Niklas Kammermeier

Wie Salat Pauls Hochzeit verdarb




Paul saß in einem Zugabteil und weinte. Ein Vorhang aus Tränen umschloss seine Seele und machte ihre Sprünge zäh. Seine Augen versuchten die vorbeirasende Welt durch das milchige Fenster hindurch festzuhalten. Unermüdlich spielten sie mit den Bildern, klebten bald an Dächern und ließen sie frei. Doch Pauls Herz reagierte nur träge. Gedanken zogen an ihm vorbei. Müde bemühte er sich kaum sie zu fangen. Bremste dann doch ein Gesicht, ein Geruch oder Musik wie zufällig, schmerzte seine Brust. Dann atmete er tief ein um beim ausatmen wieder in sich zu versinken.

Ein Salatblatt. Im nachhinein lache ich oft darüber. Ein grünes Blatt Kopfsalat war schuld daran gewesen, dass sich mein Leben gründlich überschlug und strampeld neben seinen Eingeweiden liegen blieb. Dabei mag ich Salat. Wunderbar wenn die Pflanze  den Gaumen hinuntergleitet. Wie herrlich prickelndes Mineralwasser. Wohlig wissend wie sich langsam Vitamine zu spalten und die Gesundheit zu schnaltzen beginnt. Wenn Säfte wie auf Befehl beginnen in deinen Adern zu wandern.
Der Salat war als Beilage zu bayerischem Spanferkel serviert worden. Mit saftigen Knochen und Kruste. Mein Hochzeitsessen.

Vielleicht lag es am rhythmischen Schaukeln des Zugabteils. Vielleicht klebte ein Gesicht zu lange an Pauls Herz. Vielleicht waren es aber auch nur die Anstrengungen der letzten Stunden, die Paul in einen unruhigen Schlaf warfen. Unter Pauls schwer gewordenen Lidern hetzten seine jetzt völlig selbstständig gewordenen Augäpfel immer noch Bild um Bild hinterher. Dächer, Bäume und immer wieder Salatblätter stoben in seinem Kopf von keinem Ende ins Leere. Seine Ohren bogen sich nach Stimmen. Manche vertraut. Die meißten aber fremd geflüstert. Unverstädliches Geplapper, das allmählich zu unerträglichem Geschrei anschwoll und sich mit Dächern und Salatblättern zu einer Wand formierte, die gefährlich zu schwanken begann, bevor sie Paul unter schrillem Lachen begrub.
"Entschuldigung"
Mit einem Schlag war Paul hellwach. Er blickte in das Gesicht des Schaffners.
"Entschldigung Sie, hier ist Endstation"
Erst jetzt bemerkte er, dass das monotone Schaukeln aufgehört hatte.
"Wie spät ist es?"
"Gleich sieben"
"Sieben?"
Er musste Stunden geschlafen haben. Hinter dem blau uniformierten Schaffner standen, etwas ungeduldig, zwei türkise Putzfrauen.
"Es wird gereinigt."
Als Paul etwas zu schnell aufstand wurde ihm schwarz vor Augen. Schwankend wartete er bis die blinkenden Lichter verschwanden bevor er sich "auf Wiedersehen" murmelnd am Schaffner und den beiden Putzfrauen vorbeischob. Er stolperte an den den leeren Abteilen vorbei und schließlich auf den verlassenen Bahnsteig.

Kennst du diesen Zustand? Wenn die Realität zum Film wird? Wenn dein Leben zur Mattscheibe und Gefühle zu Musik zerfließen? Wenn du tief in deiner Hülle sitzt und Zeit hast deinen Hohlraum von Innen zu betrachten? 
Ich glaube, ich war gerade fünf Jahre alt, als es anfing. Heute noch spüre ich den kalten Fliesenboden. Meine nackten Füße springen über die scharfkantige Schwelle, die das Bad vom Hausflur trennt. Ich lande auf dem rauhen, abgetretenen Teppich (Wenn man nicht aufpasst und beim Rennen die Füße nicht hoch genug hebt, kann man sich die Oberseite der Zehen aufschürfen).Das Parkett im Kinderzimmer ist hart, ich nehme Anlauf und fliege jauchzend ins Bett. Meine kalten Füße, mein ganzer Körper wird in die Decke gewickelt. Mit geschlossenen Augen warte ich auf den feuchen Kuss meiner Mutter. Als die heissgeglühte Leselampe erlischt, bleibt die Wärme an meiner Wange. Ich beobachte die bunten Lichter und suche nach dem Baumhaus um die beim Zähneputzen geplante Konstrunktion zu verwirklichen. Zufrieden stelle ich fest dass mein Haus gleich beim ersten Versuch schwimmt. Ich achte auf das sanfte Schaukeln meines Floßes, höre das Kreischen der Möven, Menschen winken von den Ufern der Flüsse. Das Meer ist glatt. Manchmal kommen Vögel und setzen sich zu mir. Das sprechen lernen sie schnell.

Um punkt sieben Uhr lößte sich in 512 Metern Höhe ein kleiner Tropfen aus dem schweren Tiefdruckgebiet. Als er an Geschwindigkeit gewann, verformte ihn die Beschleunigung zu einer wabernden Birne. Wenig später zu einem länglichen Gebilde, das jetzt eine Böhe aus Nord-Ost ergriff. Der Tropfen wurde im Fall gebremst und fast waagrecht zum Horizont getragen. Als der er eine späte Schwalbe überholte, die sich kurz drauf entschliessen sollte in dichteren Luftschichten nach Eintagsfliegen zu jagen, riss der Wind ab. Senkrecht beschleunigte der Tropfen wieder und raste richtung Erde um nach wenigen Sekunden an Pauls rechter Wange zu zerplatzen.
Paul war froh, als es anfing zu regenen. Er war gerade wieder dabei gewesen der Melancholie zu verfallen. Der süße Duft der Gleise und die nur von der flackernden Beleuchtung in Szene gesetzte Dunkelheit hatte den Bahnhof in Filmmusik getaucht.
Pauls Fingerkuppen berührten die nasse Kusstelle. Er genoss den Regen. Jeden Einzelnen Tropfen. Der Folgende traf sein blinzelndes Auge. Ein nächster zerplatzte auf seiner Stirn, oder explodierten auf seiner Nasenspitze. Jetzt schüttete es wie aus Kübeln. Es prasselte auf Pauls dürren Körper. Wie Granaten schlug das Wasser ein, als wollte es Pauls zum Himmel gerichtetes Gesicht durchlöchern.

Ein salatblatt.. Bei jedem Versuch einer Rechtfertigung gerate ich ins Stocken. Wie soll ich auch einen fremden Menschen davon überzeugen, dass gerade ein Salatblatt für meine unerhörte Tat verantwortlich gewesen war. Natürlich war das Salatblatt nicht direkt Schuld gewesen... Aber nur die gottverdammte Arroganz eines Wirklichkeitsjunkies, nur die bornierte Beschränktheit eines Augenblicksmenschen könnte mir die Schuld geben, meine eigene Hochzeit in eine Katastrophe verwandelt zu haben. Nur solch blinde Erscheinungen könnten mir vorwerfen, während der Vorspeise nicht auf die gutgemeinten Fragen Tante Gertrauds geantwortet, nicht über die Witze Hermanns gelacht und die kleine Ida nicht ausgesprochen süß gefunden zu haben. Man könnte mir vorwerfen, der Rede Gustavs kein Ohr und der dreistöckigen Torte keinen bewundernden Blick geschenkt zu haben. Ich glaube nicht, dass es je ein Mensch verstehen wird, warum ich plötzlich wankend aufgestanden bin, ohne ein Wort den gedeckten Tisch verließ, um wenig später aus dem Saal zu stolpern und nicht mehr wieder zu kommen.
Doch ich will es versuchen.
Ich sitze also an dem weiß gedeckten Tisch. Gerade hatte ich die bemalten Marzipanfiguren, zwei rosa Schweinchen im Hochzeitsgewand , probiert. Mit leichten Bauchschmerzen spüre ich, wie ich langsam der Wirklichkeit entgleite. Ich kenne diesen Zustand. Meine Fingernägel bohren sich in das Holz meiner Stuhllehne. Mit aller Kraft versuche ich an der Oberfläche zu bleiben und die Geigenmusik zu verdrängen, die allmählich den Marsch der Hochzeitskapelle übertönt. Unaufhaltsam verschwinden die sowieso schon spärlichen Farben: Ein Schwarz-weiß Film. Das mir gegenübersitzende Hochzeitskleid meiner Frau wirkt trostlos. Die sonst so leuchtenden Augen meiner Gatttin blicken tot und fahl ins Leere. Als sie ihren grauen Mund öffnet, formen sich ihre Lippen in Zeitlupe zu einer Frage, die ich nur als unverständliches Raunen wahrnehme. Plötzlich schwebt der Salatteller der Bedienung von oben herab und landet genau vor der Gabel meiner Frau. Unendlich verlangsamt wird das graue Salatblatt aufgespießt und zur, vom Hochzeitsschleier eingerahmten, Gesichtsöffnung gelenkt.Im weit geöffneten Mund meiner Frau wird die feuchte Speichelschaufel sichtbar, die jetzt versucht beim Einführen der viel zu großen Pflanze nachzuhelfen. An allen Rändern der Öffnung wird das farblose Blatt gefaltet, wobei eine weiße Flüssigkeit kleben bleibt, die sich langsam ihren Weg vom Mundwinkel zum Kinn bahnt. Zwanzig verstimmte Geigen hämmern in meinen Ohren. Zähflüssige Joghurtsoße trieft auf den kleinen Beilagenteller. Die Gabel schiebt so lange nach, bis der letzte Rest im schlund verschwunden und das fleischige Tor verschlossen ist. Als die glänzende Zunge zum letzten mal hervorquillt um den Mundwinkel von Joghurtresten zu reinigen, reißen alle Saiten der Geigen mit einer ohrenbetäubenden Explosion: ich hatte ein Tier geheiratet!
An das, was als nächstes geschah, kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich viel zu schnell aufstand. Wie immer wurde mir schwarz vor Augen. Halb blind stieß ich meinen Stuhl um, der mit einem Knall auf dem harten Fliesenboden aufschlug. Ich torkelte an den langen Tischreihen, gespickt mit entsetzten Gesichtern, vorbei - irgendwie ins Freihe. Wie ich den Bahnhof erreichte um in den nächstbesten Zug zu steigen ist mir bis heute schleierhaft.

Erst als Pauls Zähne zu klappern begannen, erwachte er aus der gedankenleeren Verschnaufpause. Bei seiner Flucht hatte er nicht daran gedacht eine Jacke mitzunehmen. Paul sah sich um. Das einzige, warme Licht, das er entdeckte, kam aus den Schaufenstern des kleinen Bahnhofladens. Völlig durchnässt betrat er den Verkaufsraum. Kleine Glöckchen begannen über seinem Kopf zu bimmeln. Er war nicht überrascht, als er keinen einzigen Kunden erblickte. Eine ältere Verkäuferin mit türkisem Kopftuch saß hinter der Kasse und las eine Illustrierte, hinter der sie nur kurz hervorlugte um den neuen Besucher zu mustern.
Paul schwankte nur ein wenig, als er den Kopfsalat in der Gemüseabteilung entdeckte. Bebend, aber doch entschlossen, griff er nach der in Folie gewickelten Kugel. Mit weit von sich gestreckten Armen brachte Paul den Salat zur Kasse, wo er ihn vorsichtig vor die Verkäuferin legte. Paul starrte in die grauen Augen, die jetz wieder hinter der Zeitschrift auftauchten und mit einem kurzen Blick die Ware streiften. Gelangweilt ließ die Frau ihre Lektüre sinken.
"79 cent"

Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Paul setzte sich auf eine der menschenleeren Wartebänke. Mit zitternden Händen wickelte er den Kopfsalat aus seiner Plastikverpackung, hob ihn leicht an und drehte ihn in die richtige Stellung. Wie zum Kuss führte er den Kopf zu seinem. Als er hineinbiss, knirschte es leise.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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