Claude Peiffer

Traumwelt

Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie viele verschiedene
geistige Welten ich in meinen Träumen bereits aufgesucht hatte. In dem
Moment, in dem ich diese Welt betrat, spürte ich jedoch sofort, dass
diesmal irgendetwas anders war als sonst.
Das hatte nichts mit der bizarren Landschaft zu tun, deren rötliche
Flora um mich herum wucherte. Auch der grüngelbliche Himmel tat nichts
zur Sache. Nein! Ich hatte schon Sonderbares in meinen Träumen gesehen.
Ich stand auf einer hellen Lichtung mitten in einem roten Dschungel und
atmete tief ein. Die Luft schmeckte süßlich, erinnerte mich an
Geschmacksstoffe aus meiner Kindheit, und sie war berauschend.
So fremd mein momentaner Aufenthaltsort mir auch war, so vertraut
erschien er mir gleichzeitig. Er bot mir eine Intimität, die einem nur
ein Zuhause ermöglichen konnte. Ich fühlte mich frei und beschwingt. An
Letzterem war wohl die Luft um mich herum nicht ganz unschuldig.
Mein Unterbewusstsein schien diesmal besonders viele Glückshormone
freizusetzen. Ich fragte mich in welchen versteckten Bereichen meines
Gehirns diese Daten wohl lagen, die mir diese Traumbilder ermöglichten
und meine Sinne derart beflügelten. Doch eigentlich interessierte es
mich nicht.
Eine sonderbare, aber wohltuende Erregung überkam mich plötzlich. Ich
war hier nicht allein. Sollte auch dieser Traum wieder nur eine meiner
zahlreichen sexuellen Fantasien zu Tage bringen? Ich mochte diese
Träume, aber jetzt wäre ein solcher nur eine Enttäuschung gewesen.
Am gegenüberliegenden Rand der Lichtung trat eine leuchtende Gestalt
durch den riesigen roten Farn, der vor dem eigentlichem Dschungel
wuchs. In einer plötzlichen Eingebung streckte ich meine Hände aus und
erkannte, dass ich in demselben weißen Licht strahlte.
„Du träumst nicht, du bist tot!“, war mein erster Gedanke. Oft hatte
ich über solche Lichterscheinungen gelesen oder mir Berichte darüber im
Fernsehen angeschaut. „Nahtoderfahrungen“ nannte man so etwas in den
Kreisen von Esoterikern oder diversen religiösen Anhängern.
Sofort verwarf ich diesen Gedanken wieder. Ich war nicht tot. Ich
träumte. Ich kannte diesen Zustand nur zu gut. Ich war ein geübter
Träumer. Mit Leichtigkeit konnte ich meine Träume in jede von mir
gewünschte Richtung lenken. Also, warum tat ich es nicht?
Ich bewegte mich auf die leuchtende Gestalt zu. Sie tat das Gleiche. Es
kam mir vor, als würde ich auf einen Spiegel zugehen. Reflexartig hob
ich den rechten Arm zum Gruß. Mein Gegenüber grüßte zurück. Aber den
Bruchteil einer Sekunde später und nicht so, wie es mein Spiegelbild
getan hätte.
Je näher ich der leuchtenden Gestalt kam, desto ­klarer wurde ihr
Erscheinungsbild. Sie trug keine Kleidung. Ich blickte an mir herunter
und erschrak. Nicht über meine Nacktheit. Ich war alles andere als
prüde. Im wirklichen Leben war ich ein Mann. Und ein Mann war ich auch
stets in meinen Träumen gewesen. Und was für einer. Aber nun war nichts
mehr da, was mich als Mann hätte auszeichnen können.
Ich sah genauso aus wie mein Gegenüber. Wir waren beide geschlechtslose
und haarlose Wesen, besaßen Gliedmaßen, einen Mund, eine Nase, Augen
und Ohren. Und leuchteten.
Stumm und erwartungsvoll standen wir uns gegenüber.
„Wer bist du?“, brach ich das Schweigen.
„Dein Gegenstück!“, lautete die Antwort. „Ich suche dich bereits seit
unserer Geburt. Nun habe ich dich gefunden und wir können uns vereinen.“
„Moment, ich verstehe nicht“. Ich trat einen Schritt zurück, um zu verhindern, dass mein sogenanntes Pendant mich berührte.
„Trotz seines Erscheinungsbilds, ist ein Mensch ein ­duales Wesen“,
erklärte mir meine mentale Zwillings­projektion. „In jedem menschlichen
Geist leben zwei Bewusstseine. Nur so kann ein Zwiegespräch mit sich
Selbst geführt werden. Die meisten Menschen tun dies unbewusst. Aber
nur diejenigen, die sich ihrer Dualität völlig bewusst sind und diese
auch akzeptieren, können ein ausgeglichenes Leben führen. Bei
Nichtakzeptanz, verfällt man dem Wahnsinn, was in unserer realen Welt
zu vielen gesellschaftlichen Problemen führt. Aber für lange
Erklärungen haben wir noch später Zeit.“
Mein Gegenüber sprang mich an, berührte mich und ich erwachte. Nein,
das war nicht ganz richtig. WIR erwachten. Etwas in mir (in UNS?) hatte
sich verändert. Wir fühlten uns sehr ausgeglichen und völlig ausgeruht.
Endlich waren wir nicht mehr allein. Dies war ein gutes Gefühl. Es
machte uns stark. Wir dachten nur kurz an unseren gemeinsamen Traum,
unseren kurzen Dialog, und an ein Wort aus dieser Unterhaltung:
WAHNSINN!
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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