Nicole Große

Zurück ins eigene Leben

Manchmal fällt er mir noch ein, wenn ich abends an seinem Haus vorbeifahre, jetzt, wo es kälter wird. Denn der Winter war unsere Jahreszeit. Die Zeit, in der wir uns vor einigen Jahren kennen und lieben gelernt hatten. Seitdem ist zu viel geschehen, dass mich jedes Mal, wenn ich an diese Zeit denke, fast zu Tränen rührt. Doch ich bereue nichts…Wie ein Schleier umhüllen meine Gedanken das bereits Geschehene, wenn ich mir diese Zeilen erneut lese. Denke ich nur ein paar Monate zurück, kommen mir die Tränen. Wie schnell konnte sich denn bloß ein Mensch verändern? Was war der Auslöser dafür? Wie in Trance schweifen meine Gedanken zu ihm…
 
Ganz zu Beginn unserer Beziehung gab es keinen einzigen Tag, an dem ich ihn nicht ohne ihn sein wollte und er nicht ohne mich. So oft rief er mich an, ohne einen Grund zu nennen, nur, um meine Stimme zu hören. Es gab keinen Abend, an dem wir nicht pausenlos, zwei, drei, vier Stunden mit unseren Gesprächen  - damals noch - das Festnetz meiner Eltern blockierten, um uns einfach ein bisschen besser kennen zu lernen. Wir hatten beide diese Gewissheit, dass unsere gemeinsame Liebe alles richten würde. Einfach alles.
 
Er schrieb mir Briefe, dass ich alles für ihn bin, und dass er das Jahr mit seiner Ex nur zu gern gegen drei Wochen mit mir eingetauscht hätte. Irgendwo versteckt in „seiner“ Ikea-Faltbox liegen sie, in der ich all die Dinge, die unsere Beziehung betrafen, hinein getan habe. „Und diese Kiste werde ich eine ganze Weile nicht öffnen“, sagte ich zu mir selbst.
 
Du mailtest mir: „Ich möchte mit dir alt werden.“ Diese Worte drücken aus, was tief in uns beiden Land gewonnen hat. Es gibt keine Masken, kein sich-verstecken-müssen, keine Geheimnisse. Das macht unsere Liebe so einzigartig.
 
Dich annehmen, so wie du bist? Aber ich nehme dich nicht nur an, ich begehre dich wie du bist, weil du so bist, wie du bist. Nicht eine Liebe trotz dessen, sondern eine Begierde eben deswegen. Sich geben, wie man ist, Schwächen und Geheimnisse gemeinsam hüten, Verbündete sein. „Gemeinsam sind wir stark!“, heißt es. Aber nicht nur das: Gemeinsam sind wir unverletzlich!
                                                               
 
Wenn wir an den Wochenenden einen gemeinsamen Schlaf finden, uns in unsere Träume tragen, dann ist jeder treuer Begleiter des anderen; bis zum Erwachen. Denn das ist der schönste Beginn eines neuen Tages. Mit dir. Mit dir alt werden? Ja – und jung bleiben! Das ist nicht der Brief, den ich schreiben wollte. Es ist der Brief geworden, den ich schreiben musste. Christian, ich liebe dich!“
 
Das war damals, doch binnen eines Jahres verwandelte sich ein so liebreizender, interessanter Mann in ein sich-selbst-liebendes Monstrum.
 
Ich erinnere mich an die Vorhänge, ebenso wie an sein Schlafzimmer. Es ist sein Jugendzimmer, so eingerichtet, wie er als kleiner Junge gelebt haben musste, graue Tapete, blauer Teppich, dunkelblaue Vorhänge. Zugezogen deshalb, weil er noch schläft, um diese Zeit. Er schläft immer bis zur letzten Sekunde.
 
Ich erinnere mich an die vielen Wochenenden, als ich mich Samstagmorgens im Badezimmer vor dem an der Wand hängenden Spiegel fertig gemacht habe, in den fünf Minuten zwischen Aufstehen und aus dem Haus hetzen. Er hat das nie wirklich gemocht, mein Zeug in seinem Badezimmer. Sie hat ihn gestört, die kleine Waschtasche unterm Stuhl, auf deren Boden immer ein bisschen Wasser stand, das sich in ihr vom Duschgel und den Shampoo-Flaschen gelöst haben musste und in die Tasche tropfte. Niemals durften Wasserflecken an seinem heiß geliebten Spiegel hinunter laufen, denn das mochte er nicht. Niemals durfte meine Waschtasche vor dem Spiegel stehen, denn der musste frei bleiben, damit er sich in voller Pracht betrachten konnte,. Wann immer ihm danach war, vor dem Duschen, nach dem Duschen, während der Rasur, es schien mir, jedes Mal, wenn er sich im Bad befand.                                                                                                                                       
 
Samstagmorgens frühstückte ich mittlerweile fast immer allein mit seinen Eltern, das mir mit ihm zusammen noch besser gefallen hätte. Mein Rhythmus: Ruhe. Manchmal schon viel zu früh aufstehen, rumbummeln. Langsam wach werden. Einen Kaffee genießen. Wenige Worte, mehr Gesten und vielleicht ein kurzes Ankuscheln und den Kopf an der Männerbrust ruhen lassen, bevor es in den Tag geht. Der freundlich scheint, im Gedanken an diese Männerbrust, die damals zu mir gehörte. Doch er verschlief lieber den halben Tag. Für ihn gab es, nachdem er sich dann doch mal aus dem Bett gewälzt hatte und in die Klamotten gesprungen war, keinen Kaffee, weil er ihn nicht mochte, stattdessen jeden Morgen Milch.„Probier doch mal.“ -  „Nein, danke. Nicht jetzt.“ - „Gott, bist du anstrengend.“ Die ersten Worte, gefolgt von vielen, hart und schnell gesprochen, wütend nach mir gespuckt.
 
„Du hast dich gewälzt heute Nacht, ich konnte kaum schlafen.“ Geschämt habe ich mich, für das Nichtprobieren der Milch, denn ich trank ja morgens Kaffee, für das Stören und Platz aufbrauchen, seine Luft wegatmen. Wo ich doch ohnehin schon mein Bestes gegeben habe, um wenig aufzufallen, mich unauffällig zu verhalten in einer fremden Familie, in der ich gern aufgewachsen wäre.
 
Langsam begann ich mich, nach ihm zu richten. Nach seinem Leben, seinem Rhythmus, seinen Wünschen, Vorstellungen und Ansprüchen. Heute frage ich mich: „Warum das alles?“ Die Antwort lag auf der Hand: Ich liebte diesen Menschen –so, wie er einst war.
 
Abends hab ich oft lange neben ihm wach gelegen. Viele Dinge gingen mir durch den Kopf. Im Sommer kam manchmal sogar noch das Licht der Sonne durch die Vorhänge geschlichen, die sich erst nach uns schlafen legte. Dann konnte ich eine brennende Sehnsucht spüren, die durch meine Seele tobte. Wütend darüber, von mir ignoriert zu werden, viel zu lange schon. Ich konnte meinen unruhigen Atem hören, von dem ich Angst hatte, er könnte ihn wecken.
 
Oft habe ich in diesen Nächten, wenn sie kein Ende nehmen wollten, doch wieder über eine Flucht nachgedacht, aber ich konnte die Tür in die Freiheit nicht finden. Weil ich nicht merkte, dass ich es selbst war, die sie verstellte; mit meiner Angst. Davor, zu verlieren, was ich liebte, obwohl es längst dabei war, mich selbst zu zerstören.
 
„Verändere dich doch einmal“, in wie fern teilte er mir auch beim Nachfragen nie mit. Anscheinend musste er nach einem Grund SUCHEN, dass er mich irgendwie loswerden konnte. Aber ich verändere und verbiege mich nicht für andere Menschen. Habe ich noch nie getan. Ich bin ich – und das ist gut so. Er überdachte aber selbst nie SEIN Verhalten. Als Soldat auf Zeit musste man eben auch zu Hause den „Macker“ und Großkotz heraus hängen lassen, ja, sogar seiner Freundin Befehle erteilen, die ich aber nicht ausführte und das machte ihn rasend. Gelernt hat er nie, dass Liebe mit Akzeptanz und viel Einfühlungsvermögen zu tun hat, ja, auch mit Schwäche. Doch das konnte er nicht zulassen. Er hätte nie als schwach gelten dürfen. Vielleicht fehlte in seinem Leben auch eine echte Vaterfigur, der ihm Grenzen aufgezeigt hätte, denn er konnte und kann immer machen, was er will. Daheim musste er nie seiner Mutter bei irgendetwas mit helfen, kennt kaum den Unterschied von Hacke und Harke und Kartoffeln für ein Mittagessen zu schälen dauerte eine ganze Stunde.
 
So schnell war das Leben, das wir teilten, nicht mehr ein gemeinsames, sondern seines, dem wir beide Gestalt gaben, während ich mein eigenes verlor und dabei fast nichts von mir übrig blieb. Und doch war es nie genug. Er war nie zufrieden mit meiner Person. Das Uns und Gemeinsamkeit gab es schon lange nicht mehr. Statt „gemeinsam gegen den Rest der Welt“ hieß es bei uns „mein Bundi und das Internet gegen mich“. Jeder in seiner eigenen Welt. Sein Internet! Frauen, Bilder, Foren, Nacktheit. Ich: nicht mehr existent. Diese Weibsbilder würden jede andere Frau genau so rasend machen. An die 700.000 Fotos von Frauen in Fetisch-Outfits und High Heels, jeden Tag kamen mehr hinzu. Er kann sie doch bereits nicht mehr zählen. Wie würde sich eine andere Frau an seiner Seite dabei fühlen? Dass Männer Pornosammlungen besitzen, ist mir klar. Warum auch nicht?! Manche sind schön anzusehen und können auch anheizen, aber dass man nur dafür lebt…ist doch schlimm.                                                                                                                 
 
Nur selten schaute er auf, wenn ich eine Antwort auf eine simple, eben von mir gestellte Frage bekommen wollte. Ich liebte diesen Mann trotz seiner Fehler und dachte daran, wie es wäre, wenn er mir einmal zuhören und sich in meine Lage hinein versetzen würde. Das blieb leider ein Traum. „Sprich nicht über etwas, wovon du nichts verstehst“, hat er oft gesagt, wenn ich ihn auf seine PC- und Internet-Sucht ansprach, meist am Sonntagmorgen, wenn er doch ein bisschen Zeit für mich opferte. An solchen Sonntagen, an denen er, wenn die Kritik endlich ein Ende gefunden hatte, immer seltener auf meine Seite des Bettes gerobbt kam, um den Frust über eine zerschlagene Nacht in mein kleines Ich hineinzuvögeln. Ohne Kuscheln und viel zu weit weg von der Männerbrust, lag ich dann da und wusste, dass ich nun auch noch zu spät kommen würde in meinen Tag, der gar nicht mehr freundlich schien, beim Gedanken an das, was vor mir passierte, wie ohne meine Anwesenheit.
 
Wie seine Hand sich da so in mir festkrallte, als sei ich längst kein Mensch mehr, habe ich erneut versucht zu verstehen, wohin der Mann verschwunden war. Und ich habe lange geglaubt, er stecke noch irgendwo in dieser Hülle, musste doch, denn ich hatte ihn nicht gehen sehen. Er hatte keine Worte des Abschieds an mich gerichtet. Seiner Stimme diese Sanftheit zurückgeben, mit der seine Worte mich einst gestreichelt hatten. Und seinen Händen die Zartheit, mit der sie über mich hinweg glitten, anstatt zu rütteln und zu schütteln an meinem müde gewordenen Körper. Danach fühlte ich mich dreckig und wusste weder Ein noch Aus.                   
 
Hinter seiner Unzufriedenheit und dem Missmut, den ich nicht verstehen konnte, entdeckte ich, nachdem ich die Faszination und Begeisterung der ersten Tage abstrich, einen bitteren Mann, der nicht bereit war zu Kompromissen, versessen auf seine Kontrollsucht und nicht in der Lage zu lieben, zumindest noch, zumindest sich - und so am Ende niemanden. Den Kampf hatte ich trotzdem aufgenommen, um ihn, um uns, um diese Liebe zu retten, derer ich mir so sicher gewesen war. Doch er hatte mich nicht ernst genommen, als ich schwer bewaffnet gegen den schleichenden Verlust von Nähe, Zauber und Liebe ins Feld zog. Er hat mich nicht angehört, als ich versucht habe, ihm zu erklären, dass es so nicht weitergeht, weil ich längst nicht mehr konnte und dass er mich verlieren wird. Es ist eine lange, schwere Schlacht gewesen, doch eines Morgens bin ich wach geworden und habe gespürt, es ist vorbei. Wäre sein Herz wacher gewesen, hätten wir uns retten können, damals. Und ihn mit.
 
Da ist die Angst einen Moment unachtsam gewesen. Sie, diese Angst, hat sich gebückt, um zu sehen, ob auch ihre Schuhe noch ordentlich geschnürt sind; so habe ich hinter ihrem Rücken die Tür entdeckt und bin ohne Zögern an ihr vorbei um mein Leben gerannt.
 
Und in mein Leben. Das noch da war, weil es in all der Zeit auf mich gewartet hatte, wie nett. Müssen uns erst wieder aneinander gewöhnen, mein Leben und ich. Hatten ja eine lange Zeit ohne einander verbracht. Aber wir haben uns wieder gut eingerichtet, miteinander. Heute haben wir an ihn gedacht, als wir die dunkelblauen Vorhänge gesehen haben, zugezogen wie immer, obwohl der Tag längst strahlte. Und uns gefreut, dass ich nicht mehr dahinter liegen muss.
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Nicole Große).
Der Beitrag wurde von Nicole Große auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Nicole Große als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Befreit - Ermutigende christliche Gedichte von Cornelia Hödtke



Wer sehnt sich nicht nach Befreiung, Annahme und Ermutigung. Die durchlebten christlichen Gedichte haben dieses Ziel.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Nicole Große

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Wofür soll ich mich entschuldigen von Nicole Große (Lebensgeschichten & Schicksale)
Hab dich ganz doll lieb von Achim Müller (Wie das Leben so spielt)
Hinaus in die Ferne von Karl-Heinz Fricke (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen