Norbert Schimmelpfennig

Der Teufel mit den drei Plutoniumhaaren

HINWEIS:
vgl. hierzu meine Geschichten "Schnapsidee in der Wochenzeitung" und "Schlechtes Gewissen"!
 
Ansprache des Teufels am Ende des 21. Jahrhunderts zum Eintritt in die Hölle:
„Sehr geehrte Tote,
ich hoffe, es wird Ihnen bei mir gefallen! Sie haben mir auf Erden so viele Gefallen getan, dass ich mich erkenntlich zeigen will.
Mit Gefallen meine ich: Sie haben nicht darauf geachtet, wenn jemand traurig war; Sie haben sich überhaupt nicht darum gekümmert, was andere wohl über Ihre Taten dachten; Sie haben nicht an das Eigentum anderer gedacht; und Sie hatten auch keine Scheu davor, andere Menschen vorzeitig zu mir oder ins Paradies zu befördern. Vielen von Ihnen habe ich aber auch lediglich eine Gunst erwiesen und ihnen das Versprechen abgenommen, einst zu mir zu kommen; gleichfalls gewinne ich immer noch häufig die Wette, dass die Betreffenden niemals einen Moment daran denken, die Zeit anzuhalten.
Doch genug der Vorrede, ich will Sie nicht länger aufhalten, treten Sie ein!
Allerdings müssen Sie als letzte Prüfung noch auf eine Waage steigen, denn Sie müssen unbedingt mehr wiegen als die Feder daneben, die sich aus Ihren guten Taten formt.“
 
Der Chor der gefallenen Engel stimmt sein Lied an:
   „I want to be midnight in your eyes,
   I want to be some hole only darker…”

Aus den Nachbarräumen strömt ein starker Geruch nach Schwefel.

Dazu steigt die erste Höllenkandidatin auf die Waage: Gertrud Sauerwein von der Partei DIE FARBLOSEN, geboren 2050, gestorben 2098, als der Meteorit über Berlin verglühte.
Der Teufel erklärt ihr:
„Ab hier rede ich schon einmal alle mit ‚du’ an. Also, Gertrud, deiner Meinung nach sollten Politiker immer durchsichtige Kleidung tragen, als Zeichen, dass sie vor den Wählern nichts zu verbergen haben. Dies fällt aber heutzutage nicht mehr unter das Gebot ‚Du sollst nicht ehebrechen’; darunter ist jetzt nach einhelliger Meinung nur noch zu subsumieren, wenn man den Ehepartner in einer Notlage im Stich lässt. Deshalb wiegt die große Feder mehr als du, und du bist irrtümlich zu mir geschickt worden, darfst mein Reich durch die Tür dort verlassen!
Der Nächste bitte…
Nun haben wir Dieter Missi, geboren 1965, gestorben 2045. – Hast dich ja lange in den Lichttunnels aufgehalten! Den Lateinlehrer deiner Veronika, diesen Herrn Muschelkönig, habt ihr damals ganz schön an der Nase herumgeführt, als sie dessen Brille heimlich mit einer schlechteren vertauschte, so dass der Lehrer nichts merkte, als du dir eine Perücke aufgesetzt und die Prüfungsarbeit für Veronika geschrieben hast. Na ja, immerhin habt ihr später ebenso heimlich die Brille wieder zurück getauscht. Und Alkohol mit dem Strohhalm hast du dann auch nicht mehr getrunken?“
Da schüttelt Dieter den Kopf, während sich sein Gewicht und das der Feder langsam einpendeln.
Der Teufel kratzt sich angesichts des knapp scheinenden Ergebnisses seine drei Plutoniumhaare. Diese Haare hat er sich neulich zugelegt, weil er schon seit langem die drei goldenen Haare vermisste, die ihm ein Kind einst gestohlen hatte, und jetzt seit neuestem ebenso die Atomkraftwerke, die im Laufe des 21. Jahrhunderts alle stillgelegt worden waren. Schließlich seufzt er und fährt fort:
„Schade, auch bei dir reicht es nicht, auch du musst durch diese Tür dort hoch ins Paradies! Gleich zum Nächsten…
Sieghard von der Wagendämmerung, geboren 1972, gestorben 2010. – Hast ja wirklich sehr lange Zeit in den Lichttunnels zugebracht, hast dich wohl nicht hierher getraut?!
Du erfüllst wahrlich die besten Voraussetzungen, um bei mir bleiben zu können; dein Leben als Erwachsener bestand ja fast nur aus Diebstählen. Zum Schluss hast du noch deinem Namen alle Ehre gemacht, indem du Autos geklaut und in den Osten verschoben hast. Auf deiner letzten Fahrt schließlich warst du, ebenso wie deine Dietlinde, mit Drogen vollgepumpt. Sie wollte vom Beifahrersitz aus das Lenkrad in die Hände nehmen. Du hast zwar noch geschrien: ‚Weg vom Lenkrad!’
Dennoch konntest du nicht verhindern, dass ihr vom Weg abkamt und das Auto geradewegs in den Fluss fuhr, wo der Tod dann schnell kam…“
Plötzlich rauft sich der Teufel seine drei Plutoniumhaare und flucht:
„Warum reicht es denn nicht einmal bei dir? Das wäre doch das allerhehreste Wunder! Sehen wir einmal auf dem Schlangenaugenbildschirm nach…“
 
Der Teufel begibt sich zu seiner Tastatur aus Skorpionsstacheln, auf die er tippt, sodass auf einem Monitor, der wie das Auge einer Schlange geformt ist, Bilder aus Sieghards Leben erscheinen. Dazu erklärt der Teufel:
„So, hier haben wir den Tag, an dem du glaubtest, die Polizei wäre hinter dir her, weil du den Schmuck der reichen Wanda von Sperlingsburg gestohlen hattest. Da hängt auch die Krawatte, auf die Dietlinde mit dem Bier die Ringe gezeichnet hatte. Diesen gestohlenen Schmuck nun hast du voreilig in der Toilette weggespült, dabei wollte dich die Polizei nur fragen, ob du einen Unfall vor deinem Fenster gesehen hattest. – Was ist denn nun aus diesem Schmuck geworden? Sehen wir einmal … hmmm:
Von einem obdachlosen Paar aus der Kanalisation gefischt, und dieses Paar konnte von dem Erlös ein Geschäft aufmachen und bis ans Lebensende glücklich sein. – Das kann aber noch nicht alles gewesen sein…
Was steht da für eine Message? Millionen von Menschen das Leben gerettet? Wie das?“
Da zuckt auch Sieghards feinstofflicher Leib die Schultern, und der Teufel fährt mit seiner Suche fort:
„Bei den Schmuckstücken, die das obdachlose Paar aufgefischt hat, fehlt ein schweres Medaillon – ah, das erscheint jetzt auf einem anderen Bild…
In der Nähe läuft auch eine Ratte, und diese Ratte kenne ich doch… Ja, es ist genau die Ratte, die ich mit sämtlichen Pestbazillen beladen hatte, die ich nach 650 Jahren endlich wieder in ausreichender Zahl beisammen hatte, 650 Jahre nach der schönen Zeit um 1348, als ein Drittel aller Europäer an der Pest gestorben war. Im Jahr 1998 hätte sich dies eigentlich wiederholen sollen, tat es aber nicht, warum auch immer…
Was sehe ich da? An dem Medaillon haben sich Essensreste festgesetzt, auf die sich die Ratte begierig stürzt. Die Strömung führt jedoch dazu, dass die Ratte von der Kette des Medaillons umschlungen wird und sich nicht mehr befreien kann. Ein Stück weiter wird das Wasser ruhiger – und jetzt wird die Ratte vom Gewicht des Medaillons in die Tiefe gerissen, auf Nimmerwiedersehen!
Da hol mich doch ich!!! Darum also darfst auch du nicht bei mir bleiben, Sieghard, weil du auf diese Weise Millionen von Menschen vor dem Tode bewahrt hast. – Na ja, hoffentlich geht es im Jahr 2648 besser, da werde ich nicht noch einmal alles auf eine Ratte setzen…
Du aber darfst jetzt durch die Tür dort hinten verschwinden: Wegen deiner vielen schlechten Taten musst du zunächst durchs Fegefeuer; da wird der Sieg wirklich hart werden, Sieghard, aber du wirst es schaffen!
Nun weiter in der Reihe…“
 
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vgl. hierzu meine Geschichten "Schnapsidee in der Wochenzeitung" und "Schlechtes Gewissen"!
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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