmer wieder wechseln?“
„Wenn sie es wechseln, werden wir es mit Sicherheit nicht weiter vermieten, sonst haben wir ja bald keine Gäste mehr“, sagt er und wendet sich seinem Computer zu.
 
Die Bar befindet sich auf der gleichen Etage mit der Rezeption. Auch der Barhocker, auf dem ich sitze. Und zum Glück auch das große Glas Cognac, das vor mir steht.
 
Zu dieser Tageszeit bin ich der einzige Gast in der Bar und in Gedanken lass ich die Eindrücke der letzten Stunden vorbeiziehen. „Ich habe ein unbeschreibliches Glück gehabt. Was wäre passiert, wenn Dietrich in das Badezimmer gekommen wäre und mich entdeckt hätte?“ Ich bemerke meine Gänsehaut und verzichte darauf, mir diese Frage zu beantworten. Dann fällt mir ein Satz ein, den ich vor langer Zeit gehört habe: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um und ich nehme mir vor, vorsichtiger zu sein.
 
„Der nächtliche, unerwartete Besuch im Apartment 801 war mir bestimmt. Er wollte mich töten. Er war sich auch sicher, mich getötet zu haben, sonst hätte er nicht seine Koffer gepackt. Ob er einen erneuten Versuch starten wird? Sicherlich muss ich damit rechnen und sehr vorsichtig sein. Wäre ich doch nur nicht heute Morgen zu ihm gegangen.“
 
Aus dem Panoramafenster sehe ich, dass einige Leute Vorbereitungen treffen für ein Wasserballspiel im Pool. Gerade werden die Tore in das Wasser gelassen. „Ich werde fragen, ob ich mitspielen darf. Das könnte eine gute Gelegenheit dafür sein, Leute kennen zu lernen. Und ich fühle mich auch sicherer, wenn ich nicht alleine bin“, denke ich und gehe zum Pool.
 
 
Alfredo liegt auf einer Liege am Pool von Esmeralda, im Schatten eines weißen Sonnenschirmes. Immer noch ungläubig hängt er seinen Gedanken nach. „Das war mein zweiter Fehler, den ich gemacht habe. Jens hat sein Zimmer gewechselt. Damit hätte ich eigentlich rechnen müssen. Was mache ich nun? Warum war er hier in dieser Anlage? War das Zufall, oder hat er mich hier beobachtet. Er hat einen Verdacht, aber keine Beweise, sonst würde er zur Polizei gehen. Ich werde meinen schon gebuchten Rückflug stornieren und mir ein anderes Hotel suchen müssen.“
 
 
 
 
 
 
Claudia Arrigo
 
 
Donnerstag, 25. Oktober
 
Das Telefon auf meinem Nachtisch klingelt. Die schrillen Töne zwingen mich, meine Augen zu öffnen und den Hörer abzunehmen.
„Hallo?“, sage ich mit müder, verschlafener Stimme.
„Hier ist Claudia. Schläfst du etwa noch, du Faulpelz? Es ist schon fast 12 Uhr.“
„Ich bin gerade aufgewacht. Und mein armer Kopf brummt noch.“
„Du hattest mir doch in der letzten Nacht versprochen, dass wir beide heute zur Westküste wandern. Alles schon vergessen?“
„Nein, aber ich muss erst wach werden, mich duschen und frühstücken. Besser gesagt: spätstücken.“
„Treffen wir uns in zwei Stunden an der Rezeption?“
„Einverstanden“
„Und schlafe nicht wieder ein“, sagt sie, bevor der Telefonhörer aufgelegt wird.
 
 Ich setze mich auf den Balkon und Fragmente des gestrigen Tages fallen mir wieder ein. Das Wasserballspiel hatte mir Spaß gemacht. Claudia war in meiner Mannschaft. Sie ist 28 Jahre alt, etwas kleiner als ich, hat dunkelbraune Haare und leuchtende, blaue Augen. Das Gesicht ist etwas kantig, die Locken reichen bis zur Schulter. Sie kommt aus Berlin und wohnt schon seit einer Woche in diesem Hotel. Lange haben wir uns unterhalten, bis spät in die Nacht hinein. Und spanischen Landwein getrunken, den ich immer noch in mir merke. Sie wollte auch unbedingt noch eine Geschichte von mir lesen und bestand anschließend darauf, dass wir uns gemeinsam eine ausdenken, die ich auch aufschreiben sollte. Eine Geschichte über Kairo, da sie vor sechs Monaten dort war und die Stadt ihr besonders gut gefallen hat. Nur noch wage kann ich mich daran erinnern und schlage die Seite auf, um sie zu lesen:
 
Das Labyrinth
 
„Ich miete mir ein Auto und erkunde die Gegend außerhalb von Kairo.“, dachte ich…
…eine riesige Dünenlandschft lag vor mir, Welle an Welle, wie ein im Sturm erstarrtes, hellbraunes Meer..
 „Aber was ist das?“ Links von mir und 20 Meter tiefer, in einem Dünental sah ich einen schwarzen Schatten. „Ob das eine Höhle ist?
Der Gang hatte ein leichtes Gefälle nach unten und als ich mich umdrehte, konnte ich den Ausgang nicht mehr sehen. Von meiner Neugier getrieben, ging ich weiter. Links und rechts entdeckte ich verschiedene Abzweige. Inzwischen war der Gang nur noch so hoch, dass ich krabbeln musste, daher entschloss ich mich, in den rechten Abzweig zu gehen, da dieser etwas höher war.
…plötzlich ließ der Schein meiner Taschenlampe nach, voller Schreck betrachte ich das schnell schwächer werdende Licht und drehte mich um. Ich ging zurück und die Taschenlampe aus.
Schlagartig war es dunkler, als in einer sternenlosen Nacht. Tastend ging ich weiter, fühlte links einen Abzweig, den ich bekrabbelte. Mit dem Fuß stieß ich gegen einen losen, leichten Stein, tastete ihn ab, merkte, dass er zwei Löcher hatte und fühlte auch Zähne. Ein Totenkopf.
Vor Angst zitternd bewegte ich mich weiter.
„Gehörte der Kopf vielleicht jemandem, der so wie ich auch neugierig die Gänge untersuchen wollte, aber dann nicht mehr den Ausgang fand?“
Erst vor einigen Tagen las ich, dass in Kairo ein Tourist spurlos verschwand. Bestimmt hatte ich ihn gerade gefunden. Aber wer hat in der kurzen Zeit seine Gesichtshaut abgenagt? Dann…
 
 
Besonders begeistert bin ich von dieser Geschichte nicht, aber wenn ich an den vielen Rotwein denke, der dabei getrunken wurde, dann ist sie doch etwas gelungen. Aber nicht unbedingt lesenswert.
 
Unter der Dusche merke ich, dass langsam sich meine Lebenskräfte wieder melden. Und nach dem Frühstück unten am Büffet fühle ich mich stark und zufrieden. Im Schatten genieße ich den strahlend blauen Himmel, der sich im Pool spiegelt und die vielen unterschiedlichen Grüntöne der Pflanzen.
 
Pünktlich gehe ich zur Rezeption und sehe auch gleich Claudia. Sie steht am Tresen und sieht sich einige Postkarten an.
 
Sie dreht sich zu mir um und sagt lachend: „Ich dachte schon, das du wieder eingeschlafen bist. Unter uns gesagt, wir beide haben gestern Abend etwas zuviel Wein getrunken, oder?“
 
„Du hast Recht, heute Abend trinken wir etwas weniger Wein, einverstanden? Hast du auch alles eingepackt, was ich dir gestern gesagt habe? Eine Wasserflasche, Sonnenschutzcreme und einen Sonnenhut?
„Natürlich habe ich alles dabei. Lass uns losgehen.“
 
 
Wir gehen beide auf der asphaltierten Piste voller Schlaglöcher, die vom Hotel zur Hauptstraße führt, überqueren diese und dann durch eine fast endlose Wüste aus gelben Sand und kleineren Dünen. In dieser Wüstenlandschaft gibt es keinen Weg. Wir orientieren uns am Sonnenstand und gehen in westlicher Richtung. Der Himmel ist wolkenlos. Durch den ständigen, fauchenden Wind sind die stechenden Sonnenstrahlen kaum zu spüren.
 
Unterwegs erzählt sie mir von ihrem Aufenthalt in Kairo und auch  einiges aus Berlin. Ich freue mich, sie kennengelernt zu haben und höre interessiert zu. Sie Arbeitet zur Unterstützung der Sekretärin in einem Architekturbüro. Die Arbeit macht ihr Spaß. Das Büro heißt „Arik“.
 
„Arik?“, sage ich überrascht und erstaunt. „Meinst du etwa Gustus und Heidi Arik?“
„Kennst du etwa dieses Büro?“
„Nein, aber ich kannte einen Architekten aus Berlin mit diesem Namen.“
„Das Büro gehört Gustus Arik. Seine Frau Heidi ist eine ganz nette. Oft war ich schon bei ihr zu Hause. Er befindet sich zurzeit auf einer Urlaubsreise. Kurz vor seiner Abreise war es im Büro sehr stressig, weil noch einige Unterlagen fertig werden mussten für eine Hotelanlage auf Sizilien. Die Unterlagen wollte er unbedingt mitnehmen. Die Hotelanlage nannte er „Paradieso“. Ist das nicht ein schöner Name?“
 
„Claudia, ich werde dir jetzt eine längere Geschichte erzählen. Höre mir bitte genau zu und mache dich auf einiges unerfreuliches gefasst.“
 
Dann beginne ich mit meiner Geschichte. Ich erzähle ihr alles. Von der Ankunft in Fuerteventura bis gestern, als ich im Apartment von Dietrich war.
 
Als ich fertig bin, tritt eine größere Pause ein. Dann, nach einigen Minuten bleibt Claudia stehen, sieht mich an und sagt traurig: „Ich kann das fast nicht glauben. Das ist ja schrecklich, was du mir gerade erzählt hast“ und wischt sich dabei mit ihrem Handrücken die Tränen aus ihrem hübschen Gesicht. Schweigend gehen wir weiter.
 
„Jens, ich glaube es ist besser, wenn du für einige Tage in mein Zimmer ziehst. Aus Sicherheitsgründen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Dietrich es noch einmal versucht und dich besuchen wird, wenn du schläfst ist sehr groß. Lass aber einen Teil deiner Sachen in deinem Zimmer, damit es bewohnt aussieht.“
„Vielen Dank für dein Angebot, aber ich muss noch darüber nachdenken. Und vielleicht fühlst du dich gestört, wenn ich in deinem Zimmer bin?“
„Quatsch. Ich finde dich nett, habe dann auch jemanden, mit dem ich reden kann und ich brauche mir dann nachts um dich keine Sorgen zu machen. Bitte, Jens, denke über mein Angebot nach.“
„Das werde ich machen“ und in Gedanken wohne ich bereits im Zimmer von Claudia.
 
Endlich ist am Horizont der Atlantik zu sehen. Der Wind hat aufgehört zu fauchen und begegnet uns mit heftigen Böen. Vorsichtig klettern wir an der jäh abbrechenden und zerklüfteten Steilküste herunter zum Meer und setzten uns auf einen schattigen Felsvorsprung. Es ist Ebbe, so dass zwischen den spitzen Steinen der sandige Meeresboden zu sehen ist. Die Felsen hinter uns sind noch feucht von den hohen, atlantischen Brechern, die vor einiger Zeit an dieser Stelle getobt haben. Das Rauschen der Wellen und die Einsamkeit sind faszinierend. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Die Farbkontraste, die sich ergeben aus dem Zusammentreffen von trockenen und noch nassen Felsen, dem Sand und das Meer bilden fast überirdische Landschaftsbilder. Nicht weit vor uns ragt ein dunkler Felsen aus dem Wasser, an dem große Krebse hochklettern und sofort wieder in die Wellen eintauchen, wenn ich mich bewege, um dann nach kurzer Zeit wieder aufzutauchen.
 
Aus den Rucksäcken holen wir das mitgebrachte Essen heraus und speisen genießend. Der Wind ist immer noch heftig, aber angenehm.
 
„Riechst du auch das Meer?“,  fragte Claudia mich schmatzend.
„Ja, und mir fällt dazu folgendes ein. Vor einigen Monaten habe ich gelesen, warum Meerwasser nach Meerwasser riecht.“
„Sicherlich wegen den Algen und dem Salzgehalt, oder?“
„Das dachte ich zuerst auch. Wissenschaftler haben aber herausgefunden, dass bestimmte Bakterien im Meer leben, die ein Gas produzieren. Wenn wir dieses Gas riechen, denken wir an Meerwasser.“
„Und was passiert, wenn man diese Bakterien den Lebensmitteln zuführt? Duftet es dann auf der Toilette nach Meerwasser?“
„Bitte lass uns sofort das Thema wechseln.“
 
Nach dem Picknick packen wir die Essensreste wieder ein und Claudia zieht ihre Schuhe aus.
 
„Du willst doch nicht etwa hier baden? Das Baden an der Westküste ist wegen den Strömungen sehr gefährlich.“
„Aber nein, keine Angst. Ich möchte nur meine Füße etwas kühlen“ und schon steht sie im Wasser. Die Wellen umspülen ihre Beine.
 
Zufällig drehe ich meinen Kopf nach rechts, halte meine Hand vor die Stirn, da die Sonne mich blendet und erstarre sofort vor Schreck. „Das darf doch nicht wahr sein.“ Nicht weit entfernt von uns steht jemand auf einem Felsen und sieht zu uns herüber. „Das kann nur Dietrich sein“, schießt es mir durch den Kopf. „Warum sind wir Blödmänner auch nur zur Westküste gegangen. Zum einsamsten Ort auf dieser Insel. Hier haben wir keine Chance vor ihm und er wird ein Leichtes Spiel mit uns haben.“ In Gedanken sehe ich mich schon auf den Klippen liegen, mit einem kleinen Loch im Kopf und Claudia neben mir, erdrosselt, während die Krebse an uns hoch krabbeln und gierig an unserem Blut naschen.
 
Claudia sieht mein erschrockenes, bleiches Gesicht und blickt nun in die gleiche Richtung wie ich.
 
„Ist das dein Dietrich?“, ruft sie mir zu und zieht sich schnell ihre Schuhe an.
 
Plötzlich reist die Person auf dem Felsen die Arme hoch, kreuzt sie winkend über dem Kopf und schreit auf Spanisch uns einige Sätze zu die wir nicht verstehen.
 
 „Nein, das ist nicht mein Dietrich. Es ist ein Spanier. Er will uns nur davor warnen,  ins Wasser zu gehen“, sage ich erleichtert und winke zurück.
 
Auf dem Rückweg, mit dem unguten Gefühl im Nacken, dass Dietrich hier doch noch auftauchen könnte, beschleunigen wir unsere Schritte. Aber er taucht zum Glück nicht auf. Claudia sagt unterwegs fast kein Wort und ist in Gedanken bei Gustus und Heidi. Im Hotel angekommen, packe ich das Wichtigste auf meinem Zimmer ein und ziehe zu Claudia, in das Zimmer Nummer 303. Unterwegs zu ihr denke ich an den Satz von Dario, als er mich in Zürich zum Flugplatz fuhr: „Du bist erst Anfang dreißig und siehst gut aus. Vielleicht ergibt sich eine Urlaubsbekanntschaft mit einer netten Dame?“
 
Nach einem gemeinsamen Abendessen und einem Spaziergang durch den Garten der Hotelanlage entscheiden wir uns, auf das Zimmer zu gehen und zu beraten, wie wir mit dem Problem „Dietrich“ umgehen sollen.
 
„Geh schon auf den Balkon und mach es dir bequem, ich komme gleich nach“, sagt Claudia im Zimmer zu mir. Kurz danach kommt sie, vollgepackt mit zwei Decken, Gläsern, einer Flasche Rotwein und einem weiteren Glas, in dem eine Kerze steht. Am dunklen Himmel sieht man den Halbmond und einige Sterne leuchten. Es ist kühl geworden und wir wickeln uns in die Decken ein. Als sie die windgeschützte Kerze im Glas anzündet, sagt sie: „Vor einigen Tagen konnte ich hier noch die Milchstraße sehen. Es war wunderschön. Aber jetzt wird sie leider vom Mond überstrahlt“ und kostet einen Schluck von dem Vina Rubican. Beide betrachten, mit einem verträumten Blick die Sterne am nächtlichen Himmel.
 
Leise und mehr zu mir selbst sage ich: „ Alles ist in Bewegung, aber wir merken es nicht.“
„Wie meinst du das?“
„Einmal am Tag dreht sich die Erde um ihre eigene Achse. Am Nord- und Südpol ist ihre Geschwindigkeit gleich null. Am Äquator dreht sie sich mit Überschallgeschwindigkeit. Ich aber sitze hier und merke nichts davon. Gleichzeitig dreht sie sich mit einer großen Geschwindigkeit um die Sonne. Auch das merke ich jetzt nicht. Dazu kommt, dass das Weltall expandiert, ohne dass ich es merke. Verstehst du was ich meine? Alles bewegt sich, ohne dass ich es jetzt merke.
 
Eigentlich wollten wir ja über ein anderes Thema reden. Claudia, Ich glaube, wir müssen uns einen Plan schmieden. Wir brauchen Beweismaterial und müssen sein Motiv kennenlernen. Als Profi wird er bestimmt die Uhr von Gustus und die Pistole nicht mehr bei sich haben. Aber vielleicht können wir etwas herausbekommen über sein Motiv und seine wahre Identität?“
 
„Aber das geht doch nur, wenn wir ihn beschatten und das kann für uns gefährlich sein“, antworte sie sorgenvoll.
 
„Ja, es ist gefährlich. Ohne Beweise können wir aber nicht zur Polizei gehen. Aus unserer Sicht sprechen alle Indizien dafür, dass er ein Auftragskiller ist. Natürlich können wir uns auch täuschen, aber die vielen Hinweise sind doch sehr deutlich, oder?“
 
„Du hast ja Recht. Morgen, gleich nach dem Frühstück und dem Wasserballspiel gehen wir zu seinem Apartment im Hotel Esmeralda. Du wirst mir dann zeigen, wo er wohnt und wie er aussieht.“
 
Beide sehen nun schweigsam auf das Meer. Der Mond ist weiter gewandert. Sein Licht spiegelt sich im schwarzen Wasser. Nur das ständige Rauschen vom Wind und den Palmenblättern unter ihnen ist zu hören.
 
Nach einer Weile frage ich Claudia: „Was wirst du machen, wenn du wieder in Berlin bist? Weiter im Büro von Gustus arbeiten? Einer seiner Angestellten wird bestimmt das Büro weiter führen.“
 
„In dem Büro habe ich nur als Aushilfe gearbeitet. Ich studierte Informatik und bin eigentlich noch auf der Suche nach einer für mich geeigneten Stellung. Am liebsten würde ich in Italien arbeiten.“
 
„In Italien?“
 
„Ja, ich wurde in Italien geboren, lebe aber schon lange in Berlin. Mein Nachname ist Arrigo.“
 
„Claudia Arrigo? Der Name klingt melodisch, er gefällt mir.“
„Si, Jens. Mein Name ist Claudia Arrigo.“
„Darf ich fragen, was dein Vater beruflich macht?“
„Er arbeitet in der Landwirtschaft. Aber was er dort genau macht weis ich nicht. Er spricht nicht darüber.“
 
Inzwischen ist die Kerze im Glas abgebrannt, wir tragen die Decken ins Zimmer und bereiten uns auf das Schlafengehen vor.
Villa Winter
 
 
Freitag, 26. Oktober
 
Am nächsten Tag, gleich nach dem Frühstück und dem anschließendem Wasserballspiel packen Claudia und Jens auf ihrem Zimmer die Rucksäcke.
 
„Jens, ich schlage vor, dass du dich etwas verkleidest, damit Dietrich, falls wir in sehen sollten, dich von weitem nicht gleich erkennt. Du trägst meinen Rucksack mit den blauen und weisen Streifen. Dazu bekommst du von mir meine große Sonnenbrille, den hübschen Sonnenhut mit dem Blumenmuster und auch noch mein großes, hellgrünes T-Shirt mit den dunkelgrünen Punkten.“ Ehe ich auf ihren Vorschlag antworten konnte, legt sie mir alles auf den Tisch. Sofort ziehe ich ihre Sachen an und schaue zufrieden in den Spiegel „Dein Vorschlag gefällt mir. So wird er mich bestimmt nicht gleich erkennen.“
 
Dieses Mal gehen wir nicht am Strand entlang zu der Anlage Esmeralda, sondern auf einer staubigen Piste, oberhalb des Strandes. Dieser weg ist auch etwas kürzer und übersichtlicher.
 
„Lass uns etwas langsamer gehen, wir werden gleich bei seinem Apartment sein.“
„Kannst du es schon sehen?“, fragt mich Claudia.
„Ja. Siehst du die Terrasse da vorne, gleich rechts von der kleinen Treppenanlage. Ich meine die Terrasse, auf der besonders viel Wäsche hängt.“ Plötzlich rennen zwei kleine Kinder, laut lachend aus der geöffneten Tür auf die Terrasse, gefolgt von einer Frau, die nun Wäsche zum trocknen aufhängt.
 
„Unser Vogel scheint ausgeflogen zu sein. Das Apartment wurde bereits an andere Gäste vermietet. Claudia, lass uns da vorne im Schatten etwas ausruhen und überlegen, was wir jetzt weiter unternehmen sollen.“
 
Sie denkt nach und sagt nach einer Pause: „Er könnte abgereist sein. Aber das ist unwahrscheinlich. Ich an seiner Stelle wäre gleich in das Hotel hinter Esmeralda gezogen. Es heißt Tin Daya. Kennst du diese Anlage?“
„Nein, dort war ich noch nie.“
 
Beide schlendern Arm in Arm zum Hotel Tin Daya und suchen sich, in Poolnähe freie Liegen. Jens blickt sich suchend um, erkennt aber kein bekanntes Gesicht und sagt nach einigen Stunden: „Vielleicht sollen wir die Suche nach Dietrich aufgeben und den Urlaub einfach im El Azor genießen.“
„Dietrich könnte auch jetzt in unserem Hotel sein, um dich zu suchen, während wir in seinem Hotel sind, um ihn zu suchen. Aber ich denke, du hast Recht, Jens. Lass uns Aufbrechen und zurück gehen.“
Gerade als ich aufstehen wollte sehe ich völlig unerwartet Dietrich. „Claudia, da vorne ist Dietrich. Der Mann mit den schwarzen Haaren und dem weisem Hemd. Siehst du ihn? Er scheint zu seinem Zimmer zu gehen. Schnell, gehe hinter ihm her und pass auf, in welches Apartment er geht.“
 
Claudia springt sofort auf und verschwindet wie Dietrich in dem weisen Gebäude. Sie beschleunigt ihre Schritte. Alfredo schließt seine Tür auf. Dann hört er Schritte hinter sich. Er dreht sich um. Völlig erstaunt starren sich beide an. Wie einen Geist.
 
„Mama mia, Maria! Maria Bellano! Die Tochter von meinem Chef. Was machst du denn hier auf Fuerte? Etwa Urlaub?“
 
„Alfredo, das hätte ich mir gleich denken können, dass du hier bist. Ich habe von deiner erfolgreichen Arbeit gehört, sie trägt deine Handschrift. Meinen Urlaub verbinde ich mit einem neuen Auftrag. Ich mache es kurz. Jens wartet auf mich, daher bin ich etwas in Eile. Er darf keinen Verdacht schöpfen. Hier ist meine Handynummer. Melde dich in drei Stunden bei mir.“ Sie holt schnell einen Zettel aus ihrer Tasche und schreibt die Nummer auf. „Rufe mich an, damit wir uns verabreden können. Für den neuen Auftrag kann ich Hilfe gut gebrauchen. Übrigens, der Name in meinem Pass lautet Claudia Arrigo.“ Nun dreht sie sich abrupt um und geht zum Hausausgang.
 
Von der Sonne geblendet bleibt sie kurz stehen, setzt ihre Sonnenbrille auf und geht zu Jens, um sich neben ihn auf die Liege zu setzen.
 
„Du hast aber lange gebraucht. Konntest du sehen, in welches Zimmer er gegangen ist?“
 
„Nein, er war zu schnell, oder ich zu langsam. Ich habe alles abgesucht, deshalb brauchte ich etwas länger. Jens, lass uns bei der Rezeption ein Taxi bestellen. Ich bin müde und möchte nicht den ganzen Weg zurück laufen.“
 
Im Taxi schmiegt sich Claudia an meine Schulter und sagt leise: „ Lass uns den Urlaub genießen und aufhören mit dem Detektivspiel. Dieses Spiel ist viel zu gefährlich für uns.“
 
„Sollen wir den Mörder laufen lassen?“
 
„Wir haben doch nur Indizien, aber keine Beweise. Vielleicht sehen wir auch etwas, nur weil wir es so sehen wollen? Vielleicht interpretieren wir die Realität falsch?“
 
„Okay. Wie meinst du das?“
 
„Na ja, ich denke gerade an die Uhr und die Pistole, die aus dem Rucksack rutschte. Das könnte auch eine billige Ersatzuhr gewesen sein, die man am Strand trägt, um die andere zu schonen.“
 
„Und die Pistole? Denkst du, ich habe das nur geträumt?“
 
„Nein. Aber es ist unwahrscheinlich, dass jemand mit einer Pistole im Gepäck nach Fuerte fliegt. Bei der Gepäckkontrolle hätten sie die mit Sicherheit aus dem Koffer gefischt. Nein, er muss sie hier auf dem Markt erworben haben. Bestimmt ist sie ein Imitat. Er hat sie zufällig gesehen und sie zu seiner eigenen Sicherheit gekauft. Als Abschreckung, da auch hier einige Gauner rumlaufen. Siehst du, Jens, es gibt für alles eine Erklärung.“
 
„Und der nächtliche Überfall auf dem Zimmer 801?“
 
„Der war real, aber bestimmt ein Zufall. Der Einbrecher hätte auch in jedes andere Zimmer einbrechen können.“ Er blickt ihr in die Augen und sie nickt ihm zustimmend zu.
 
„Claudia, vielleicht hast du Recht. Ich werde darüber nachdenken“, sage ich zu ihr und bezahle den Taxifahrer.
 
Auf dem Weg durch die Eingangshalle blickt Claudia mich lächelnd an: „Du kannst schon vor, auf das Zimmer gehen. Ich werde mir eine Zeitung besorgen und am Pool noch etwas lesen.“
 
Wir verabschieden uns und ich gehe zu unserem Zimmer. „Es ist gut, dass sie unten am Pool bleibt. Dadurch habe ich etwas Zeit, über das Gespräch im Taxi nachzudenken. Ich glaube, Claudia hat Recht, wenn sie denkt, dass ich manche Dinge nur so sehe, wie ich sie sehen möchte.“
 
Zuerst dusche ich mich im Badezimmer ab, sehe in dem Spiegel meinen Dreitagebart, greife zum Rasiermesser und: „Autsch“. Ich habe mich geschnitten. Es ist nur ein kleiner Schnitt. Das Blut läuft über das Kinn. Mit einer Hand drücke ich ein Papiertaschentuch auf die Wunde, während meine Blicke das Badezimmer suchend nach einem Pflaster erfolglos abtasten. Dann gehe ich in das Wohnzimmer, öffne die Nachtischschublade von Claudia, sehe aber kein Pflaster. Nur eine schwarze Ledertasche liegt dort. Etwas größer als ein Briefumschlag. Nun auf dem Bett sitzend, öffne ich den Reißverschluss von der Tasche, sehe aber auch dort kein Pflaster. Ein Stoß zusammengefalteter Briefe liegt vor mir und seitlich ein Ring. „Ob der mir passt?“ Ich stecke ihn auf meinen rechten Ringfinger. Er passt. Er besteht aus einer großen, alten römischen Münze. Die Münze ist von einem äußeren Ring eingefasst, der nur eingerastet ist, denn ich kann ihn lösen. Jetzt habe ich den äußeren Ring in der Hand, er ist mit dem anderen durch einen dünnen Stahlfaden verbunden. Ich montiere den Ring wieder zusammen, lege ihn in die Tasche und falte den obersten Brief auseinander. In dem Brief steht:
 
 
 
 
 
„Liebe Maria,
 
da ich aus zeitlichen Gründen die Informationen Dir nicht persönlich mitteilen kann, gebe ich Dir hier schriftlich einige Erläuterungen zu Deinem neuen Auftrag. Ich bitte Dich darum, diesen Brief, nach dem Du ihn gelesen hast, umgehend zu vernichten! (Secreto Secretissima!)
 
 
Zuerst eine Kurzinfo zur Vorgeschichte:
 
Es geht um Gustav Winter. Er wurde 1893 in Neustadt im Schwarzwald geboren. Während des ersten Weltkrieges hielt er sich hauptsächlich in Argentinien und England auf. Von England übersiedelte er nach Spanien um dort sein Ingenieurstudium erfolgreich abzuschließen. Während dieser Zeit hatte er ständig Kontakte nach Deutschland. Kurz nach dem Regierungsantritt von Hitler 1933 fährt Gustav Winter nach Fuerteventura, zur Südhalbinsel Jandia.
 
Er erhält für Jandia einen Pachtvertrag. General Franco muss ihn sehr geschätzt haben, denn er bekommt zu einem späteren Zeitpunkt Jandia von ihm geschenkt. Sofort wurde veranlasst, dass die wenigen Bewohner in den Norden zwangsumgesiedelt wurden. Mit Stacheldraht wurde sein Bereich vom Rest Fuerteventuras abgetrennt und streng bewacht.
 
Anschließend fuhr er nach Berlin, um sich das notwendige Bargeld für seine Aufgaben abzuholen. Es wird die „Abwehr III Canaris“ gegründet und vereinbart, dass Gustav Winter als Agent der Deutschen Abwehr ein geheimes Projekt selbstständig auf Jandia durchführt. Dafür wurden ihm auch deutsche Hilfskräfte zugeteilt. Dieses Projekt war so geheim, das auch die Organisation Tod nicht darüber informiert wurde.
 
Mit dem Schiff „Richard Ohlrogge“ ging es dann zurück nach Jandia. Dieses Mal zusätzlich mit einigen Spezialisten, Vermessern und Beratern, um das Gelände genauer untersuchen und Karten anfertigen lassen zu können. Parallel zu den Planungen für die „Abwehr III Canaris“ leitete er von 1939 bis 1944 eine Werft der Deutschen Kriegsmarine bei Bordeaux.
 
Als Hitler am 23.10.1940 General Franco traf, teilte er ihm sein ausgesprochenes Interesse an dem Stützpunkt auf den Kanarischen Inseln mit.
Einzelheiten der getroffenen Absprachen sind mir leider nicht bekannt. Jedoch tauchten dann im März 1941 sechs deutsche U- Boote im Hafen von Las Palmas auf. Es gibt Hinweise, dass drei von ihnen weiter in Richtung Jandia gefahren sind.
 
Alle der vielen Bautätigkeiten auf Jandia, auch die der Villa, die als Krönung seiner Planung erst 1946 errichtet wurde, fanden unter strengster   Geheimhaltung statt.
 
Gustav Winter, er wurde auch Don Gustavo genannt, verstarb1971 auf den Kanarischen Inseln.
 
Liebe Maria, jetzt kommt der zweite Teil meiner Information für Dich. Vor fast sechs Wochen entdeckten Freunde von mir vor der argentinischen Küste ein altes deutsches U- Boot. Es hatte einen Maschinenschaden, bevor es versenkt wurde. In dem Boot befanden sich noch große Mengen Goldbarren und einige Aufzeichnungen, aus dem folgendes hervor ging:
 
Die Villa Winter steht auf vulkanischem Gestein und wurde über einer Grotte erbaut. In dieser Grotte gibt es einen Zugang zu einem weit verzweigten Lava- Höhlensystem. Ähnlich wie auf der Nachbarinsel Teneriffa. Dort befindet sich das größte Lava- Höhlensystem der Erde, die Cuevas del Viento. Gustav Winter hatte das Höhlensystem weiter ausgebaut und so hergerichtet, dass es bewohnbar war. Es gibt dort viele Wohnräume mit Nebenräumen. Aber auch Lagerräume. Diese Anlage diente der zeitweise Unterbringung von Nazigrößen, bis sie von U- Booten abgeholt wurden, um nach Südamerika zu fahren.
 
Nach den mir vorliegenden Unterlagen müssen sich in diesen Höhlen noch riesige Mengen Goldbarren befinden. Auf diese habe ich es abgesehen. Leider werde ich einen Teil an meine argentinischen Freunde abgeben müssen. Aber das werde ich verkraften.
 
Deine Aufgabe ist es, mir zu bestätigen, dass diese Goldbarren noch in der Höhle sind. Ich werde sie dann nachts mit einem Schiff abholen lassen. Das ist auch der Grund, warum ich Dich von Gustus Arik in Berlin abgezogen habe. Einer meiner Problemlöser wird für Dich die Arbeit zu Ende führen. Ich wünsche Dir viel Erfolg und sei vorsichtig.
 
Dein Moreni
 
P.S.
In dem Keller der Villa Winter sind viele Türen zugemauert. Nur hinter einer dieser Türen befindet sich der Gang zu den Höhlen. Ich habe eine Skizze beigelegt und diese Tür gekennzeichnet. Zu dem Höhlensystem habe ich leider kein Kartenmaterial. Beachte bitte auch das zweite Kreuz auf der Skizze. Es kennzeichnet eine Stelle, die sich nord- westlich von der Villa befindet. Hier wird ein Zuluftschacht vermutet. Die Villa ist bei Cofete, ein winziges Dorf mit wenigen Häusern und einfach zu finden.“
 
Ungläubig über das gerade gelesene falte ich den Brief zusammen, lege alles wieder ordentlich in die Schublade und verlasse das Zimmer. Jetzt brauche ich Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Auf keinem Fall möchte ich Claudia auf dem Weg nach unten am Aufzug begegnen. Zügig gehe ich die Treppen runter, durch die Eingangshalle aus dem Hotel und setzte mich, etwas vom Hotel entfernt, unter eine Palme. Die Sonne bereitet sich auf ihren täglichen Untergang vor und taucht alles in ein mildes, rosa gefärbtes Licht. Ein Licht, das ich sehr mag und das es nur zur dieser Tageszeit gibt. Aber genießen kann ich dieses märchenhafte Licht nicht. Meine Gedanken sind woanders.
 
„Noch brauche ich etwas Zeit, um zu begreifen, was ich gerade gelesen habe. Auch Claudia hat einen falschen Namen. Ihr wahrer Name ist also Maria. Sie wurde auf Gustus angesetzt, dann aber abgezogen, um hier einen goldigen Auftrag zu erledigen. Ob sie mit Dietrich Schuster vorhin gesprochen hat? Ich wette, dass beide sich in dem Haus unterhalten haben. Das wird auch der Grund sein, warum sie mich im Taxi versuchte zu überzeugen, dass dieser Dietrich harmlos ist. Fast hätte es ja auch geklappt. Und was hat es mit dem Ring und dem Stahldraht auf sich? Ist das Ihr Mordwerkzeug? Jens, wo bist du nur gelandet? Wenn ich zu Hause meinen Freunden erzählen würde, dass ich über zwei Auftragskiller gestolpert bin, würde mir das jemand glauben? Das Beste für mich wird wohl sein, wenn ich wieder auf mein altes Zimmer ziehe.“
 
 
                                                                       *
 
Als Maria den Pool erreicht, wird sie von der sich im Pool spiegelnden Sonne geblendet. Sie setzt sich die Sonnenbrille, die sie in der Hand hält auf und lässt ihren Blick suchend nach einer freien Liege umherwandern. Zielgerichtet geht sie zu einer in der Sonne stehenden Liege, holt das bunte Handtuch aus dem Rucksack und macht es sich auf der Liege bequem. Die wärmenden Sonnenstrahlen genießend, schließt sie die Augen. Es ist am späten Nachmittag, die Strahlen sind nicht mehr so intensiv und der laue Wind ist angenehm. Ihre Gedanken wandern ab zu Alfredo Budoni.
 
Vor einigen Jahren lernte sie ihn in Porto Palo durch ihren Vater, Moreni Bellano kennen. Ihre Aufträge, die sie von Moreni erhielten, führten sie fast immer getrennt aus. Nur einmal arbeiteten sie als Team zusammen. Das war in Kolumbien, nahe bei Tumaco. Ein CAI- Agent bereitete Probleme beim Herointransport. Sie wurden als Problemlöser eingeflogen und lösten auch das Problem. Im Hotel, mit dem im Ring verstecktem Stahldraht. Alles lief wie am Schnürchen. Oder besser gesagt: wie am Stahldraht.
 
„Vorhin war ich ja ganz schön überrascht, Alfredo vor mir zu sehen. Wie klein doch die Welt ist. Man denkt an nichts Böses und schon steht es vor einem. Aber ich brauche mich vor ihm nicht zu fürchten. Wir beide gehören zur Familie und ich verstehe mich blendend mit ihm. Hoffentlich…“
 
Eine leise Melodie dringt an ihr Ohr. Das Handy klingelt. Sie holt es aus dem Rucksack und haucht leise: „Ja?“
 
 „Das war ja eine schönes Wiedersehen, vorhin im Hotel. Du hattest den Namen Jens erwähnt. Wenn das mein Jens sein sollte, so habe ich eine Überraschung für ihn.“
 
„Lass die Finger von ihm. Er hat keine Beweise und ist nicht gefährlich für uns. Hör mir bitte zu. Ich schlage vor, dass du heute noch nach Morro Jable fährst. Der Ort liegt südlich von uns. Dort mietest du zwei Apartments, natürlich jedes mit Doppelbetten. Morgen werde ich um 10 Uhr vor dem Hoteleingang vom Stella Canaris auf dich warten. Bitte hole mich dort ab und sei pünktlich. Den Rest erzähle ich dir Morgen. Bist du einverstanden mit meinem Vorschlag?“
 
„Ja, ich werde alles so machen, wie du es vorgeschlagen hast. Ich freue mich schon auf dich. Arrivederci Maria.“
  
Zufrieden steckt Maria das Handy in den Rucksack, erhebt sich von der Liege und geht zu ihrem Zimmer. Sie klopft an die Tür und als sich niemand meldet, öffnet sie die Tür mit dem Schlüssel und setzt sich auf den Balkon. Aus dem Rucksack holt sie eine Zeitung und beginnt zu lesen.
 
Es mögen gerade zehn Minuten vergangen sein, als Jens das Apartment betritt und sich zu ihr auf den Balkon setzt.
 
Maria sieht ihn aufmerksam an. Ihre Augen mustern ihn. Sie legt die Zeitung zur Seite und fragt leise mit einer lieblichen Stimme: „Hallo Jens, wo warst du denn. Ich habe schon auf dich gewartet.“
 
„Ich habe dich gesucht“, lüge ich sie an. „Du hast Recht mit dem, was du mir im Taxi alles erzählt hast. Danke für deinen Ratschlag. Es war gut für mich, dass ich dir alles erzählen konnte was ich erlebt habe. Denn nur so konntest du mir sagen, wie du die ganze Sache siehst. Ich danke dir.“
 
„Du brauchst mir nicht zu danken, aber es ist schön, dass alles sich so auflöst und du nun deinen Urlaub unbeschwert genießen kannst. Das freut mich für dich“ Fast prüfend sieht sie ihn an und sagt: „ Jens, ich bekam vorhin einen Anruf. Mein Bruder hatte einen Autounfall und liegt in Rom im Krankenhaus. Er ist nicht schwer verletzt. So wie ich es verstanden habe, hat er ein Beinbruch und eine Gehirnerschütterung. Aber ich werde ihn besuchen müssen. Noch heute Abend werde ich meinen Koffer packen, den Flug buchen und meine Rechnung bezahlen.“ Noch immer sieht sie ihn prüfend an.
 
„Okay. Das tut mir aufrichtig leid, ich meine die Sache mit deinem Bruder. Deine Entscheidung, abzureisen, kann ich sehr gut verstehen. Am besten packe ich gleich meine Sachen ein und ziehe wieder auf mein Zimmer. Wann wirst du abreisen?“
 
„Das Taxi werde ich für Morgen, neun Uhr bestellen.“
 
Jens packt seine wenigen Sachen in zwei Plastiktüten ein und verabschiedet sich. „Claudia, es war schön, bei dir sein zu dürfen. Danke. Hoffentlich geht es deinem Bruder bald besser. Jetzt muss ich mich nach neuen Freunden für das Wasserballspiel umsehen.“
 
Er geht zur Tür, sie begleitet ihn, spitzt die Lippen und gibt ihm einen Kuss auf die Wange: „Ich wünsche dir alles Gute, Jens.“ Dann macht es „Klick“, die Tür ist zu und erleichtert gehe ich zum Aufzug und dann in mein Zimmer. Es ist aufgeräumt. Mit den gemachten Betten und den zugezogenen Vorhängen sieht es unbewohnt aus. Meine mitgebrachten Sachen lege ich in den Schrank, ziehe die Vorhänge auf und betrete den Balkon. Es ist dunkel geworden. Das Lachen einiger Kinder dringt vom Garten zu mir hoch. Den Mond kann ich nicht sehen, aber dafür unendlich viele Sterne und die Milchstraße. Sie ist deutlich zu erkennen und ich habe das Gefühl, als ob meine Seele fliegt. Staunend und bewundernd betrachte ich den nächtlichen Himmel.
 
„Ob Claudia jetzt auch so wie ich zu der Milchstraße blickt und an mich denkt? Nein, ich glaube nicht, dass sie das tun wird. Sie wird mit ihren Gedanken bei ihrem neuen Auftrag sein.“ Dann fällt mir etwas ein und ich merke, wie ein Schauer eiskalt über meinen Rücken läuft: „Was wäre passiert, wenn ich mich vorhin verplaudert hätte? Wenn ich sie nicht mit Claudia, sondern mit Maria angesprochen hätte? Dann würde ich schlagartig zwei Killer im Nacken gehabt, haben, auf jeder Seite einen. Ich müsste heute noch den Koffer packen, meinen Urlaub abbrechen und sofort den Rückflug buchen, um beiden zu entkommen.“
 
Inzwischen ist der Mond aufgetaucht. Er liegt sehr tief, nahe am Horizont. Sein Licht spiegelt sich im schwarzen Wasser.
 
„Ob ich runter gehen soll zum Abendessen? Appetit habe ich keinen und Claudia möchte ich auch nicht begegnen. Und die Sache mit dem Autounfall ihres Bruders ist bestimmt von ihr eine Ausrede gewesen. Was würde ich an ihrer Stelle tun? Ein neues Hotel suchen, möglichst nahe bei der Villa Winter? Gemeinsam mit Dietrich Schuster?“
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Die Erkundung
 
 
Samstag, 27. Oktober
 
Maria Bellano sitzt im Schatten auf der Terrasse der Hotel- Cafeteria. Es ist gegen 8:30 Uhr. Der gepackte Koffer steht neben und das Frühstück auf dem Tisch. Zum Glück nicht andersherum. Ungeduldig blickt sie auf die Armbanduhr. „Bald kommt das Taxi. Hoffentlich treffe ich nicht vorher Jens. Er ist ja ein netter Kerl, aber ich möchte nicht, dass er uns mit seiner Neugier in die Quere kommt.“ Zu dieser Zeit sitzen nur vereinzelt einige Gäste auf der Terrasse und Frühstücken. Die leise Hintergrundmusik ist kaum zu hören.
 
Die Sonne spiegelt sich in den Glasflächen der Flurfenster über der Hotelvorfahrt. Ich befinde mich in der achten Etage am Fenster und sehe nach unten. Maria steht gerade vor einem Taxi. Während sie einsteigt, legt der Fahrer ihr Gepäck in den Kofferraum. Das Auto setzt sich in Richtung Hauptstrasse in Bewegung. Es wird immer kleiner, ist aber auf der Straße, zwischen den Dünenlandschaften noch deutlich zu erkennen. Jetzt hat es die Hauptstraße erreicht. Es biegt aber nicht nach rechts, in Richtung Flugplatz, sondern nach links, in Richtung Morro Jable ab. Alles ist so, wie ich vermutet habe. Erst jetzt gehe ich zum Aufzug, fahre runter und begebe mich zur Frühstücksterrasse. Ich genieße das Essen und die Sicherheit, in der ich mich nun fühle. Das fröhliche Kinderlachen am Nebentisch stört nicht.
 
                                                                       *
 
Das Taxi fährt mit einer hohen Geschwindigkeit in südlicher Richtung. Maria sitzt neben dem Fahrer. Die Fenster sind geöffnet. Ihre Haare flattern im Wind. Trotz der lauten Windgeräusche dringen Fragmente einer spanischen Musik aus dem Autoradio an ihr Ohr. Die Straße schlängelt sich zur steil abfallenden Küste. Eine Haarnadelkurve taucht vor ihnen auf. Im Hintergrund ist das Meer zu sehen. Die Tachometernadel steigt. Die Sonne blendet. Sie rasen mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Kurve zu. Mit angstverzerrtem Gesicht umklammert Maria mit der rechten Hand den Türgriff. Die Reifen quietschen in der Kurve. Mit letzter Kraft hält sie sich am Türgriff fest, um nicht auf den Fahrer zu rutschen. Schon liegt die Kurve hinter ihnen. Nun geht die Fahrt bergab, Richtung Landesinnere. Weit vor ihnen ist eine weitere enge Kurve zu sehen, gleich neben einer Tankstelle. Maria gibt dem Fahrer ein Zeichen, damit er langsamer fährt. Er sieht sie an. Der Schweiß glänzt auf seinem Gesicht. Erst kurz vor der Kurve bremst er ab. Nach weiteren 15 Minuten hält das Taxi vor dem Eingang des Stella Canaris. Maria bezahlt und steigt mit noch weichen Knien aus dem Taxi. Der Fahrer reicht ihr den Koffer. Sie ist erleichtert und freut sich darüber, den sicheren Boden wieder unter den Füssen zu spüren.
 
Eine breite Treppenanlage aus hellem Sandstein befindet sich vor ihr. Sie führt direkt hoch zur Rezeption. Maria setzt sich wartend auf eine Treppenstufe. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass sie noch 40 Minuten auf Alfredo warten muss. Seitlich von ihr gehen Hotelgäste die Treppe hoch. Sie haben noch ihre Badekleidung an und tragen Taschen, voll mit Handtüchern. Vor ihr ist das Meer zu sehen, rechts ein weißer Leuchtturm und links, fast neben ihr stehen hohe Palmen, in denen Papageien kreischend sich unterhalten.
 
Plötzlich fühlt sie eine Hand auf ihrer Schulter, steht erschrocken auf und dreht sich schnell um. Sie blickt in das Gesicht von Alfredo.
 
„Du hast mich erschreckt, bitte mach das nicht noch einmal. Ich dachte, dass du erst in zwanzig Minuten kommst. Schön, dass du schon hier bist. Aber warum bist du so früh hier?“
„Na ja. Ich habe hier gefrühstückt und anschließend mir noch diese Ferienanlage angesehen. Sie gefällt mir. Nicht nur wegen den Pfauen, sondern auch wegen den Bungalows. Sie sind in kleinen Gruppen angeordnet, umgeben von schattenspendenden Palmen. Neben vielen Wegen blüht der Hibiskus. Komm, lass uns zum Auto gehen.“ Er trägt ihren Koffer und legt seinen Arm um ihre Schulter. „Ich habe zwei Doppelzimmer im Hotel für uns gebucht. Hoffentlich stört dich die Farbe des Hotels nicht. Es ist rosa angestrichen und auch sehr groß. Das ist gut für uns. Bei so vielen Gästen wird man uns nicht besonders beachten. Hast du schon einen Plan für unsere Aktivitäten?“
„Ja, ich werde dir alles im Hotel erzählen.“ Nach einer knapp acht minütigen Fahrt haben beide das Hotel erreicht und machen es sich bequem im Zimmer von Alfredo. Maria holt einen Brief aus ihrer Tasche, reicht ihn Alfredo mit der Bemerkung: „Wenn Du das liest, dann hast du den gleichen Kenntnisstand wie ich.“
 
Er faltet den Brief geräuschvoll auseinander und beginnt zu lesen. „Die neue Aufgabe hört sich ja interessant an. Gut, das wir dieses Mal niemand in das himmlische Paradies schicken müssen. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich diesen Brief verbrenne?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, legt er den Brief in den Aschenbecher und zündet ihn an. Beide betrachten die Flamme, die das weiße Papier in schwarze Asche verwandelt. Anschließend kippt Alfredo die Asche in den Papierkorb.
 
„Alfredo, ich habe mir den heutigen Tag so vorgestellt: Gleich nach dem Mittagessen mieten wir uns einen Jeep und fahren zu der Villa Winter. Wir erkunden dort die Gegend. Vielleicht finden wir auch den Lüftungsschacht. Denn ich würde es vorziehen, über den Schacht in das Höhlensystem einzusteigen. Das ist bestimmt weniger auffällig, als wenn wir in der Villa zugemauerte Türen aufbrechen müssen. Stimmst du mir zu?“
 
„Du hast Recht. Aber wir können doch auch mit meinem Wagen fahren, dann brauchen wir uns keinen Jeep zu mieten.“
„Dein Auto ist für diese Strecke nicht geeignet. Über diese Gegend habe ich mich schon etwas informiert. Die steinigen Pisten sind so, dass wir mit deinem Auto nicht sehr weit kommen würden. Ich schlage vor, dass wir vor dem Mittagsessen noch einige Dinge einkaufen. Taschenlampen, Proviant, Mineralwasser und eine Karte. Gleich nach dem Essen starten wir mit der Erkundungsfahrt.“
 
Nach dem mediterranen Mittagsessen werden die Rucksäcke im Jeep verstaut.
Sie verlassen den Ort auf der asphaltierten Hauptstraße und biegen nach rechts ab. Links von ihnen liegt der Hafen von Morro del Jable. Die Boote tanzen rhythmisch auf den kleinen Wellen, vor der langgezogenen, schützenden Kaimauer. Ein Segelboot verlässt gerade den Hafen. Dann geht es auf einer Schotterpiste vorbei an einigen Plantagen. Im Hintergrund befindet sich das Meer. Nach dem Fischerdorf Puerto de la Cruz blickt ihnen der Leuchtturm entgegen. Alfredo parkt den Jeep seitlich neben der Schotterpiste und sieht Maria an: „Wenn wir schon hier sind, dann lass uns doch kurz den Leuchtturm besichtigen.“ Am Riff hinter dem Leuchtturm bleiben beide stehen. Bewundernd betrachten sie die Aussicht zur West- und Ostküste. Die Wellen werfen sich schäumend gegen die Felsen. Über ihnen fliegen einige Möwen.
 
Wieder im Jeep sitzend, geht die Fahrt weiter. Bald taucht eine Serpentinenstraße, die über den vor ihnen liegenden Pass führt, auf. Oben auf dem Berg fegt der atlantische Wind ihnen erbarmungslos entgegen. Nun geht es bergab. Es erscheint das kleine Dorf Cofete. Gleich hinter dem Dorf gabelt sich die staubige Piste. Weiter gerade aus geht es zum Meer, das vor ihnen liegt. Die Brandung ist erstaunlicherweise sehr ruhig. Rechts sehen sie ein Landhaus. Es ist nicht  weit von ihnen entfernt. Hinter dem Haus liegt ein langgezogener, über 600 m hoher Gebirgskamm. Wie Lavaströme wandern seine Ausläufer in unterschiedlichen Brauntönen nach unten.  
 
„Das muss die Villa Winter sein“, sagt Maria mit einer aufgeregten Stimme. Sie holt eine Skizze aus ihrer Tasche, auf der die Gegend, in der sie sich befinden eingetragen ist und zeigt auf ein Kreuz. „Dort, ein ganzes Stück hinter dem Haus muss der Zuluftschacht sein. Hoffentlich finden wir ihn. Lass uns aber zuerst die Villa in Augenschein nehmen.“ Alfredo parkt den Jeep vor dem Gebäude. Sie steigen aus und gehen um das Haus herum. Es sieht aus wie ein heruntergekommenes, unbewohntes  Landhaus und erinnert gleichzeitig an eine Festung. Die zwei Etagen sind teilweise in den Hang eingebaut. An einer Gebäudeecke steht ein runder, weißer Turm mit in Teilbereichen abgefallenen Putzflächen. Einige Fenster sind zugemauert. Die Rundbögen strahlen etwas Herrschaftliches aus. Am Ende einer Regenrinne starrt ein hölzerner Krokodilkopf ihnen entgegen.
 
„Das wird ein Wasserspeier sein. Warum hat Gustav Winter gerade hier in dieser kargen Landschaft die Villa errichten lassen? Wegen der Einsamkeit?  Um nicht bei seinen Aktivitäten beobachtet werden zu können?“ denkt Maria. Nahe am Eingang steht eine verrostete Lore. Auf einem Rad ist noch deutlich das Wort „Krupp“ zu erkennen. Die Tür zum Atrium, hinter dem Haus ist geöffnet. Aufgehängte Wäsche flattert im Wind. Sie gehen einige Schritte in den Innenhof. An einer verwitterten Tür gibt es ein hölzernes „W“. Das Winteremblem.
 
„Es ist Niemand zu sehen, aber die aufgehängte Wäsche deutet darauf, dass die Villa bewohnt ist. Die Stille wirkt geheimnisvoll. Am liebsten würde ich das Haus näher untersuchen. Aber zu diesem Zeitpunkt wäre das zu früh und unklug. Maria, lass uns zurück zum Jeep gehen.“
 
Am Jeep klopfen beide den Staub von ihrer Kleidung ab, steigen ein und fahren weiter. Maria holt wieder die Skizze aus ihrer Tasche und faltet sie auseinander, als sie sagt: „Du musst mehr nach Westen fahren. Ja, so ist es gut. Nun immer gerade aus.“ Nach einigen hundert Metern stoppt der Jeep. „Alfredo, hier muss der Lüftungsschacht irgendwo sein.“ Über eine Stunde suchen sie die Gegend ab, aber ohne Erfolg.
 
Alfredo holt seine Wasserflasche aus dem Rucksack, trinkt einen Schluck und sagt: „Es gibt hier keinen Lüftungsschacht. Ich schlage vor, dass wir Morgen die Villa untersuchen. Die Bewohner werden uns bei der Suche nach den unterirdischen Gängen im Wege stehen. Ich werde sie liquidieren müssen, aber das wird kein Problem sein.“ Dann nimmt er noch einen kräftigen Schluck aus der Flasche und legt sie zurück in den Jeep. Die Sonne spiegelt sich auf der Oberfläche der Getränkeflasche.
 
„Wenn jemand auf meiner Skizze mit einem Kreuz die Lage von dem Schacht markiert hat, dann wird es ihn auch geben. Natürlich kann es auch sein, dass er nach so langer Zeit durch den Wind zugeweht wurde.“ Maria blickt sich suchend um und zeigt auf einen größeren Stein. „Vielleicht hat jemand mit einem Stein den Schacht abgedeckt? Lass uns nur noch diesen Stein da drüben untersuchen, danach können wir zurück fahren.“
 
Der Stein ist fast siebzig Zentimeter hoch. Aber mit vereinten Kräften lässt er sich etwas zur Seite schieben. Zum Vorschein kommt ein Loch. Ungefähr fünfzig Zentimeter im Durchmesser. Alfredo wirft einen kleinen Stein in das Loch. Nach wenigen Sekunden hören sie das Aufschlaggeräusch des Steines.
 
„Maria, du hast recht gehabt. Das muss der Schacht sein. Lass uns den Stein zurück schieben und dann zum Hotel fahren. In meinem Apartment  werde ich sofort unter die Dusche springen. Von der Pistenfahrt fühle ich mich völlig eingestaubt.“
„Mir geht es genauso, also zurück zum Hotel.“
 
Beide haben nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Die Sonne hat sich schon hinter dem Horizont versteckt und die Dämmerung macht sich bemerkbar. Alfredo schaltet die Scheinwerfer ein und startet den Motor. Das Scheinwerferlicht huscht über das Gelände. Unterwegs sagt er: „Morgen müssen wir uns ein Seil und entsprechende Kleidung besorgen. Wir wissen nicht, was uns da unten erwarten wird. Daher werden wir uns gut vorbereiten müssen.“
„In Gedanken sehe ich schon das Gold vor mir. Ich liebe goldige Ausflüge und komme mir vor, wie eine Schatzsucherin.“ Auf dem Pass fegt ihnen ein starker Wind entgegen.
 
                                                                       *
 
Das Frühstück schmeckt mir ausgezeichnet. Zufrieden und satt sehe ich mich um. Die Familie mit den laut lachenden Kindern am Nebentisch steht auf und geht in Richtung Strand. Auch ich verlasse meinen Platz, lege mich auf eine Liege am Pool und greife nach meinem Skizzenbuch im Rucksack. Inzwischen habe ich hier so viel erlebt, dass die Themen für neue Kurzgeschichten in meinem Kopf wie Fische im Aquarium schwimmen. Dann lege ich es aber zur Seite, um nachzudenken.
 
„Maria ist vorhin mit dem Taxi nach links abgebogen. Sicherlich wird sie sich mit Dietrich Schuster treffen, um nach dem Gold unter der Villa Winter zu suchen. Ob da unten nach so langer Zeit wirklich noch Goldbarren liegen? Die beiden werden sich im Süden der Insel in einem Hotel einquartiert haben. Es ist beruhigend zu wissen, dass sie nicht in meiner Nähe sind. Aber ich spüre auch eine Neugier in mir. Soll ich mir Morgen einen Jeep mieten und nach Cofete fahren. Einfach nur so, um mir diese Ville etwas anzusehen? Als Ausflugsziel?“
 
 
 
 
 
 
 
In der Unterwelt                                                                *
 
 
 
 
Sonntag, 28. Oktober
 
Es ist noch früh am Morgen. Gelangweilt betrachtet Alfredo die vorbeifahrenden Autos. Er sitzt im Jeep vor dem Hotel, wartend auf Maria und erblickt sie im Rückspiegel. Sie sieht mit der neuen, dunkelblauen Wanderkleidung chic aus. Ihre braunen Locken wehen im Wind. Als sie einsteigt, wirft sie den Rucksack auf den hinteren Sitz.
 
„Das hat ja lange mit deinem Einkauf gedauert. Hast du alles bekommen, was du kaufen wolltest?“
„Nicht ganz. Zuletzt war ich noch in einem Geschäft für Tauchausrüstungen. Aber auch dort gab es keinen Helm mit Stirnlampe. Einen Klettergurt hatten sie auch nicht. Dafür gab es dort wasserdichte Taschenlampen. Für jeden habe ich zwei Stück gekauft. Wir können je eine davon mit einem Klebeband an unsere Mütze befestigen. Ist das nicht eine gute Idee?“
„Ja, deine Ideen sind immer gut. Was würde ich nur ohne dich und deinen Ideen machen? Übrigens, das Seil konnte ich besorgen. Es liegt hinter uns im Jeep.“
„Schön, dass wenigstens etwas klappte“, sagt Maria und zeigt auf den Himmel.
„Es sieht fast so aus, als wenn wir mit dem Wetter etwas Pech haben werden. Merkst du auch, dass der Wind deutlich heißer wird? Das wird der heiße Südostwind aus der Sahara sein. Der Scirocco. Auch ist es über uns dunstiger geworden. Die Luft ist voller feinem Sand. Eigentlich ist das Klima hier über das ganze Jahr sehr angenehm. Viele bezeichnen daher auch diese Inselgruppe mit: Inseln des ewigen Frühlings. Das Meer wirkt ausgleichend auf die Temperaturen und die sehr heißen Luftmassen aus der Sahara werden von den Passatwinden fern gehalten. Da die Berge sehr niedrig sind, können auch die Wolken darüber hinweg ziehen. Aber wenn der Scirocco kommt, dann ändert sich vorübergehend das Wetter. Merkst du auch den heißen Wind?“
„Ja. Aber meine Gedanken sind jetzt bei dem Gold.“
Er beschleunigt den Wagen und konzentriert sich schweigend auf die staubige Piste. Der Jeep fährt zügig durch die inzwischen bekannte Landschaft. Auf dem Pass trifft sie wieder der heftige Wind. Weiter entfernt werden Wolkenfetzen über den Pass gejagt. Vor ihnen, tief unten liegt der Atlantik. Das Meer hat sich etwas zurück gezogen. Es scheint Ebbe zu sein. Nun geht es bergab. Maria denkt an die gestrige Taxifahrt und hält sich am Türgriff fest. Unten angekommen, biegt der Wagen hinter dem Dorf Cofete rechts ab, fährt an der Villa vorbei in westlicher Richtung. An einem großen Stein kommt er rutschend zum Stehen. Die aufgewirbelte Staubwolke wird vom Wind vertrieben. Mit vereinten Kräften bewegen sie den Stein zur Seite. Der Zuluftschacht erscheint. Nun wird der Jeep so geparkt, dass er direkt am Rand des Loches steht. Alfredo befestigt mit einem Karabinerhaken ein Seilende am Jeep und wirft das andere Ende in den dunklen Schacht.
 
Beide drehen sich um, ihre Blicke schweifen über die Landschaft. Es ist Niemand zu sehen. Sie scheinen die einzigen in dieser einsamen Gegend zu sein. Trotz der Ebbe ist das Meer aufgewühlter als gestern, der Wind weht ihnen das Brausen der Brandung entgegen.
 
Maria sieht Alfredo neckisch an, als sie sagt: „Ab, in den Untergrund. Du kletterst doch vor mir runter, oder?“ Dabei denkt sie an das Buch von Jules Verne „Reise zum Mittelpunkt der Erde“, dass sie als zwölfjähriges Mädchen gelesen hatte. „Wenn wir kleiner wären, dann hätten wir es etwas leichter, in das Loch zu steigen.“
Alfredo antwortet lächelnd: „Du hast wie immer Recht. Kleine Leute haben viele Vorteile. Zum Beispiel werden sie später nass, wenn es regnet. Da ich ein Gentleman bin, werde ich natürlich als erster in die Höhle des Löwen gehen.“
 
Er klettert in das Loch, schließt die Augen, als sein Kopf sich in Geländehöhe befindet, damit der Wind nicht den Sand in die Augen bläst und taucht am Seil ab in die Tiefe. Nach ungefähr sechs Metern hat er Bodenkontakt, leuchtet mit der Taschenlampe nach oben und ruft: „Ich bin gelandet. Jetzt bist du an der Reihe und vergiss die Rucksäcke nicht.“
 
Maria wirft beide Rucksäcke runter. Alfredo fängt sie auf. Nun klettert sie am Seil abwärts, das Alfredo unten noch fest hält. Beide leuchten mit den Taschenlampen ihre Umgebung ab. Sie befinden sich in einer Lavahöhle, die acht Meter lang, vier Meter breit und fast drei Meter hoch ist. Deutlich kann man erkennen, dass der Lüftungsschacht nicht natürlich entstanden ist. Am Schachtrand sind noch Spuren von den benutzen Werkzeugen zu sehen. Ein kühler Luftzug strömt zur Schachtöffnung. Es riecht nach Salzwasser. Am Höhlenende befindet sich ein schmaler, türhoher Spalt, der die Breite einer Person hat. Nacheinander betreten sie diesen Spalt. Die Oberflächen der Felswände sind scharfkantig. Der felsige Boden ist uneben und hat ein abwärts verlaufendes Gefälle. Er ist auch feucht. Nach zwanzig Minuten mündet der Gang in eine große Grotte. Beide setzen sich auf einen Felsvorsprung, um etwas auszuruhen.
 
Alfredo zieht die Augenbrauen fragend nach oben: „Wie fühlst du dich in dieser Unterwelt?“
„Es ist angenehm kühl hier. Aber mir ist etwas mulmig zumute. Vorhin dachte ich daran, was wir wohl machen werden, wenn jemand zu unserem Jeep geht und das Seil aus dem Schacht zieht. Wie kommen wir dann aus der Höhle? Müssen wir hier unten verhungern?“
„Ich werde hier nicht verhungern. Ahnst du jetzt, warum ich dich mitgenommen habe? Als Proviantreserve!“ Maria sieht ihn entsetzt und mit aufgerissenen Augen an. „Sage mir, dass das nicht stimmt…“
„Du brauchst keine Angst zu haben. Das war nur ein schlechter Scherz. In meinem Rucksack habe ich ein zweites Seil. Damit kommen wir im Notfall aus der Höhle. Glaube mir, in dieser einsamen Gegend wird niemand das Seil aus der Höhle ziehen. Übrigens, Ist dir etwas aufgefallen?“
„Meinst du das, das wir immer leicht bergab und in Gebirgsrichtung gegangen sind?“
„Ja. Wir gingen nicht in die Richtung, in der die Villa steht. Sehe dir diese Grotte etwas genauer an.“ Der Schein seiner Taschenlampe wandert an der Felswand entlang. „ Es gibt fünf Gänge, die alle in diese Grotte münden. Neben einem Felsspalt liegt ein großer Stein. Jemand muss ihn dort hingelegt haben. Sicherlich als ein Erkennungszeichen. Durch diesen Gang werden wir weiter gehen.“
Maria betrachtet die Felswände etwas genauer und sagt: „Mir ist noch etwas aufgefallen. Der Boden ist feucht und glitschig. An manchen Stellen gibt es Pfützen und an den Wänden haben sich kleine Muscheln und Schnecken festgesaugt. Woher kommt diese Feuchtigkeit?“
„Das könnte eine Art Grundwasser sein. Vermutlich kommt es aus dem Berg über uns. Einige tief fliegende Wolken bleiben am Berg hängen, die Feuchtigkeit kondensiert, sammelt sich und wird durch Spalten in diese Höhle geleitet. Habe ich das nicht gut erklärt?“
„Ja, so könnte es sein. Das klingt glaubwürdig. Ich dachte schon…“
Alfredo unterbricht sie: „Komm, lass uns weiter gehen.“
Beide betreten den Gang, neben dem der große Stein liegt. Er führt weiter nach unten, verändert aber seine Richtung. „Vermutlich führt er zur der Villa“, denkt Alfredo. Der Boden und auch die Wände sind glitschig. Sie sind noch dichter als in der Grotte mit kleinen Muscheln und Schnecken besetzt. Langsam, um nicht auszurutschen gehen beide weiter. Nach einer halben Stunde verläuft der Gang aufwärts und ist auch trockener. Unterwegs führt sie der Weg durch mehrere kleine Grotten, in die auch verschiedene Gänge aus unterschiedlichen Richtungen münden. Jeweils neben einem Gangeingang in jeder Grotte liegt zur Orientierung ein großer Stein.
 
Nun knickt der Gang ab. Sie gehen um eine Ecke und bleiben überrascht stehen. Vor ihnen ist der Boden völlig eben. Durch den feinen, staubigen Sand sind keramische, dunkelgrüne Fliesen zu erkennen.  Die Wände sind verputzt. Die weiße Farbe ist abgeblättert. In einem größeren Abstand hängen Glühbirnen an der Decke. Sie sind mit einem schwarzen Kabel verbunden. An der rechten Wand befindet sich ein Schalter. Alfredo knipst den Lichtschalter an. Aber ohne Erfolg. Der Schalter hat seine Bedeutung verloren, denn der Strom ist abgeschaltet. Die Gangbreite ist so, dass man nun bequem nebeneinander gehen kann.
 
„Es sieht so aus, als wenn wir in den Teil dieser Unterwelt kommen, der früher von Gästen bewohnt wurde“, stellt Alfredo fest. Auf der linken Gangseite erscheint eine Holztür. Maria drückt die angerostete Klinke runter. Knarrend lässt sich die Tür öffnen. Ein leicht modriger Geruch strömt ihnen entgegen.
 
 
                                                                       *
 
Es ist Sonntagmorgen. Unter der warmen Dusche stehend, denke ich über meine Tagesplanung nach. „Heute ist es mein 15. Urlaubstag. Noch weitere 15 Tage und ich sitze wieder im Flugzeug nach Zürich. Ich könnte später Wasserball spiele. Das wäre eine gute Gelegenheit, um Leute kennen zu lernen.
Auch ein Strandspaziergang mit einer anschließenden, erfrischenden Abkühlung im Meer wäre nicht schlecht. Dann hätte ich auch Zeit, um neue Geschichten zu schreiben.“ Beim Haarwaschen muss ich an Maria mit ihren braunen, langen Locken denken. „Ich miete mir einen Jeep und fahre zur Villa Winter. Ich muss nur aufpassen, dass die beiden mir nicht über den Weg laufen. Wenn es unter der Villa wirklich Gold gibt, dann werde ich mir etwas davon einstecken. Damit könnte ich mir einen zweiten Kiosk in Zürich kaufen.“
 
Gleich nach dem Frühstück steige ich in den inzwischen bestellten Jeep und fahre los. Die Straßenkarte liegt auf dem Sitz neben mir. Nach einiger Zeit erscheint der Leuchtturm. Ich biege rechts ab und fahre auf den Serpentinen hoch zum Pass. Oben angekommen, steige ich aus und staune über die grandiose Panoramaaussicht, die vor mir liegt. Tief unten die schäumende Brandung. Der heftige Wind ist jedoch ungemütlich und so stark, dass ich bald wieder in den Wagen steige.
 
Bei der Bergabfahrt merke ich, wie die Gier nach dem Gold mich ergreift. Im Dorf halte ich nicht an und sehe, als es hinter mir liegt, rechts von mir ein altes Landhaus. Es ist einige hundert Meter entfernt. „Das muss die Villa Winter sein.“ Langsam fahre ich auf das Gebäude zu, erreiche es und fahre um das Gebäude. Auf der Rückseite, vor einem offenstehenden Tor halte ich an. Ein Blick in den Innenhof sagt mir, dass die Villa bewohnt sein muss. Zwischen kleinen, zwei meterhohen Palmen ist eine Wäscheleine gespannt. Die bunte Wäsche flattert im Wind. Der Garten ist verwildert. Ich starte den Motor und fahre weiter, um die Gegend zu erkunden. „Wenn die Villa bewohnt ist, werde ich nicht an das Gold kommen.“ Plötzlich erblicke ich, weit vor mir einen Jeep, mitten im Gelände stehend.
 
„Jens, sei vorsichtig. Das könnte auch der Wagen von Maria und Dietrich sein. Am besten, du fährst in einem großen Abstand daran vorbei“, denke ich und merke, dass mein Puls schneller schlägt. In einiger Entfernung bin ich nun auf der gleichen Höhe mit dem anderen Jeep. Es sind keine Insassen zu sehen. „Vielleicht sind sie ins Meer gegangen, um sich abzukühlen? Nein, das kann nicht sein. Zum Baden ist die Strömung hier viel zu gefährlich. Auch steht der Wagen zu weit vom Meer entfernt. Aber wo ist der Fahrer? Vielleicht hat der Motor einen Defekt und die Insassen sind weiter zu fuß bis zum Dorf Cofete gegangen?“
 
Nun leite ich eine Kurve ein und fahre langsam, direkt auf den anderen Jeep zu, halte an, steige aus und sehe das Loch auf dem Boden neben dem Jeep. Das mit einem Karabinerhaken befestigte Seil verschwindet in dem Schacht. Auf dem Boden gibt es Schleifspuren, die bis zu dem großen Stein führen. Der Stein liegt nur etwas über einem Meter von dem Loch entfernt. Ich werfe einen Blick in den Jeep. Alles ist mit feinem Sandstaub bedeckt. Auf der Fahrerseite am Boden glitzert etwas. Ein Speicherstick. Er muss unbemerkt aus der Tasche gerutscht sein. Ich hebe ihn auf und stecke ihn ein.
 
„Ich bin mir sehr sicher, dass dieser Jeep Maria und Dietrich gehört. Alle Indizien sprechen dafür. Sie haben den Zuluftschacht gefunden, der zur Tarnung mit dem Stein verdeckt war. Beide sind jetzt unten und suchen nach dem Gold. Ich werde wiederkommen, wenn die beiden weg sind. Gut, dass ich jetzt weiß, wo der Zuluftschacht sich befindet. Nun kann die Rückfahrt beginnen.“
 
Meine rechte Hand ist am Zündschlüssel, ich drehe ihn, aber es macht nur „Klick“. Auch der zweite Versuch ist erfolglos. „So viel Pech kann doch kein Mensch haben. Der verdammte Motor springt einfach nicht an. Wenn die beiden jetzt aus dem Schacht klettern und mich hier entdecken, dann bin ich ihnen ausgeliefert. Sie werden mich töten, in das Loch stecken und dieses mit dem Stein abdecken. Besser als gar nichts, würde mein Freund Dario in Zürich sagen. Aber darauf möchte ich jetzt gerne verzichten.“ Der Angstschweiß bildet sich auf meiner Stirn. Er läuft mir in die Augen. Es brennt. Mit dem Handrücken wisch ich ihn ab und den Gedanken an das Gold weg. Bei dem dritten Versuch, den Motor zu starten, springt er sofort an. Erleichtert trete ich auf das Gaspedal. Bis ich an der Villa vorbei fahre, blicke ich ständig in den Rückspiegel. Aber von den beiden ist keine Spur zu sehen.
 
Nach dem windigem Pass und der Abfahrt auf den Serpentinen steht rechts von mir der weiße Leuchtturm. Der Jeep wird in der Nähe von ihm geparkt. Ich spiele mit dem Gedanken, mich an die Klippen zu setzen und in mein Skizzenbuch einige Aquarellbilder von dieser Gegend zu malen. Die Strukturen, die durch das Salzwasser beim Malen entstehen, faszinieren mich immer wieder. Die Gedanken wandern dann aber zu Maria und Dietrich. „Wenn die beiden zurückfahren und mich hier sehen, denken sie bestimmt, dass ich sie verfolgen würde. Dem möchte ich lieber aus dem Weg gehen.“ Also wird wieder der Motor gestartet und die Fahrt geht weiter, Richtung Hotel.
 
  
                                                                   *
 
 
Die Tür öffnet sich knarrend. Maria und Alfredo betreten langsam den Raum und leuchten ihn mit den Taschenlampen ab. Unter den Schuhen knirscht der Sand. Sie stehen in einer Lavagrotte, die etwas über vier Meter hoch und acht Meter breit ist. Die Wände haben umlaufend einen zwei Meter hohen weißen Anstrich, der das Taschenlampenlicht reflektiert. Die restlichen Flächen sind naturbelassen und dunkelbraun. An der Grottendecke hängen einige Lampen. Sie sind von Spinnweben umhüllt. Der Boden ist mit den gleichen Fliesen wie sie im Flur sind belegt.
 
An den Wänden gibt es fünf, fast gleichmäßig verteilte, natürliche, raumhohe Felsspalten. In allen sind Holztüren eingebaut. Die Flächen seitlich und über den Türen sind mit Lavasteinen zugemauert. In Raummitte steht ein großer, runder Holztisch mit sieben Stühlen. Vor den Wänden befinden sich einige Holzregale mit eingestaubten Büchern und Unterlagen. Ein alter Lederkoffer steht vor einem Regal. Gleich neben der Eingangstür gibt es eine Kochgelegenheit.
 
Alfredo legt seine Hand auf die Schulter von Maria: „Lass uns diesen Raum später untersuchen und erst nachsehen, wohin der Gang hinter uns führt.“
„Bestimmt zum Keller der Villa Winter.“
„Ja, das vermute ich auch.“
 
Sie verlassen den Raum und gehen weiter den Gang entlang. Nach einer Krümmung stehen sie vor einer Treppe, die nach oben führt und gegen die Decke stößt. Früher muss hier ein Ausgang gewesen sein, der jetzt zubetoniert ist. Die Treppe ist halb so breit wie der Gang, so dass man an ihr vorbeilaufen kann. Kurz danach hört der Gang auf. An der Querwand sind die Umrisse einer Tür zu erkennen. Die Türöffnung ist zugemauert. Auf dem Rückweg zur Grotte sagt Maria: „Hinter der zugemauerten Türöffnung wird der Keller von der Villa Winter sein. Wenn die Villa nicht bewohnt wäre, hätten wir uns Werkzeuge besorgen können, die Tür aufgebrochen und wären dann sofort hier gewesen. Dann hätten wir uns auch den langen Weg durch diese Katakomben gespart.“
 
„Du hast Recht. Aber bevor wir die Tür aufgebrochen hätten, hätte ich die Bewohner erdrosseln müssen, damit sie uns nicht stören.“ Bei diesem Gedanken lässt Alfredo wieder die acht Männer und zwei Frauen Revue passieren, die er bisher mit dem Stahldraht von seinem Ring erdrosselt hat. Ein zufriedenes Lächeln umspült sein Gesicht. Es strahlt, im Gegensatz zu seiner Taschenlampe. Schnell lässt das Licht nach und erlischt. Er legt sie auf den Boden, holt die andere Taschenlampe aus dem Rucksack und knipst sie an.
 
„Ich benutze auch schon meine zweite Lampe. Die erste gab vorhin ihren Geist auf“, sagt Maria mit einem sorgenvollen Gesichtsausdruck.
„Wir müssen sparsam mit den Batterien sein. Am besten, wir leuchten jetzt nur mit meiner Lampe, um die Batterien zu schonen.“
 
In der Grotte setzt sich Maria an den staubigen Tisch. Alfredo geht an ihr vorbei bis zur ersten, im Felsspalt eingebauten Tür. Sie wird quietschend geöffnet. In der Höhle vor ihm sind die unebenen, felsigen Wandflächen weiß angestrichen. Auf dem Boden befinden sich die gleichen Fliesen wie in der Grotte und im Flur. Rechts ist ein Bett, auf dem dunkle Stoffreste liegen, zu sehen. In Höhlenmitte steht ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Gegenüber vom Bett befindet sich ein Schrank mit einer offenen Tür. Er ist leer. Die vier restlichen Räume sehen ähnlich aus, mit gleicher spartanischer Möblierung. Der fünfte Raum ist jedoch etwas enger. Die Felswände sind raumhoch mit weißen Ziegeln verkleidet.
 
„Vom Gold ist keine spur zu sehen. Schade. Das wäre ja sonst auch zu schön gewesen. Maria, lass uns den Rückweg antreten. Beide haben schon die Tür erreicht, als Alfredo ruckartig stehen bleibt.
 
„Warum bleibst du stehen?“
„In der fünften Höhle sind die weißen Ziegel nicht mit Mörtel untereinander verbunden. Sie liegen nur aufeinander geschichtet übereinander. Die möchte ich mir noch etwas genauer ansehen. Denn eigentlich haben diese Ziegel doch überhaupt keine Funktion.“ Während er das sagt, geht er zurück zur fünften Höhle und holt sein Taschenmesser aus dem Rucksack. Am Ziegel wird etwas weiße Farbe abgekratzt. Ein goldener Glanz erscheint. Alfredo brüllt in ihr erschrockenes Gesicht: „Maria, wir haben das Gold!“
 
Sie rennt zu ihm und starrt ungläubig und gierig auf den goldenen Kratzer, sagt dann aber: „Dann hat sich der Ausflug ja doch gelohnt. Lass uns zurück zum Ausgang gehen. Ich möchte endlich wieder das Tageslicht sehen.“
„Soll ich einen Barren mitnehmen, nur so, als Andenken?“
„Nein, mach das nicht. Die sind viel zu schwer. Jeder wiegt bestimmt zwanzig Kilo und beim Zoll musst du dich sowieso von ihm trennen.“
„Du hast mich überzeugt. Komm, wir treten jetzt die Rückreise an.“
 
Sie gehen durch den dunklen Gang und angetrieben von der Sehnsucht nach dem Tageslicht, schneller als auf dem Hinweg. Schon über eineinhalb Stunden sind sie hier unten. Als sie in die ersten Grotten kommen, in denen verschiedene Gänge abzweigen, finden sie sofort den richtigen Gang und gehen weiter.
 
„Huch, ich bekomme nasse Füße! Hier ist eine große Pfütze, die vorhin noch nicht da war“, ruft erschrocken Maria. Der Schein der Taschenlampe richtet sich auf den Boden und spiegelt sich im Wasser.
„Maria, jetzt weiß ich, warum auf dem Boden und an den Wänden überall Schnecken und kleine Muscheln sind. Die Pfützen, die wir auf dem Hinweg gesehen haben, stammen nicht vom Grundwasser, sondern vom Meerwasser. Wir stiegen bei Ebbe in die Höhle. Jetzt kommt die Flut. In dem Höhlensystem muss es eine Verbindung zum Meer geben.“ Ein beklemmendes Schweigen macht sich breit und ein leises, gurgelndes Plätschern ist zu hören. Ihre Schritte beschleunigen sich.
 
Maria spürt, dass die Angst ihr im Nacken sitzt und ein leichtes Grauen sie erreicht. Zitternd sagt sie: „ Sollen wir nicht besser umkehren und warten, bis wieder die Ebbe kommt?“
„Nein. Dazu ist es jetzt zu spät. Wir sind schon viel zu weit vorgedrungen. Lass uns beeilen und versuchen zu rennen.“
 
Das Wasser steigt schnell an. Es hat fast schon Kniehöhe erreicht und spritzt, durch die eiligen Fußbewegungen klatschend gegen die seitlichen Felswände. Das Rennen durch das kalte Wasser ist anstrengend. Deutlich ist das Keuchen zu hören. Hinter ihnen ist es schwärzer als in einer sternenlosen Nacht. Vor ihnen flackert das Licht der Taschenlampe. Maria rutscht aus. Ihr Kopf streift die Felswand. Sie taucht unter, richtet sich aber gleich wieder auf, um weiterzurennen. Die Schürfwunde an der Wange brennt vom Salzwasser, das jetzt bis zu den Hüften angestiegen ist. Die schnellen Bewegungen werden vom Wasser gebremst. Es geht langsamer vorwärts. Die Hände sind klamm.
 
„Wenn das Wasser noch etwas ansteigt, müssen wir schwimmen“, ruft Alfredo, die Taschenlampe hochhaltend. Keuchend geht es weiter. Nun ist das schwarze Wasser bis auf Brusthöhe angestiegen. Sie schwimmen. „Gut, dass die Taschenlampe wasserdicht ist“, denkt Alfredo. Maria wirft einen Blick gegen die Decke. Sie ist scharfkantig und mit Schnecken und Muscheln besetzt. Ein Zeichen dafür, dass das Wasser bis zur Decke ansteigen wird. Der Abstand zwischen dem Wasser und der Decke beträgt noch achtzig cm. „Wenn wir hier nicht bald raus kommen und das verdammte Wasser noch weiter ansteigt, werden wir unsere Rücken an der scharfkantigen Decke aufschlitzen, noch bevor wir ertrinken“, denkt Maria in panischer Angst. In ihrem kreideweißen  Gesicht spiegelt sich ein bestialisches Grauen.
 
Das gurgelnde Plätschern des ständig ansteigenden Wassers wird durch den Ruf von Alfredo übertönt: „Maria, da vorne ist die große Grotte, in der wir uns ausruhten, als wir hier eingestiegen sind. Nur noch zwanzig Minuten und wir haben den Ausgang erreicht.“ Ihre Köpfe sind jetzt vierzig cm von der Decke entfernt. In der Grotte wandert der Schein der Taschenlampe an den Felswänden entlang. Nur der obere Bereich von den fünf Felsspalten, die in die Grotte münden, ist zu sehen.
 
In völliger Ratlosigkeit sagt Alfredo: „Ich weiß nicht, durch welche Spalte wir schwimmen müssen, um den Ausgang zu erreichen. Ich bin mir fast sicher, die vor uns muss die richtige sein. Komm, beeil dich“. Schon nach wenigen Metern bemerkt er die Enge in der Felsspalte und streift seinen Rucksack ab, der lautlos im schwarzen Wasser versinkt. Er dreht sich zu Maria um. „Ich habe mich gerade von meinem Rucksack getrennt. Du solltest das auch machen.“ Nun dreht er seinen Kopf wieder nach vorne. Im gleichen Augenblick durchdringt ein heller, grässlicher Schrei die Höhle. Der Schock fährt, wie ein Blitz, mehrmals durch Marias Körper. Sie zittert.
 
„Was ist passiert?“, ruft sie mit ängstlicher Stimme. Bevor Alfredo antwortet, hört sie sein Stöhnen. Das schmerzverzehrte, blutende Gesicht sieht sie nicht. „An der Decke sind spitze Felsstücke, die nach unten ragen. Pass auf, dass du nicht gegen sie stößt. Sie sind messerscharf.“ Während er weiter schwimmt, wischt er sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Auge. Er beisst die Zähne zusammen. Die Schmerzen im Gesicht werden stärker.
 
Maria fällt auf, dass der Abstand zwischen ihren Köpfen und der Decke größer wird. Beim Schwimmen hat sie auch wieder Bodenkontakt mit den Füßen. Das Gefälle in dieser Höhle scheint aufwärts zu gehen. Der Wasserspiegel nimmt ständig ab. Er hat nur noch eine Höhe von dreißig Zentimeter. Sie können jedoch nicht aufrecht gehen, da die Deckenhöhe zu tief ist. Der enge Felskanal, in dem sie sich befinden, hat einen Durchmesser von etwa sechzig Zenzimeter. Krabbelnd geht es weiter.
 
Plötzlich lässt der Schein der Taschenlampe nach. „Maria, die Batterien hauchen ihren letzten Atem aus. Gib mir bitte deine Lampe.“
„Hoffentlich hauchen wir hier unten nicht auch unseren letzen Atem aus“, denkt Maria und ruft ihm zu: „Meine Taschenlampe ist im Rucksack und der befindet sich am Eingang von dieser Felsspalte. Aber auf dem Grund.“
„Diese Spalte hier führt nicht zum Ausgang. Wir haben die falsche erwischt. Wir hätten die andere nehmen sollen, die gleich links neben dieser ist.“
Die kleine Birne hört auf zu glühen. Es ist stockdunkel, wie in einer Grabkammer. Nur das keuchende Atmen ist zu hören. Beide liegen im flachen Wasser, den Kopf nach oben gestreckt.
Verärgert sagt Alfredo: „Lass uns hier warten, bis die Ebbe kommt. Dann krabbeln wir zurück und gehen in die andere Spalte. Vorher suchen wir noch deinen Rucksack mit der Taschenlampe.“
„Und wenn das Wasser weiter ansteigt?“
„Dann haben wir nur noch eine Chance. Wir müssen weiter krabbeln und hoffen, dass der Kanal wieder größer wird. Vielleicht finden wir eine Luftblase.“
„Was machen wir aber, wenn der Kanal immer enger wird und wir darin steckenbleiben?“
„Dann haben wir Pech gehabt. Aber mach dir bloß keine Sorgen. Denke positiv.“ Alfredo hat aufgehört, sich das Blut aus dem Gesicht und dem Auge zu wischen, denn in der Dunkelheit kann er sowieso nichts sehen.
 
In Gedanken sieht Maria, wie das Wasser ansteigt, sie weiter sich nach vorne rutschend bewegt und dann in dem engen Kanal steckenbleibt. Die Platzangst kommt zu ihr. Das Herz schlägt schneller. Es fängt an zu rasen. Auch meint sie zu sehen, wie immer mehr Krebse gierig ihre Mundwerkzeuge putzen. Einige besuchen sie, um an ihr zu naschen und in den Mund krabbeln, nachdem sie bewusstlos geworden ist. Ihr Gesicht erstarrt.
 
 
                                                                       *
 
Die Rückfahrt führt mich wieder durch den Ort Morro Jable. Vor einem Geschäft für Tauchausrüstungen kommt der Wagen zum halten. Ich betrete den Laden. Ein freundlicher Spanier mit dunkler Sonnenbrille und sommerlicher Kleidung begrüßt mich. Auf meine Frage nach einem Seil sagt er: „Seile verkaufe ich sehr selten. Die Nachfrage ist gering. Heute Morgen kam ein Tourist zu mir, der ein Seil kaufte. Sie sind jetzt der Zweite, der ein Seil haben möchte.“
„Was für ein Seil hat er denn gekauft?“
Der Spanier geht in den hinteren Raum, kommt mit einem aufgerollten Seil zurück und legt es auf den Tresen. Gerade, als er mir die Seileigenschaften erklären will, denke ich: „ Bestimmt war Dietrich der morgendliche Seilkäufer“ und sage zu ihm: „Dieses Seil kaufe ich.“
 
Das Seil wandert auf den Rücksitz vom Jeep und weiter geht die Fahrt zum Hotel. Unterwegs wundere ich mich über einen Taxifahrer, der mich kurz vor einer Haarnadelkurve mit überhöhter Geschwindigkeit überholt. Er erreicht die  Kurve. Mit quietschenden Reifen verschwindet er aus meinem Blickfeld. „Ob der Taxifahrer denkt, im Leben geht es nicht immer gerade aus. Erst die Kurven machen das Leben Interessant?“ Der Himmel über mir ist dunstig, bis zum Horizont. Schon seit heute Morgen. Die Luft ist voller feinem Sand. Es ist auch heißer geworden. Der Wind ist sehr Warm. „Das wird der Scirocco sein. Wenn er kommt, dauert es immer etwas über eine Woche, bis das Wetter sich wieder bessert. Aber besser ein schlechtes Wetter, als gar kein Wetter, oder?“
 
Nach einem Berg erscheint rechts von mir, noch weit entfernt, das Hotel und im Vordergrund die Dünenlandschaft. Sie ist so hell, dass sie mich blendet und an Schnee erinnert. Das Weiße Hotel hebt sich deutlich vom dunstigen, bläulichem Himmel ab. In der schattigen Hotelvorfahrt wird der Wagen geparkt und das Seil in den Rucksack gesteckt.
 
An der Rezeption erhalte ich den Zimmerschlüssel. Plötzlich höre ich hinter mir eine kräftige Männerstimme, die „Hallo“ ruft. Die Stimme kommt mir bekannt vor.
 
„Dietrich?“ schießt es mir durch den Kopf. Mein Atem stockt. Das Blut gefriert mir in den Adern. Die Knie werden weich. Mit einer Hand halte ich mich am Tresen der Rezeption fest. „Das ist die gleiche Stimme wie die von Dietrich. Ich dachte, er ist in der Höhle. Wie kommt er so schnell hier her? Was will er von mir? Warum sucht er mich?“ Langsam drehe ich mich um. Ein junger Mann vom Animationsteam winkt mir freundlich zu.
„Ja, dich meine ich. Ich suche noch dringend jemand für das Wasserballspiel, machst du mit?“
Unendlich erleichtert rufe ich: „Ja, ich komme gleich mit.“ Der Spielverlauf ist  spannend. Im Wasser gebe ich mein Bestes. Meine Gedanken sind nur bei dem Kampf. Wir gewinnen mit 5:2. Zufrieden und erschöpft steige ich aus dem Wasser und greife nach dem Handtuch. Beim Abtrocknen fällt mein Blick auf einen Mann. Er ist Mitte zwanzig, schlank, mit blonden kurzen Haaren und etwas kleiner als ich. Er kommt direkt auf mich zu. Seine blauen Augen leuchten, als er mir die Hand entgegen streckt und sagt:
„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Bernd. Ich war einer Deiner Gegner und möchte dir zum Sieg gratulieren. Wie ein Löwe hast du gekämpft. Bestimmt spielst sehr oft Wasserball, oder?“
„Vielen Dank! Aber der Sieg gehört der ganzen Mannschaft. Er ist nicht das Ergebnis eines Einzelnen. Mein Name ist Jens. Nein, Wasserball spiele ich selten. Aber manchmal spiele ich gerne mit. Dabei sein ist alles.“
„Ich bin etwas in Eile, Freunde warten auf mich. Bestimmt sehen wir noch öfters“, sagt Bernd und geht dann  mit schnellen Schritten Richtung Hoteleingang.
 
Am späten Abend sitze ich in der Hotelbar. Die Musik ist angenehm leise, nicht aufdringlich. Wortfetzen treffen mich aus unterschiedlichen Richtungen. Vor mir steht ein Glas Veterano, noch halbvoll. Den im Jeep gefundenen Speicherstick habe ich vorhin in meinen Koffer gelegt. „Wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich gleich nachsehen, was sich darauf befindet.“ Die Person links von mir dreht sich zu mir um und sagt: „Jens, was machst du den hier? Das ist ja eine Überraschung.“
„Hallo Bernd, ich habe dich nicht erkannt. Wie gefällt dir das Hotel?“
„Mir gefällt es gut. Alles ist so, wie es sein sollte. Es tut mir leid, dass ich vorhin so schnell verdunstet bin, aber ich wollte meine Freunde nicht warten lassen.“
„Es ist alles in Ordnung. Das kann ich gut verstehen. Wie lange wirst du deinen Urlaub hier verbringen?“
„Vermutlich werde ich noch zwei, oder drei Tage hier sein. Ich bin nicht aus Urlaubsgründen hier, ich gehöre zu einer kleinen Gruppe, die einen Film über Fuerteventura dreht.“
„Das hört sich wirklich interessant an. Erzähle mir etwas darüber.“
„Mit mir sind wir vier Personen. In den letzten zwei Tagen haben wir einen Bericht über die boat people erstellt. Jetzt drehen wir einen Film über Fuerte, mit dem wir aber schon fast fertig sind. Morgen früh werden wir noch einige Aufnahmen von der Westküste machen, in der Nähe von Cofete. Kennst du die Gegend bei Cofete?“
„Ja. Heute war ich dort, um mir die Landschaft anzusehen.“
„Hast du auch mal etwas über die boat people gehört, die hier auf Fuerte landen?
„In der Zeitung habe ich einen Artikel darüber gelesen. Was ich gelesen habe, war schrecklich. Die Ursache für diese lebensgefährliche Reise über das Meer ist das große Gefälle zwischen Arm und Reich.“
„Ja, so ist das. Alle haben, bevor sie von der Küstenwache aufgegriffen werden, sehr viel Geld für diese Überfahrt bezahlt. Genauso viel wie die Touristen, die hier eine Woche lang Urlaub machen, in einem vier Sterne Hotel, mit Meerblick und einem All- inclusive- Service.“
 
Bernd macht eine Pause, trinkt einen Schluck Bier, um dann weiter zu sprechen:
 
„Auch die boat people haben bei ihrer Überfahrt von Westafrika nach Fuerte einen Meerblick, den sie jedoch nicht genießen. Die Reise mit einer kleinen Nussschale dauert zwei bis vier Tage. Die Nächte sind kalt, die Boote überladen und hohe Wellen schwappen in das Innere. Die Kleidung wird nass und die Leute frieren. Dieses Jahr kamen schon über 1.300 Flüchtlinge hier an. Es werden auch Ertrunkene an die Strände gespült.
 
Diese kleinen Boote werden von den Spaniern „Pateras“ genannt. Vor einigen Jahren fuhren sie noch durch die Meerenge von Gibraltar. Als dann die Spanische Südspitze abgeschottet wurde, bekam die Küstenwache der Guardia Civil hier zusätzliche Arbeit. Besonders Anfang September, wenn die Passatwinde nicht so heftig wehen und das Meer ruhiger ist.“
 
Nach einer weiteren Pause: „Seit das System „Sive“, das ist ein Überwachungssystem, hier installiert wurde, gibt es keine unentdeckte Ankünfte der Boote mehr…“
 
Ich unterbreche ihn mit meiner Frage: „Wohin werden die boat people, die diese Insel erreichen gebracht?“
 
„Die aufgegriffenen, illegalen boat people werden zu einem ehemaligen Militärgefängnis gebracht. Es hat jetzt die Funktion als Auffanglager. Aber das besonders schlimme ist, dass manche Boote zu einer Stelle auf dem Meer, die 15 bis 25 Meilen südlich von Morro Jable liegt, treiben. Die Einheimischen  bezeichnen diese Bereich als „Point of no Return“. Die Boote werden dann durch die Strömung raus auf das offene Meer getrieben. Ich möchte nicht wissen, wie viele dort bei hohem Wellengang untergegangen sind. Viele der Leute können auch nicht schwimmen. Ist das nicht alles schrecklich?“
„Ja, das ganze ist wirklich schrecklich. Wir sind aber an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Durch die Ausbeutung der Rohstoffe in der Kolonialzeit wurde eine Monostruktur aufgebaut. Auch die Ländergrenzen wurden willkürlich gezogen. Sie orientieren sich nicht an dem Lebensbereich  ethnischer Gruppen. Dadurch entstehen noch zusätzliche politische Spannungen. Bernd, ich denke…“
 
„Jens, ich unterbreche dich ungern. Bitte verzeihe mir, aber es ist schon fast Mitternacht. Mein Bett wartet auf mich. Wenn du Lust hast, nehme ich dich Morgen gerne mit. Wir werden die Aufnahmen sehr früh machen, weil es dann ein besonderes Licht gibt, das wir einfangen möchten. Ich werde um sieben Uhr von meinen Freunden abgeholt. Möchtest du mitkommen?“
„Ja, sehr gerne. Danke. Ich werde Morgen pünktlich um sieben Uhr an der Rezeption sein.“
Bernd steht auf, schiebt seinen Barhocker ordentlich an den Tresen und verabschiedet sich von mir. In der Bar sind nur noch wenige Gäste. Die Hintergrundmusik strömt noch immer durch den Raum.
 
Auch ich verlasse bald die Bar und denke beim Einschlafen an den Begriff „Point of no Return“. Könnten auch die unterirdischen Gänge unter der Villa Winter so ein Punkt ohne Wiederkehr sein?
 
 
 
                                                                      
Der Unfall
 
 
Montag, 29. Oktober
 
Noch müde, stehe ich an der Rezeption, wartend auf Bernd. Die große Uhr in der Eingangshalle zeigt 6:44 Uhr an. Der Sekundenzeiger bewegt sich, als hätte er Angst, stehen zu bleiben. Ich bin etwas zu früh hier und völlig alleine. Draußen verabschiedet sich die Dämmerung. Der Tag wartet auf seinen Auftritt. Meine Gedanken schweifen zu den unterirdischen Gängen und zu dem Begriff „Point of no Return“. Die Gänsehaut besucht mich aus einem Grund, der mir noch völlig unklar ist. „Soll das ein Schicksalswink sein? Ein Zeichen dafür, dass ich nicht in den Lüftungsschacht klettern soll? Heute habe ich das sowieso nicht vorgehabt. Aber ich habe gelernt, auf mein Bauchgefühl zu achten.“ Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass Bernd gleich kommen wird. „Ich werde nicht in das Loch klettern“, sage ich flüsternd zu mir. „Das Seil werde ich…“
 
„Hallo, du Frühaufsteher“, ruft Bernd mir zu, als die Aufzugstüren sich zur Seite schieben. „Wartest Du schon lange auf mich?“
„Erst einige Minuten.“
„Komm, lass uns rausgehen. Vielleicht sind meine Freunde schon da.“ In jeder Hand  hält er eine große Reisetasche mit blau- weißen Streifen. „In den Taschen habe ich meine Kameraausrüstung. Die Klamotten sind ganz schön schwer.“
 
Seitlich von der Hotelvorfahrt steht ein roter Jeep und davor drei Personen. Wir gehen zu ihnen. Bernd begrüßt sie sofort:
 
„Ihr seid ja heute wirklich pünktlich. Ich habe jemand mitgebracht. Das ist Jens. Er macht hier Urlaub und möchte uns begleiten. Jens, die Dame mit den verwaschenen Jeans, dem blauen  T- Shirt und den langen, schwarzen Haaren ist Dagmar. Sie ist für die Regie verantwortlich. Boris, das ist der Kerl mit dem schwarzen Vollbart, ist ihre rechte Hand. Jonas und ich bilden das Kamerateam. Wir kümmern uns auch um die Szenenbilder und visuellen Effekte. Für den Ton ist Boris zuständig. Die Filmschnitte und restlichen Arbeiten werden erledigt, wenn wir wieder in Deutschland sind.“ Dann ergänzt Bernd lachend: “Das Exposé und das anschließende Drehbuch hat Dagmar uns eingebrockt.“
 
Sofort antwortet sie: „Noch so einen Satz und das nächste Mal darfst du zu Hause bleiben.“
„Das war doch nur ein Spaß.“
„Ich weiß.“
Nach einer allgemeinen Begrüßung setzen wir uns in den Wagen.
 
Dagmar fährt sehr zügig. Die Landstriche mit ihren Dünen fliegen vorbei. Ich sitze auf dem Rücksitz, eingeklemmt von Bernd und Boris. Der Wind streichelt unsere Gesichter. Ein Hund überquert die Straße. Dagmar bremst kurz ab. Bernd dreht seinen Kopf zu mir: „Der sah so aus wie meiner.“
„Hast du ihn auch gut erzogen?“
„Klar, er macht alles, was ich ihm sage. Wenn ich rufe – komm, oder komm nicht, dann kommt er, oder er kommt nicht.“
„Ist er auch stubenrein?“
„Am Anfang machte er in die Ecke vom Wohnzimmer. Sofort habe ich ihn mit seiner Schnauze da rein gesteckt und aus dem Fenster geworfen. Jetzt steckt er immer seine Schnauze von alleine da rein und springt anschließend freiwillig aus dem Fenster. Übrigens, ich wohne im fünften Stock.“
„Soll ich dir das alles glauben?“
Bernd antwortet nicht, sieht mich aber mit einem frechen Grinsen an.
 
Der weiße Leuchtturm ist schon hinter uns. Die Steine auf der Piste schlagen gegen den Unterboden. Das schlimmste ist aber der Staub. Er dringt in alle Poren. Es geht bergauf. „Diese Landschaft ist wie eine Lebenslandschaft. Mit Hochs und Tiefs. Reizvollen und öden Landstrichen…“ Ich fange an zu träumen und hänge meinen Gedanken nach.
 
Ein plötzlicher, greller Schrei von Dagmar dringt wie eine spitze Nadel in meinen Körper. Schlagartig bin ich hellwach und sehe nach vorne. Durch die Windschutzscheibe. Auf die Piste. Ein Jeep rast auf uns zu. Jonas greift vom Beifahrersitz an das Lenkrad und reist es nach rechts. Staub wirbelt auf. Der Wagen springt wie ein Kenguruh auf die seitliche Düne. Schleudert hoch, bleibt ruckartig stehen. Die Räder drehen sich noch im Sand. Wir sind alle kreideweiß. Wie in einer Geisterbahn. Die Tachonadel vom Puls schnellt bis zum Anschlag hoch. Der Schock krallt sich in unsere Körper.
 
Von dem anderen Jeep ist außer einer Staubwolke nichts mehr zu sehen. Langsam und benommen steigen wir aus. Das Frühstück von Boris erblickt wieder das Tageslicht. Das Gesicht von Dagmar ist noch angstverzehrt. Darin spiegelt sich grenzenlose Wut. Wir setzen uns auf die Düne. Die Steine darin sind spitz.
 
Dagmar haucht leise: „Es waren zwei.“
„Ich habe nur einen Jeep gehen“, sage ich, mehr zu mir und wische den Angstschweiß ab.
„Zwei Insassen. Ein Mann und eine Frau.“ Die Worte sind so leise, dass ich sie fast nicht hören kann.
 
Nach einer langen Pause schieben wir den Wagen schweigsam runter auf die Piste. Der Schock ist noch immer in uns. So, als ob er ein neues Zuhause sucht. Die Fahrt geht weiter. Jetzt sitze ich am Steuer. Aber nicht alleine. Der Schock ist immer noch in mir.
 
Behutsam fährt der Wagen den Berg weiter hoch. Ich konzentriere mich auf die staubige und steile Piste. Meine Gedanken auf dem gerade noch entkommenen Unfall. „Wir haben Glück gehabt. Das hätte alles auch anders ausgehen können. Warum hatten es die Leute in dem Jeep so eilig? Dagmar hat zwei Personen im Jeep gesehen. Einen Mann und eine Frau. Könnte es nicht sein, dass das Maria und Dietrich waren? Aber warum hatten sie es so schrecklich eilig? Es muss irgendetwas passiert sein. Ein Unfall? Einer von beiden muss sich verletzt haben und das war ihre Fahrt zum Krankenhaus. Und warum waren beide über Nacht in der Höhle? Aus romantischen Gründen? Wohl kaum. Da ich keine Beweise für ihre Verbrechen habe, kann mir das egal sein. Jens, konzentriere dich auf die Piste.“
 
Der Motor schnurrt gleichmäßig. Wir erreichen den Pass mit der traumhaften, windigen Aussicht, als Bernd mir zuruft: „ Jens, wir haben unser Ziel erreicht. Fahre noch ein Stück nach rechts, dort gibt es eine Parkmöglichkeit.“
 
Zu Fuß gehen wir noch ein ganzes Stück weiter. Bernd und Boris tragen die Ausrüstung. Zwei Stative mit Kameras werden aufgebaut. Bernd erklärt mir ihre Arbeit, bevor sie damit beginnen. Der Schock hat sich aufgelöst. Sicherlich sucht er sich ein anderes Zuhause. Ich setzte mich auf einen Felsen und blicke nach unten. Das Gelände fällt steil ab. Die Ebbe ist da. Das Meer hat sich ein ganzes Stück zurück gezogen. Es ist dunstig. Der Horizont ist verwaschen und nicht deutlich zu erkennen. Weit draußen befindet sich ein kleiner, weißer Punkt. Das muss ein Segel-, oder Fischerboot sein. Links von mir, tief unten liegt die Villa Winter.
 
Es wird nur noch eine Kamera benutzt. Die andere steht frei auf dem Stativ. Ich werfe einen Blick durch das Objektiv, schwenke sie und suche die Villa. Jetzt sehe ich sie und zoome sie näher heran. Sogar ein Teil der im Wind flatternden, bunten Wäsche im Innenhof ist zu erkennen. Der Rest wird durch die kleinen Palmen verdeckt. Nun richte ich die Kamera auf den weißen Punkt, der sich weit draußen auf dem Meer befindet. Wieder zoome ich alles zu mir heran und sehe Details, die mit dem bloßen Auge nicht erkannt werden. Völlig fasziniert betrachte ich das Segelschiff. Es ist klein und hat nur einen Hauptmast. Der Wind liegt voll in den Segeln. Die Wellen spritzen gegen den Bug. Zwei Personen sind zu erkennen. Sie fahren parallel zur Küste.
 
Die Kamera wird nun langsam, weit nach rechts geschwenkt. Über das Objektiv blickend, suche ich mir ein neues Ziel. Ungläubig starre ich auf etwas, dass ein Jeep sein könnte. Das Objektiv wird darauf ausgerichtet. Der Gegenstand herangezoomt. Es ist der Jeep von Maria und Dietrich. Er steht genauso da, wie ich ihn gestern verlassen hatte. Ich erkenne auch den Zuluftschacht und den Stein, der daneben liegt.
 
„Jens, entschuldige bitte, aber ich muss noch mal kurz an diese Kamera.“ Ich mache für Bernd Platz und setze mich an einen großen Felsen, der mir auch Windschutz bietet.
 
„Dann waren in dem Jeep von vorhin doch nicht Maria und Dietrich. Sie müssen noch unten in der Höhle sein. Oder sie haben sich einen anderen Wagen genommen, weil dieser defekt ist. Nein, das kann nicht sein. Bevor sie sich einen anderen Wagen genommen hätten, hätten sie den Schacht mit dem Stein abgedeckt. Oder befinden sich beide jetzt vielleicht in der Villa Winter?“
 
 
                                                                       *
 
Das Wasser steigt. Alfredo rutscht in dem Gang aufwärts, bis zu einer Stelle, die so eng ist, dass er nicht weiter vorwärts kommt. Schon Sekunden später berührt das Wasser sein Kinn. Er dreht sich um, mit dem Gesicht nach oben. Die Nase und der Mund sind direkt unter der felsigen Decke, damit kein Wasser eindringt. „Das verdammte Gold! Wäre Maria mir nicht über den Weg gelaufen, dann wäre ich jetzt auf Sizilien und nicht in diesem nassen Sarg.“ Das Wasser hat fast seine Nase erreicht. Mehrmals ruft er nach Maria, aber sie Antwortet nicht. Die Zeit vergeht endlos langsam und er kann nicht zurück. Irgendetwas krabbelt auf seiner Kopfwunde. Es wird abgeschüttelt. Der Wasserspiegel scheint seinen höchsten Stand erreicht zu haben. „In sechs Stunden müsste der Wasserspiegel wieder sinken. Bleibe ganz ruhig. Nur keine Panik. Ich werde hier warten müssen, bis die Ebbe kommt. Es gibt keinen anderen Ausweg. Wie war das mit dem autogenen Training?“ Er denkt an seine Studienzeit in Moskau und geht in Gedanken die Formeln für dieses Training durch. Trotz der Kälte schlägt das Herz ruhig und entspannt. Die Hände bilden Fäuste. Rhythmisch drückt er sie, um den Kreislauf anzuregen.
 
Nach einer Ewigkeit sinkt der Wasserspiegel. Er schiebt sich Zentimeter um Zentimeter zurück. Die Füße berühren den Kopf und die Schultern von Maria. Er weiß schon lange, dass sie tot ist. Sie hatte keine Chance, an die Luftblase zu kommen. Aber seine Seele wird davon nicht berührt. Sie bleibt eiskalt. Nun stemmt er sich gegen die seitlichen Felswände und schiebt sie vor sich her. Es kostet ihm viel Kraft. Der Gang wird breiter. Jetzt ist er so breit, dass er über sie hinweg rutschen kann. Ihre Hände sind kalt. So kalt wie seine Seele. Bald geht er, tastend, gebückt und dann aufrecht. Endlich stoßen die Füße gegen einen Rucksack. Er wird nach der Taschenlampe abgetastet, aber ohne Erfolg. Etwa einen Meter weiter liegt der Rucksack von Maria. Erleichtert umklammern seine Hände die Taschenlampe. Alfredo knipst sie an. Es wird hell. An den Wänden und auf dem Boden wuseln kleine Krebse in Felsspalten. Er betritt, in einer Hand die Lampe, in der anderen beide Rucksäcke, die Grotte und biegt in den daneben liegenden Gang ein. Die folgenden zwanzig Minuten bis zum Lüftungsschacht vergehen schnell. Über der Schachtöffnung leuchten die Sterne. Alfredo legt sich erschöpft auf den sandigen Boden und schläft sofort ein. Der Schlaf ist traumlos.
 
Erst am späten Vormittag öffnet Alfredo die Augen, bindet die Rucksäcke an das Seilende und klettert aus dem Schacht. Mit dem Seil werden die Rucksäcke hochgezogen. Im Seitenspiegel blickt ihn eine grauenhafte Fratze an. An der Brandung wird das angetrocknete Blut abgewaschen. Das Salzwasser brennt.
Er steigt in den Jeep, startet den Motor, wendet und schiebt mit der Stoßstange den großen Stein über den Schacht.
 
Jens sitzt noch immer hinter dem Felsen, den Windschutz genießend.
 
Das Gas wird durchgetreten, der Motor heult auf. Die Räder drehen durch. Der Jeep rast ungeduldig in Richtung Cofete. „Ich habe nur noch einen Wunsch: weg von dieser Insel. So schnell wie möglich. Im Hotel werde ich mich abduschen, umziehen und das Zimmer von Maria durchsuchen auf mögliche Hinweise zu uns. Dann müssen noch die Rechnungen an der Rezeption bezahlt werden. Zum Flugplatz werde ich mit einem Taxi fahren.“ Jetzt rast der Jeep durch das Dorf. Einige Leute drehen sich nach ihm um, verwundert über die hohe Geschwindigkeit.
 
 
                                                                       *
 
Das Filmteam hat bereits alles eingepackt. Langsam rollt der Wagen zur Piste, um dann links abzubiegen, Richtung Hotel. Er stoppt an der Pisteneinfahrt. Der Wind hat von seiner Heftigkeit nichts verloren. Von rechts hört man ein lautes Motorengeräusch. Schnell erscheint der dazugehörende Jeep und braust an ihnen vorbei. Nur der Fahrer sitzt in ihm. Für einen Moment treffen sich unsere Blicke. Ich sehe wilden Hass darin. Sekunden später ertönt ein mehrfach aufschlagendes Blechgeräusch. Eine Explosion zerreist den Tag. Der orangefarbene Feuerball steigt in die Höhe. Teile fliegen durch die Luft, auch irgendetwas dunkles, das vielleicht einmal ein Mensch gewesen war.
 
Geschockt reiße ich nach einer Schrecksekunde die Wagentür auf, springe raus und renne bis zur nächsten Kurve. Die vier anderen hetzen hinter mir her. Die hellen, lodernden Flammen lenken unseren Blick auf den Schrotthaufen. Gemeinsam suchen wir die Umgebung nach dem Fahrer ab, finden ihn aber nicht. Neben dem brennenden Jeep liegen zwei Rucksäcke und ein Seil. Sofort drehe ich mich um, renne zurück und greife in die Seitentasche der Fahrertür. Mit dem Fernglas in der Hand geht es rennend weiter. Keuchend stehe ich an der Stelle, an der die Kameras vorhin standen und suche mit dem Fernglas die unter mir liegende Umgebung ab. Vom Jeep ist keine Spur zu sehen. Der Stein liegt wieder genau über dem Lüftungsschacht. Mein Herz pocht. Das Fernglas lasse ich sinken und gehe zu den anderen zurück.
„Dagmar hat bereits mit ihrem Handy die Guardia Civil über diesen Unfall informiert“, sagt Bernd zu mir, als wir zu unserem Wagen gehen. „Der Fahrer ist spurlos verschwunden. Bestimmt wurde er von der Explosion in tausend stücke gefetzt.“ Auf der Rückfahrt sagt keiner ein Wort. Vor dem Hotel hält Dagmar kurz an. Bernd und Jens steigen aus. Nach einer kurzen Verabschiedung fährt Dagmar mit den beiden anderen weiter.
 
„Jens, ich werde gleich nach oben gehen, um mich abzuduschen. Aber lass uns vorher noch ein Erfrischungsgetränk am Pool organisieren und ein paar Takte Quatschen.“
„Einverstanden. Das wird uns sicherlich gut tun.“
 
Am Pool gibt es viele freie Liegen. Wir suchen uns welche mit Meerblick aus und bestellen zwei Gläser Gin Tonic.
 
Nach einem erfrischendem Schluck Gin Tonic sage ich, entspannter als vorher: „Das tut mir gut“ und sogar ein Lächeln huscht unerwartet über mein Gesicht.
 
Meine geheimen Gedanken werden aktiv. „Das Verbrechen hat hier einen Gegner bekommen. Das Schicksal. Als Dietrich im Jeep saß, hatte es ihn fest im Griff und zeigte ihm den vorbestimmten Weg. Morde sind immer ungesund, auch für den Mörder. Warum ist er ohne Maria zurück gefahren? Sie musste doch bei ihm gewesen sein, denn auch der Rucksack von ihr…“
 
„Jens, ich unterbreche mal kurz deine Träumereien. Eigentlich hatte ich die Absicht, dir noch die Aufnahmen, die wir gemacht haben, zu zeigen. Dabei wollte ich dir einiges über unsere Arbeit erklären. Den Kram habe ich leider im Jeep liegengelassen. Dagmar wird es schon merken und die Sachen an sich nehmen.“ Er macht eine kurze Pause und nutzt diese für einen Schluck aus seinem Glas. „Ich muss immer wieder an die beiden verrückten Autofahrer denken. Das ganze ist ein einziger Alptraum. Was treibt nur die Leute dazu, so zu rasen? Wieder entsteht eine Pause. Dann überrascht er mich mit der Frage: „Warum bist du vorhin so schnell weg gerannt?“
„Ich wollte mich vergewissern, ob der Jeep, den ich vorhin unten auf dem Gelände gesehen habe, der gleiche war wie der verunfallte Jeep.“
„Und? War er es?“
„Ja. Er war es.“
„Das hilft aber niemanden weiter, oder?“
„Vermutlich niemandem. Bernd, vielen Dank dafür, dass du mich mitgenommen hast. Das war eine schöne Abwechslung für mich. Leider haben die beiden Raser einen Schatten auf das Erlebnis gelegt. Ich werde jetzt auf mein Zimmer gehen und mich unter der Dusche erfrischen. Vielleicht sehen wir uns heute Abend an der Bar?“
„Wenn Dagmar mich nicht vorher abholt, werde ich bestimmt an der Bar anzutreffen sein. Also, Auf wiedersehen.“
 
Im Zimmer ziehe ich das eingestaubte Hemd aus, setze mich auf den Balkon und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich sitze im Halbschatten. Windgeschützt. Meine Arme glänzen in der Sonne.
 
„Alles spricht dafür, dass Maria und Dietrich nicht mehr am Leben sind. Dietrich kam ohne Maria aus der Höhle, hatte aber ihren Rucksack dabei. Zu gerne wüsste ich, was in diesen Rucksäcken ist. Aber diese werden jetzt bei der Polizei sein. Ein unlösbares Geheimnis. Zurückzufahren, um nachzusehen macht daher keinen Sinn. Da Maria nicht im Auto saß, muss ihr etwas in der Höhle zugestoßen sein. Etwas tödliches, sonst hätte Dietrich den Zuluftschacht nicht mit dem Stein verschlossen. Da unten muss etwas Furchtbares passiert sein. Dietrich konnte sich retten. Aber warum ist er so schnell gefahren? Stand er unter einem Schock? Wohl kaum. Als Berufskiller wird er nicht so leicht geschockt werden können. Vielleicht wollte er nur so schnell wie möglich diese Insel verlassen? Ich könnte die Polizei verständigen, damit sie den Schacht untersucht und Maria findet. Nein, das werde ich nicht tun. Das würde niemand helfen. Ich habe keine Beweise für meine Vermutungen. Beide haben durch ihr  Schicksal eine grausame, aber gerechte Strafe erhalten. Es gibt zum Glück eine ausgleichende Gerechtigkeit. Das ist auch gut so.“ Ich muss an die Sprichwörter denken: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und „So wie man sich bettet, so liegt man.
 
Früher fragte ich mich oft, ob unser Gott durch den Urknall einen Hörschaden erhalten hat. Das scheint aber doch nicht zu zutreffen, denn die beiden hat er bestraft und zu sich geholt.“ Die Gedanken wandern zu meinem Fund: „Wem ist der Speicherstick aus der Tasche gerutscht? Maria, oder Dietrich? Enthält er die Namen von möglichen Opfern?“
 
Durch die fast unendliche Stille dringt ein Klingeln an der Zimmertür. Langsam und leise stehe ich auf, zur Tür gehend, zögere aber sie zu öffnen. Geduld ist eine Tugend.
 
„Wer kann das sein? Ob das Bernd ist? Unsinn. Er kennt meine Zimmernummer nicht. Steht hinter der Tür etwa Maria? Oder Dietrich, schwer verletzt, mit Maria? Das können nur die beiden sein, ich spüre es.“ Wieder ertönt ein Klingeln. Durch meinen Körper rast ein Zucken. In Gedanken sehe ich beide hinter der Tür stehen. Bleich, mit vom Tod gezeichneten Gesichtern und stechenden, starre Augen. Das Gesicht von Dietrich ist blutverschmiert, durch den Unfall. Jetzt höre ich es ganz deutlich. Das metallische Geräusch von einem Schlüssel, der von außen in das Schloss geschoben wird. Der Schlüssel wird gedreht. Sofort gehe ich in das dunkle Badezimmer. Die Tür bleibt angelehnt. Durch einen Spalt sehe ich die Zimmereingangstür. Leise und lautlos öffnet sie sich etwas. Mein Herz klopft schnell und laut wie eine Trommel. Hoffentlich hört das keiner. „Wenn beide hier drin sind, renne ich schnell raus, die Treppe runter, bis zur Rezeption. Dort werde ich vorerst in Sicherheit vor ihnen sein.“
 
Die Tür wird weiter geöffnet. Eine Frau betritt das Apartment. Diese Frau habe ich noch nie gesehen. Zuerst dreht sie sich zur Garderobe, dann zum Badezimmer um und öffnet die angelehnte Tür, hinter der ich stehe. Sie sieht mich. Nicht die Dunkelheit im Badezimmer, sondern ich starre sie eiskalt an. Zuerst reißt sie die Augen, dann ihren süßen Mund auf. Ein ohrenbetäubender, greller, langgezogener Schrei schießt aus ihm. Ein Schrei, der wie eine Explosion durch das ganze Hotel zu rasen scheint.
 
Ihr schockierender Schrei lähmt mich schlagartig. Sekundenlang stehen wir uns anstarrend gegenüber. Ihr Gesicht ist bleich und angstverzehrt. Ein grauenhafter, bestialischer Schatten spiegelt sich darin. Mein Gehirn beginnt zu arbeiten: „Wurde sie geschickt um mich auszuspionieren? Was will sie von mir?“. Hinter ihr sehe ich auf der Garderobe neue, weiße Handtücher. „Das muss die die Putzfrau sein.“ Erleichtert knipse ich das Licht an. Beruhigend lege ich nun meine Hand auf ihre warme Schulter, leise sagend: „Sorry“. Mehr fällt mir nicht ein. Mit noch weichen Knien verlasse ich das Apartment, gehe zum Aufzug und drücke auf die Null. Die Putzfrau steht immer noch zitternd vor der Badezimmertür.
 
Nach diesem schreckhaften Erlebnis brauche ich dringend frische Luft. Ich verlasse das Hotel und der Wind bläst mir direkt in das Gesicht. Mit einer Heftigkeit, die ich nicht erwartet habe. Er meint es gut mit mir. Nicht nur die wärmenden Sonnenstrahlen, auch freundliche Gedanken treffen mich.  „Noch vierzehn Tage, die ich intensiv genießen möchte, habe hier vor mir. Genießen mit Wasserballspielen, nette Leute kennenlernen, Kurzgeschichten schreiben und alles, was mir Spaß Freude bereitet.“
 
Am Strand angekommen, setze ich mich in den warmen Sand. Ein kleiner weißer Punkt am Horizont erweckt meine Aufmerksamkeit. Ein Segelschiff kreuzt die Wellen. Ich stelle mir vor, wie es auf dem Schiff aussehen könnte und beginne auch gleich mit meiner Geschichte:
 
 
Mord auf der Nussschale
 
Die Stimmung am Hafen war so, wie ich es liebte. Über dem Gebirge hinter mir ging am wolkenlosen Himmel die Sonne auf, die ersten, wärmenden Strahlen trafen mich…
 
Das Fischerboot, das ich suchte, sah ich sofort, denn es lag direkt vor mir. Mit seiner geringen Tonnage war es wirklich eine kleine Nussschale, aber es gefiel mir. Es war ein einfaches Segelschiff…
 
An Bord legte ich meinen Rucksack in die Kajüte und genoss noch eine ganze Weile die Hafenatmosphäre, bevor ich die Segel setzte und langsam, an der Kaimauer entlang, aus dem Hafen fuhr, während die Wellen rhythmisch gegen den Bug platschten.
 
Der Vormieter von diesem Boot musste kurz bevor ich zum Hafen kam, angelegt haben, denn ich konnte noch auf den Planken seine nassen Fußabdrücke sehen. Er schien sich auch verletzt zu haben, denn an manchen Stellen waren sie etwas blutig.
 
Plötzlich hörte ich ein lautstarkes Poltern in der Kajüte, schnell drehte ich mich um und schrie gegen den heftigen Wind: „ Ist da jemand?“ Sofort rannte ich zur Kajüte, dann die kleine Treppe runter und sah erleichtert, dass nur mein Rucksack durch den erhöhten Wellengang vom Tisch gerutscht war. Mein Blick fiel nun auf die Holzbank, gleich neben dem Rucksack. Die zerkratzte Holzbank war aufklappbar und am vorderen Rand mit Blut verschmiert.
 
Auf die Blutflecken starrend, setzte ich mich auf die andere, gegenüberliegende Bank und meine Gedanken kreisten wie die Seemöwen…
 
„Meinem Vormieter musste etwas schreckliches passiert sein“, dachte ich. „Zuerst die blutigen Fußabdrücke und nun diese blutverschmierte Bank. Aber wie kann man sich hier auf dieser kleinen Nussschale so verletzen? Vielleicht war er auch nicht alleine, sondern zu zweit an Bord. Und dann könnte er sich bei einem möglichen Kampf verletzt haben.
 
Hier muss also ein grausamer Zweikampf stattgefunden haben. Und warum habe ich aber nur blutige Fußabdrücke von einer Person gesehen? Hat das zu bedeuten, dass die andere Person noch hier an Bord ist, vielleicht in der aufklappbaren und Blutverschmierten Bank?
 
Eine Leiche in dieser Bank?“ Nun merkte ich, dass nicht nur der Wind, sondern auch die Angst nach mir griff und in meiner Fantasie sah ich bereits diese Leiche, mit eingeschlagenem, blutigem Schädel und einem deformierten Gesicht mit offenen, starren Augen.
 
„Vielleicht hatte der Mörder die Leiche auch zerstückelt, damit sie besser in die Bank passt?“…
 
Die nächsten Tage vergehen wie im Fluge und der Abreisetag steht schnell vor mir.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Zürich
 
 
 
Montag, 12. November, gegen 9:30 Uhr
 
 
Im Schatten der Hotelvorfahrt gibt der dunkelbraune Lederkoffer, auf dem ich sitze, leicht nach. Er ist von Gebrauchspuren gekennzeichnet. Der Rucksack steht daneben, auf dem staubigen Boden. Immer mehr Menschen mit ihrem Gepäck treffen ein. Abreisebereit und wartend. Der warme Wind trägt ihre Stimmen zu mir.
 
„Gut, dass ich Gestern schon meine Sachen gepackt habe. Es ist auch gut, dass der Transferbus nicht so früh kommen wird. Dadurch konnte ich noch in Ruhe und ohne Hast frühstücken. In drei Stunden startet das Flugzeug nach Zürich.
 
Noch vor einiger Zeit habe ich hier gewartet. Nicht auf den Bus, sondern auf ein Taxi. Es war noch dunkel und sehr früh am Morgen. Nur wenige Fenster des Hotels leuchteten. Die Sterne glitzerten am schwarzen Himmel. Der Wind war kühl und heftig. Sein Tosen und das der Brandung hörte man deutlich. Als ich aus der Eingangshalle kam, standen zwei Personen in der Hotelvorfahrt. Beide mit einer dunklen Jacke. Die dunkelblauen Rollkragenpullover waren bis zum Kinn hochgezogen. Ihre Rucksäcke standen vor ihnen, auf dem Boden. Als Gustus und Heidi mich sahen,…“
 
„Der Bus kommt. Papi, der Bus kommt“, ruft freudig ein kleines Mädchen mit ihrer hellen Stimme. Während der Busfahrer die vielen Koffer in das Gepäckfach verstaut, steigen wir ein. Ich setze mich auf einen Platz, gleich hinter dem Fahrersitz. Es ist kein moderner, sondern ein sehr alter Bus. Der laute Motor läuft und die Vibrationen erstrecken sich über das ganze Fahrzeug. Der Außenspiegel vibriert so stark, dass man in ihm nichts deutlich erkennen kann. Der Bus fährt an und die Abfahrt beginnt. Beim Fahrer ist das Seitenfenster geöffnet und der reinströmende Fahrtwind angenehm. Das Geräusch vermischt sich mit der spanischen Musik, die klirrend aus dem Lautsprecher dringt.
 
Bei Urlaubsrückfahrten beschleicht mich immer wieder das gleiche Gefühl. Wie ein treuer Freund kommt es dann regelmäßig zu mir. Das Gefühl und der Wunsch, noch länger hier bleiben zu können. Trotz der unerfreulichen Erlebnisse. Aber wo ein Ende ist, ist auch ein neuer Anfang. Meine Gedanken schweifen nach Zürich, zufrieden aus dem Fenster das blaue Meer betrachtend: „Ich bin schon neugierig auf die Post, die inzwischen ankam. Weniger auf die Rechnungen, sondern auf die Briefe meiner Freunde.“
 
Obwohl ich heute Morgen ausgeschlafen aufgestanden bin, spüre ich eine schnell ansteigende Müdigkeit. Verursacht durch das laute, monotone Brummen des Motors und das ständige Vibrieren des Busses. Ich habe Mühe, die Augen offen zu halten. Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich die Augen öffne, liegt weit vor mir die Landebahn von Puerto del Rosario. Wie ein gerader Strich in der Landschaft. Eine Maschine befindet sich im Landeanflug. In der Sonne glänzt sie, wie ein großer, silberner Vogel. Sanft setzt sie auf. Seitlich vom Flughafengebäude kommt der Bus zum stehen. Den schweren Koffer trage ich durch die drängelnden Menschentrauben und stelle mich geduldig an einer Schlange vor dem Abfertigungsschalter an.
 
Schon kurz nach dem Start befinden wir uns über Corralejo. Dem nördlichsten Ort auf Fuerteventura. Links ist die kleine Insel Lobos zu sehen. Vor uns liegt Lanzarote. „Nächstes Jahr werde ich meinen Urlaub auf Lanzarote verbringen.“ Im Bordfernsehen läuft der Film: „Affen, Frauen und Brillianten“. Es ist kein Film, der mein Interesse fesselt. Der Sitz neben mir ist zum Glück nicht besetzt. Auf ihm liegt der Rucksack. Ich hole das Skizzenbuch heraus, schlage eine freie Seite auf und beginne mit der Geschichte:
 
 
Morde sind ungesund
 
Vanessa saß auf der Terrasse eines Hotels, während der laue, angenehm warme Wind mit ihren Haaren spielte. Bewundernd genoss sie die Traumhafte Aussicht, im Vordergrund die Palmen, deren Blätter sich raschelnd im Schattenspiel bewegten und dazwischen das Meer mit seinen vielen Blau- und hellen Grüntönen. Bis zum Horizont war der sonnige Himmel wolkenfrei.
 
Als ich die Terrasse betrat, sah sie mich voller Ungeduld an und sagte: „Warum lässt du mich so lange warten? Ich habe einen riesigen Appetit.“
„Auf mich, oder auf das Frühstück?“, antwortete ich lachend. „Komm, lass uns zum Frühstücksbuffet gehen.“
 
Wir speisten wie die Götter.
 
Schließlich sagte Vanessa: „Warum musste ich denn so lange…
 
„Ich mache das auch immer“, unterbricht mich mein Sitznachbar. Er ist Mitte vierzig, hat kurze, blond Haare und die Ärmel vom hellblauen Hemd sind hochgekrempelt. Die dunkelblaue Krawatte ist leicht verrutscht. Sein Gesicht ist sympathisch.
„Was machen Sie auch immer?“ frage ich ihn, irritiert ansehend.
„Meine Urlaubserlebnisse zu notieren. Es tut mir leid, wenn sie dabei von mir unterbrochen wurden.“
 „Aber ich bitte sie, das macht doch gar nichts.“ Das Buch lege ich etwas genervt zur Seite und frage ihn:
„Haben sie auch im Süden von Fuerte ihren Urlaub verbracht?“
„Ja, ich war im Süden, aber nicht aus Urlaubsgründen. Gestern bin ich hier gelandet und jetzt fliege ich wieder zurück. Leider. Von Zürich aus geht es bei mir weiter nach Berlin. Gerne wäre ich noch etwas länger hier geblieben.“
„Sicherlich arbeiten sie für irgendeine Hotelkette. Habe ich Recht?“
Leicht lächelnd sieht er mich an: „Nein, sie haben nicht Recht. Nun, wie soll ich es sagen? In gewisser Weise habe ich hier als Berater fungiert. Ich unterstütze  Kollegen beratend zu einer Angelegenheit, über die ich eigentlich im Detail nicht sprechen möchte.“ Er scheint nachzudenken und sagt nach einer Pause:
„Es gab im Süden der Insel einen Autounfall. Der Jeep brannte vollständig aus. Aber neben dem Wagen wurden einige Gegenstände gefunden, die meine Beratung notwendig werden ließen.“
„Ich verstehe. Sie sind also Polizist?“
„Ich arbeite bei der Gerichtsmedizin und oft auch mit der Polizei zusammen.“
„Haben sie etwa einen Mordfall untersucht?“
„Darüber kann ich leider nicht sprechen“, sagt er und lehnt sich tief in seinen Sitz um den Blick auf den Bordfernseher zu richten. Dann wendet er seinen Kopf wieder zu mir: „Verstehen sie mich bitte nicht falsch. Ich hatte wenig Schlaf und fühle mich daher sehr müde. Ich werde die Zeit hier nutzen, um etwas zu schlafen.“
„Okay, das ist kein Problem. Ich wünsche ihnen einen schönen Traum. Einen Traum ohne Leichen.“
 
Bei dem Wort Leichen schließt er lächelnd seine Augen und lehnt sich entspannt zurück. Er scheint an Leichen gewöhnt zu sein.
 
Meine Gedanken sind plötzlich hellwach: „War in den beiden Rucksäcken etwas, das er untersuchen musste? Interessiert er sich für Dietrich und Maria? Untersucht er andere Morde von ihnen und ist nun auf ihre Spur gestoßen?“ Auch ich lehne mich jetzt zurück und blicke aus dem Fenster. Die Gedanken und Fragen lasse ich weiter kreisen. „Soll ich mich ihm meinem Verdacht anvertrauen? Nein, ohne Beweise macht das keinen Sinn.“
 
Eine Stewardess steht neben uns im Gang und verteilt auf Tabletts das Essen. Mein Sitznachbar verzichtet auf das Essen. Er ist eingeschlafen. Während der Landung sind meine Gedanken noch in Fuerteventura. Aber das sollte sich schnell ändern.
 
Schon stehe ich mit meinem Koffer draußen vor der Abfertigungshalle und bleibe frierend stehen, um aus dem Rucksack die warme Jacke zu holen. „Es wird bald Winter. Nun ins Taxi und dann schnell nach Hause.“ Auf dem Weg zum Taxistand höre ich hinter mir laute Rufe: „Jens. Jens, hier bin ich.“ Die bekannte Stimme von Dario begrüßt mich. Ich drehe mich um. Er winkt mir freudig zu.
„Willkommen zu Hause.“
„Hallo Dario. Toll, dass du mich abholst. Damit habe ich gar nicht gerechnet.“
„Beeil dich, schnell, ich stehe wie immer im Parkverbot“, sagt Dario hastig, packt meinen Koffer und trägt ihn zum Auto.  
Als er den Motor startet, sagt er: „Du hast es wirklich gut, vier Wochen Urlaub auf Fuerteventura. Das könnte ich jetzt auch gut gebrauchen. Ich habe zwei  Flaschen spanischen Rotwein dabei. Den kosten wir in deiner Wohnung. Auf deinen Reisebericht bin ich schon neugierig.“
„Gab es Probleme mit meinem Kiosk?“
„Nein. Lukas hat gut auf alles aufgepasst. Er hat angedeutet, dass sogar der Umsatz etwas gestiegen ist.“
„Das freut mich. Vielleicht soll ich öfters verreisen, damit der Umsatz steigt?“
„Aber dann mit mir“, sagt Dario lachend.
 
In der Kalten Wohnung wird zuerst die Heizung angestellt. Der braune Lederkoffer bleibt im Flur stehen. Inzwischen öffnet Dario im Wohnzimmer die Weinflasche, während ich zwei Gläser aus der Küche hole.
 
„Zum Wohl.“
„Zum Wohl, Dario. Vielen Dank für das Abholen. Hmm…, der schmeckt aber gut. Leicht herb, genau so, wie ich es gerne mag. Ein kleiner Gaumenverwöhner.“
„Der Vino del Monte kommt aus Gran Canaria. Es war nicht einfach für mich, ihn hier ausfindig zu machen. Er ist ein Geselle für gemütliche Momente. Kein sich aufdrängender Kraftprotz, sondern eher ein heimlicher Verführer. Fein, dass er dir schmeckt.“ Dario spitzt seine Lippen, kostet einen Schluck, lehnt sich gemütlich im Sessel zurück und sagt:
 
„Nun, erzähl doch mal, was hast Du alles erlebt, Jens? Am besten, du fängst mit deinem Bericht ganz von vorne an. Ich brachte dich vor vier Wochen zum Flugplatz und wie ging es dann weiter?“
 
Er hört sich meinen Bericht an, ohne mich zu unterbrechen. Als die Weinflasche leer ist, bin ich auch mit meiner Erzählung fertig. Mit einem „Plopp“ öffnet Dario die zweite Flasche und verzieht das Gesicht: „Das ist ja kaum zu glauben, was du alles erlebt hast. Eigentlich müsstest du nach deinem Urlaub wieder urlaubsreif sein.“
„Ja, aber etwas erholen konnte ich mich auch.“
„Wie war das eigentlich mit dem Speicherstick, den du im Jeep gefunden hast. Hast du ihn noch immer?“
„Mensch, den habe ich ja ganz vergessen“, sage ich überrascht. Sofort gleitet meine Hand in die Seitentasche vom Rucksack. „Hier, hier ist er. Mein Computer steht auf dem Schreibtisch. Wirf die Maschine an, damit wir uns den Inhalt von diesem Ding genauer ansehen können.“
 
Der Computer fährt hoch. Ich stecke den Stick in den USB- Anschluss und klicke mit der Maus auf „Wechseldatenträger F“. Es erscheinen viele Ordner auf meinem Bildschirm. Nun klicke ich auf den Ordner: „Sekreto Sekretissima“. Wieder erscheinen viele Dateien. „Incompleto“ und noch eine weitere werden geöffnet. Wir lesen gemeinsam: „…Chiamata Moreni, bisogno I un nuovo Desert Eagle Mk XIX… Informarlo prego immediatamente, se uccideste Claudia Giani. Gli ho una nuova operazione per…” In einer anderen Datei tauchen viele Namen auf, auch der von Gustus Arik. Dario klickt auf „Foto“. Viele Farbfotos von fremden Menschen erscheinen.
 
„Stopp“, sage ich aufgeregt und laut. „Das ist Gustus. Gustus Arik! Gehe in den Zoom. Ja, noch etwas mehr. So ist es gut. Kannst du das Straßenschild im Hintergrund erkennen? Zoom es noch etwas heran. „Auf dem Grat“ steht auf dem Schild.
 
„Das könnte eine Straße in Berlin sein“, sage ich, immer noch aufgeregt. Dario klickt auf „Privatemente“, dann auf „Foto“ und auf „Alfredo Budoni“. Ein Bild erscheint. „Wieder rufe ich aufgeregt:
„Das ist Dietrich Schuster!“
„Aber auf der Datei steht Alfredo Budoni.“
„Dann wird das auch sein richtiger Name sein. Es ist ein Italienischer Name. Das Bedeutet, dass Dietrich in Wirklichkeit Alfredo Budoni und Italiener ist.“
„War, nicht ist“, korrigiert mich Dario.
„Du hast Recht. Schade, dass ich die italienischen Texte nicht verstehe. Es sieht so aus, als wenn Dietrich, ich meine Alfredo, seinen gesamten Laptopinhalt auf den Speierstick kopiert hat. Einschließlich seiner E- Mail- Korrespondenz.“ Nach einer Pause sage ich: „Es war also kein Zufall, dass Alfredo auf Fuerteventura aufkreuzte. Aber was machen wir nun mit dem Stick?“
„Wir übergeben ihn der Polizei.“
„Nein! Auf keinen Fall. Das ist zu riskant für mich. Die Polizei könnte mir unterstellen, dass ich sein Komplize war und mich verhaften.“
„Dann schicken wir ihn per Post, anonym.“
„Einverstanden.“
 
Nach einem Schluck Rotwein wische ich meine Fingerabdrücke von dem Stick ab und lege ihn in einen Briefumschlag. Schreibe anschließend die Polizeiadresse darauf, ohne Absenderangabe und reiche ihn Dario.
 
„Kommst du nachher an einen Briefkasten vorbei?“
„Ja. Ich weiß schon, was du jetzt sagen wirst: ich soll meinen Kopf nicht daran stoßen. Richtig?“
„Nein. Könntest du den Umschlag einstecken?“
„Für dich mache ich doch fast alles, oder? Jens, stell dir einmal vor, Alfredo wäre nicht verunglückt. Mit Sicherheit hätte er dann seinen Stick vermisst. Glaubst du, sein Verdacht würde sich gegen dich richten? Würde er dich besuchen, um ihn wiederzuholen?“
„Das könnte schon sein, aber daran möchte ich jetzt lieber nicht denken. Der Todesengel ist tot und ich bin in Sicherheit. Das ist auch gut so. Meine Großmutter sagte oft: Wer der Freund des Teufels ist, bekommt die Hölle umsonst. Zum Glück kam noch niemand aus der Hölle zurück, oder? Ich bin froh darüber, dass die ganze unerfreuliche Angelegenheit jetzt abgeschlossen ist.“
 
Nach einer kleinen Plauderei steckt Dario den Umschlag in seine Tasche und verabschiedet sich. Auch ich verabschiede mich von dem Tagesablauf und freue mich schon auf meine nächtlichen Träume. „Gut, dass ich noch zwei freie Tage habe.“
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Es fing harmlos an
 
Dienstag, 13. November
 
Am nächsten Tag steht Jens erst am frühen Nachmittag auf. Er frühstückt zufrieden, während in der Nähe eines kleinen Dorfes auf Sizilien aus verschiedenen Richtungen Polizeiautos mit Blaulicht auf ein altes Bauernhaus zufahren.
 
Dieser und auch die folgenden Tage und Wochen vergehen schnell. Längst hat  Jens sich wieder an den Arbeitsrhythmus und den Tagesablauf gewöhnt.
 
Nur manchmal denkt er noch an seine Urlaubserlebnisse und an Dario, der gerade seinen Urlaub in Malaysia verbringt.
 
Es ist Samstagabend, als plötzlich das Telefon klingelt. Jens meldet sich mit:
 
„Lupa.“
„Hallo Jens. Ich bin es, Dario. Heute Morgen bin ich hier gelandet, musste aber erst einmal ausschlafen, ehe ich mich bei dir melde. Wie geht es dir?“
„Mir geht es gut. Auf deinen Reisebericht bin ich schon neugierig.“
„Das ist auch der Grund, warum ich dich anrufe. Wenn du möchtest, dann könnte ich in zwanzig Minuten bei dir sein. Ich habe auch viele Fotos gemacht. Natürlich digitale. Also mach inzwischen deinen Computer startklar. Oder störe ich dich gerade?“
„Nein, überhaupt nicht. Beeile dich.“
 
Ich schalte den Computer an, hole zwei Gläser und eine Flasche Wein aus der Küche und räume den Schreibtisch etwas auf, als es an der Wohnungstür klingelt. Nach einer Begrüßung sitzen wir beide am Schreibtisch. Dario steckt seinen Speicherstick mit den Fotos in den USB- Schlitz und beginnt:
 
„Eigentlich fing alles völlig harmlos an. Der Flug von Frankfurt mit der Malaysia Airlines nach Kuala Lumpur verlief wie erwartet völlig problemlos. In der Boing 777- 200 war es sehr bequem. Film und Musikprogramme sorgten für eine entspannte Unterhaltung.
 
Nach dem Transfer zum 5 Sterne Hotel Maya bekam ich eine Suite im 14. Stock mit einer atemberaubenden Aussicht durch die raumhohen Fenster auf die Stadtlandschaft. Das Hotel mit seiner transparenten Architektur, den edlen Hölzern und warmen Farben beeindruckten mich angenehm. Das plätschernde Wasser in der Eingangshalle machte jede Hintergrundmusik überflüssig.“
 
Während er erzählt, erscheinen auf dem Bildschirm die dazu passenden Bilder.
 
„Vor gut hundert Jahren war Kuala Lumpur, das bedeutet „schlammige Flussmündung“, noch ein kleiner Ort im Dschungel. Nun war sie, seit der Unabhängigkeit im Jahre 1957 die pulsierende, dynamische Hauptstadt von Malaysia, geprägt von vielen Superlativen.“
 
„War das nicht 1958?“
„Nein, ich bin mir hier ganz sicher.“
„Okay, erzähle weiter.“
 
„Das leise Summen der Klimaanlage störte mich nicht. Nach einer erfrischenden Dusche ging ich durch die Straßen, um die Gegend zu erkunden. Ich staunte über die Tempel und Moscheen mit ihren Minaretten, Türmchen und goldenen Kuppeln. Auch über die futuristisch anmutenden Wolkenkratzer aus Marmor und Glas. Viele Straßen waren von kunstvoll beschnittenen Bäumen gesäumt. Besonders beeindruckte mich der im maurischen Stil erbaute Hauptbahnhof. Er soll einer der schönsten Bahnhöfe der Welt sein. Lauter visuelle Erlebnisse, die ich nicht vergessen werde.
 
Wieder im Hotel angekommen, packte ich meinen Koffer, denn mein eigentliches Reiseziel hatte ich noch nicht erreicht. Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück flog ich nach Tawau. Dann ging es weiter, mit einem Speedboot- bis zur der Insel Kapalai, die sich südlich von Semporna befand. Als das Boot um eine Lagune fuhr, konnte ich sie sehen: die Oase der Ruhe. Es waren 18 Bungalows, die, der Insel vorgelagert auf Stelzen im Wasser standen, direkt über einem Riff. Nun hatte ich mein Ziel erreicht, das Paradies für Taucher.
 
Alle 18 Bungalows und das Haupthaus standen auf 5 m hohen, hölzernen Stelzen die untereinander mit Stegen verbunden waren. Die Häuser mit dem rötlichen Holz hatten schräge Dächer. Sie waren komfortabel ausgestattet, alle mit je einen großen Ventilator und eine Terrasse. Das türkiesfarbene Meer war ruhig. Am Himmel befanden sich viele Cumulus- Wolken. Es waren  28 ° C bei 80 % Luftfeuchtigkeit und somit alles im erträglichem Bereich.
 
Die ersten Tage vergingen so, wie ich hier her kam, wie im Fluge. Jeden Tag gab es drei Tauchgänge in kleinen Gruppen, an denen ich natürlich immer mit dabei war. Viele Tauchplätze hatten einen Sandboden. Die maximale Tauchtiefe war 26 Meter bei einer Sichtweite von 20 Metern.
 
Zuerst hatte ich junge Fledermausfische, Oktopusse und Schildkröten beobachtet. Dann, direkt am Korallenriff kamen drei Anglerfische auf uns zu, gefolgt von Kiefern- und Mandarinfischen. In einer Riffhöhle entdeckte ich eine Geistermuräne. Ihr Maul war weit aufgesperrt, als sie mich anstarrte. Ihr Körper war hellblau, nur das Maul und der Flossensaum waren gelb. Immer wieder war ich hell begeistert von der Vielfältigkeit und der Farbenpracht des maritimen Lebens hier unten. Von meinem Nebenmann erhielt ich nun das Zeichen zur Umkehr. Zurück, an den wunderschönen Korallengärten vorbei sah ich zuerst Gespensterkrabben, dann Seepferdchen und sehr viele Feder- und Haarsterne. Und kurz vor dem Auftauchen auch noch einige Rochen.
 
Beim Abendessen auf der Terrasse setzte sich Pedro zu mir. Ich lernte ihn hier kennen. Pedro war Italiener, Anfang dreißig und sah mit seinem leicht gebräunten Gesicht sehr gut aus. Er war ungefähr 1,80 m groß, schlank, muskulös und hat kurze, schwarze Haare. Mit seinen behaarten Armen wirkt er sehr männlich. Auf seiner linken Wange und am linken Arm hatte er einige Narben. Sie sahen so aus, als stammten sie von einer Brandverletzung. Er kam aus Porto Palo, einem kleinen Dorf auf Sizilien. Gemeinsam genossen wir „Nyonya“, ein landestypisches Gericht, kombiniert aus Malaysischer und Chinesischer Küche.“
 
Auf dem Bildschirm erscheint das Gesicht von Pedro. Ich stutze, sage aber nichts und Dario berichtet weiter:
 
„Pedro machte beim Essen eine Pause, blickte auf das Meer und dann zum Himmel, als er sagte: „Dario, die vielen dunklen Wolken gefallen mir gar nicht. Es sieht nach Sturm und Regen aus. Schade, wenn wir wegen dem Wetter Morgen nicht tauchen können. Konntest du vorhin auch die Geistermuräne sehen? Manche haben eine Länge von über einem Meter.“
„Ja, ich habe sie auch gesehen. Sie sah etwas angriffslustig aus, oder?“
„Ich glaube, sie sehen immer etwas angriffslustig aus. Dario, ich möchte noch eine andere Sache ansprechen. Gestern Abend unterhielt ich mich mit einem Fischer. Er war etwas ärgerlich darüber, dass sein Fischernetz an irgendetwas hängen blieb und zerriss, als er es in sein Boot zog. Er fragte mich, ob ich nicht an dieser Stelle runtertauchen könnte, um nachzusehen, woran das Netz sich verfing.“
 
„Und wie willst du diese Stelle wiederfinden?“
 
Pedro bückte sich, holte aus seinem Rucksack eine Karte hervor und faltete sie geräuschvoll auseinander. „Hier, an dieser Stelle passierte es“, dabei zeigte er auf ein kleines Kreuz, das mit einem Bleistift auf die Karte gezeichnet wurde.
Ich sah mir diese Stelle genauer an. „Okay. Das ist aber sehr weit draußen. Ist das nicht zu weit für uns?“
„Ich schätze, wir brauchen etwas über eine Speedboot- Stunde, um diese Stelle zu erreichen.“
„Wir?“, sagte ich überrascht.
„Möchtest du denn nicht mitkommen?“
„Darüber muss ich erst nachdenken. Wann soll denn der Start sein?“
„Heute Nacht.“
„Heute Nacht schon?“
„Ja, wenn Morgen das Wetter schlechter wird, sollten wir die Zeit vorher nutzen.“
„Sind Nachttauchgänge nicht verboten?“
„Nur, wenn man alleine taucht, aber nicht zu zweit. Nichts ist ohne Risiko, Dario. Aber ohne Risiko ist auch nichts.“
Ich stand auf und sagte zu Pedro: „Okay, komm in einer Stunde zu mir ins Bungalow. Dann werde ich dir sagen, ob ich mitkommen werde. Ich möchte erst noch etwas darüber nachdenken.“
 
Im Bungalow setzte ich mich auf die Terrasse und fragte mich: „Soll ich das wirklich machen, einen Nachttauchgang mit Pedro? Warum eigentlich nicht. Interessante Abwechslungen liebe ich. Ja, ich werde dabei sein.“
 
Nun trug ich meine Ausrüstungsteile auf die Terrasse und legte sie auf den großen Holztisch. Den einteiligen Nassanzug aus Neoprene, die 6- Liter Druckflasche mit dem am Absperrventil angeschlossenen Atemregler. Dann die Tauchmaske, Flossen, Bleigewichte, Messer, Lampe, Tiefenmesser, Uhr und den Kompass. Und zuletzt noch den Finimeter, um den Druck in der Pressluftflasche messen zu können und auch den Oktopus, der Reserveatemregler am Lungenautomat.
 
Der Himmel über mir war rötlich und die Sonne bereitete sich auf ihren Untergang vor. Zum Glück ich nicht auf meinen.
 
Plötzlich hörte ich hinter mir im Zimmer Schritte und rief: „Pedro, hier bin ich, auf der Terrasse.“
Pedro blickte zufrieden auf den Tisch mit meiner ausgebreiteten Tauchauerausrüstung und sagte: „In 30 Minuten starten wir.“
 
Die Sonne war schon untergegangen, aber der Himmel noch hell, als wir im Boot saßen und das Dröhnen des Motors uns einhüllte. Das Boot hüpfte auf den Wellen, die Gischt spritzte ins Boot und wir kamen schnell vorwärts.
 
Bald wurde es dunkel, der Wind frischte auf, Pedro schaltete den Bugscheinwerfer an und verlangsamte nach einer Stunde die Fahrt. Dann sah er auf das Navigationsgerät und sagte nur: „Wir haben unser Ziel erreicht.“
 
Das Echolot maß eine Tiefe von 18 Metern und die Wellenhöhen schienen sich vergrößert zu haben. Pedro warf den Anker und wir machten uns fertig für den Tauchgang. Zuerst fiel ich rückwärts in das aufspritzende, schwarze  Wasser. Kurz danach folgt mir Pedro. Die absolute Dunkelheit umschloss uns. Trotz der Lampen konnten wir nur knapp drei Meter weit sehen. Als wir den sandigen Boden erkannten, verhielten wir uns so, wie wir es besprochen hatten. Wir schwammen in einem Kreis, der immer größer wurde. So, wie die Form einer Spirale. Aber wir konnten nichts erkennen, woran ein Fischernetz hängen bleiben könnte. Ein Rochen huschte mit seinen sanften Flossenbewegungen durch mein Scheinwerferlicht.
 
Wir waren schon über 10 Minuten hier unten und wollten gerade aufgeben, da sahen wir einen dunklen, langen Schatten. Wie ein Riff. Schnell schwammen wir näher und erkannten, dass es ein Wrack war. Es war vollständig mit Flügelaustern besetzt. Ein sehr langes Wrack mit Geschütztürmen. Ein Kriegsschiff mit einem großen Loch in der Bordwand. Hier hatte ein Torpedo sein Ziel und wir unseres erreicht.
 
Nun gab ich Pedro ein Zeichen zum Auftauchen, denn wir hatten erkannt, woran das Fischernetz hängen blieb. Aber Pedro deutete mit seinem Arm mehrmals auf ein Loch in der Bordwand. Dann schwamm er darauf zu, durch das Loch durch und verschwand aus meinem Blickfeld.
 
Auch ich schwamm zu diesem Loch, getraute mich aber nicht in das Schiff reinzuschwimmen. „Mir ist das zu gefährlich. In dem Schiff könnte noch Munition sein. Wenn sie explodiert, dann ist das bestimmt für uns ungesund“, dachte ich und sah in Gedanken einige Haifische, mit den Armen und Beinen von uns um Maul davonschwimmen. Da ich nur zwei Arme und Beine hatte, wollte ich diese nur ungern verlieren, denn ich hänge sehr an ihnen. Beziehungsweise, sie hängen zum Glück noch an mir. Beides werde ich noch gut gebrauchen können. „Die Kraken haben acht Arme. Bestimmt können sie auf einige, im Gegensatz zu mir, problemlos verzichten. Ich werde damit jedoch Probleme haben. Kraken! Ob in dem Schiff eine Krake ist?“
 
Jetzt erst blickte ich auf meine Uhr und merkte, dass Pedro schon über 18 Minuten im Schiff ist. „Vielleicht ist er irgendwo hängengeblieben und kann sich nicht alleine befreien? Wird er von Krakenarmen erbarmungslos umklammert? Oder hat er schon Kontakt mit den Verdauungssäften der Kraken aufgenommen?
 
Plötzlich war ich nicht mehr alleine. Zwei alte Bekannte besuchten mich wieder, das eiskalte Grauen und die Gänsehaut. „Ich habe keine andere Wahl und muss in das Schiff um Pedro zu suchen. Er muss gerettet werden, oder das, was von ihm übrig geblieben ist.“ Meine Armatur zeigte mir, dass nicht nur mein Leben, sondern mein Sauerstoffvorrat langsam dem Ende entgegen blickt. Die Strömung war deutlich stärker geworden. Krampfhaft hielt ich mich an dem aufgerissenen, scharfkantigen Stahlrand der Außenwand fest und schob mich langsam in das schwarze Loch. „Ich mag keine schwarzen Löcher. Bei den schwarzen Löchern im Weltraum gibt es keine Wiederkehr. Aber zum Glück bin ich weder ein Astronaut, noch bin ich im Weltraum.“
 
Als ich fast vollständig im Inneren des Schiffes war, merkte ich, dass ich nicht weiter kam. Irgendetwas hinderte mich daran. Der Gedanke: „Ich hänge fest“ kam schlagartig zu mir. Tropfen liefen in meine Augen und brannten, während mein Herz schneller schlug. Das war der Angstschweiß, der mir in die Augen lief. „Ich muss meine Sauerstoffflasche abschnallen und dann versuchen, nach oben zu schwimmen.“
 
Auf einmal wurde ich am rechten Fuß gepackt. Der Schock lähmte meine Glieder. Der Atem Stockte. „Ein Hai? So viel Pech kann doch kein Mensch haben. Während ich die Überreste von meinem Freund aufsammeln möchte, will ein Hai mich in diese zerlegen?“ Plötzlich wurde ich aus dem Loch nach draußen gezogen. Ruckartig drehte ich mich um, mit dem Tauchermesser in der rechten Hand und der Absicht, auf die Augen des Haies einzustechen. Gerade wollte ich zustechen, da erkannte ich Pedro. Er zeigte mehrmals mit dem Arm nach oben.
 
Während die Wellen in der schwarzen Nacht auf der Rückfahrt uns ins Gesicht spritzten, erzählte er mir, wie er aus einem anderen Schiffsausgang zu mir fand. Erleichtert darüber, dass ich mich nicht mehr in dem Wrack befand, dachte ich: „Eigentlich fing alles völlig harmlos…“
 
„Darion, das ist ja eine spannende und interessante Geschichte. Aber zeige mir doch bitte noch einmal das Foto von diesem Pedro. Ich glaube, er kommt mir irgendwie bekannt vor.“
 
Dario sucht das Foto. Ich greife nach dem Weinglas, koste einen Schluck und sage plötzlich:
 
„Stopp.“ Wir beide starren auf den Bildschirm.
 
„Ist das dieser Pedro, mit dem du getaucht bist?“
„Ja, das ist er. Ein netter Kerl“
„Nein. Das ist ja unglaublich. Das kann einfach nicht sein!“
„Was kann nicht sein?“
„Dario, denke dir die Narben im Gesicht weg und stelle dir vor, dass die schwarzen Haare etwas kürzer sind. Das ganze jetzt ohne Sonnenbrille. So, Erkennst du ihn jetzt?“
„Ja. Jetzt erkenne ich ihn. Das ist der Kerl, dessen Foto wir gesehen haben. Auf dem Speicherstick, den du aus deinem Urlaub mitgebracht hast. Warte, sein Name ist nicht Pedro, sondern…“
„Alfredo Budoni, alias Dietrich Schuster! Er lebt noch und ich war fest davon überzeugt, dass er bei dem Unfall auf Fuerte umgekommen ist.“
„Das ist ja wirklich unglaublich“, sagt Dario und lehnt sich zurück, um dann zu sagen: „Die Narben stammen bestimmt von dem Autounfall auf Fuerte. Es muss ihn schlimm erwischt haben.“
„Ja, aber er muss auch Freunde dort gehabt haben, die ihn retteten.“
Nach einer längeren Pause sieht Dario mich sehr ernst an: „Jens, hoffentlich bekommen wir hier keinen Ärger.“
„Wie meinst du das?“
„Auf dem Rückflug nach Zürich saß er neben mir. Er ist jetzt hier, in unserer Stadt.“
„Glaubst du, dass er mich suchen wird?“
„Nein. Sicherlich macht er hier nur einen Zwischenstopp, um dann nach Hause zu fliegen.“
„Ja, du hast Recht. Von Kuala Lumpur gibt es keinen Direktflug nach Palermo. Übrigens, ich habe eine Bitte an dich. Könntest du mir für zwanzig Minuten dein Auto leihen?“
„Gerne, aber wo möchtest du denn so spät am Abend noch hin?“
„Zur Tankstelle.“
„Zur Tankstelle?“
„Ja. Ich hebe keine Zigaretten mehr und möchte mir noch eine Schachtel kaufen.“
„Ich wusste gar nicht, dass du rauchst. Rauchst du schon lange?“
„Manchmal habe ich Lust auf eine Zigarette. Aber ich rauche nicht viel. Zwei, oder drei Zigaretten am Abend. Dann aber wieder wochenlang keine.“
„Gewöhne dir das bitte so schnell wie möglich wieder ab. Versprichst du mir das?“
„Okay. Ich werde es versuchen.“
Dario reicht mir seinen Zündschlüssel und schon sitze ich in seinem Wagen und fahre durch die kalte Nacht. Wenige Autos sind unterwegs. An der Tankstelle bin ich der einzige Käufer, stecke die Zigarettenschachtel ein und denke auf dem Rückweg: „ Eigentlich hat Dario Recht. Ich sollte mir das Rauchen nicht erst angewöhnen.“
 
Gleich vor meinem Haus finde ich einen freien Parkplatz und steige aus. Der Kalte Wind streift mein Gesicht. Es fängt an zu nieseln. Schnell gehe ich die Treppen hoch, zu meiner Wohnung. Ich öffne die Wohnungstür und hänge meinen Mantel im dunklen Flur an die Garderobe. Dann knipse ich das Licht an und drehe mich um, Richtung Wohnzimmer.
 
Ich reiße die Augen auf. Du lieber Himmel. Nein das darf nicht wahr sein! Das Blut gefriert mir in den Adern, ich will schreien, aber mein Atem stockt, mir wird schwindelig. Es ist einfach ein grauenhafter Anblick. Mit letzter Kraft halte ich mich an der Wand fest, während meine Knie taktlos zittern und der Schock wie ein Blitz, mehrmals durch meinen Körper fährt.
 
Es ist einfach ein grauenhafter Anblick.
 
Dario liegt direkt vor meinen Füßen. Auf dem Rücken. Die Beine ungesund angewinkelt. Bewegungslos, mit weit geöffneten, starren Augen.
 
Neben ihm liegt ein fremder Mann mit dem Rücken nach oben. Auch bewegungslos.
 
„Was ist hier passiert?“, schießt es mir durch den Kopf. Langsam, sehr langsam bücke ich mich und taste nach dem Puls von meinem Freund. Er ist aber nicht zu fühlen. Es gibt keinen Puls. Dann drehe ich den fremden Mann um, auf den Rücken und erstarre. Das leblose Gesicht von Alfredo Budoni blickt mich an. Seine kalten Augen sind geöffnet.
 
Ich erhebe mich, lehne mich an die Flurwand und versuche zu begreifen, was hier passiert ist. Erst jetzt bemerke ich den dünnen Stahldraht um den Hals von Dario. Mein Blick schwenkt zu Alfredo Budoni. In seiner Brust, da wo sich das Herz befindet, steckt mein Korkenzieher.
 
„Gleich, nachdem ich die Wohnung verlassen habe, muss Alfredo hier aufgetaucht sein. Im dunklen Flur dachte er bestimmt, mich vor sich zu haben und legte die Stahlschlinge um den Hals von Dario. Dario muss gerade mit dem Korkenzieher aus der Küche gekommen sein. Es gab einen kurzen Zweikampf, den keiner überlebte. Der Wunsch nach einer Zigarette rettete mir das Leben.“ Völlig benommen gehe ich zum Telefon im Wohnzimmer und wähle die Nummer der Polizei. Flüsternd und noch zitternd sage ich zu mir: „Morde sind immer ungesund.“ 
 
 
 
 
Hinweis an neugierige Leser: Alle Kurzgeschichten von Jens können nachgelesen werden in dem Buch: „Auch auf Leichen liegt man weich“.
ISBN 978-3-86548-836-7
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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