Merle Schulz

Der Ast

Ein kleiner
Bach floss gutgelaunt und glucksend einen Hügel hinab. Über
ihm lachte die Sonne und an seinen Ufern blühten Blumen. Der
kleine Junge, der an seinem Rand stand, schien dies alles gar nicht
zu bemerken. Traurig schaute er einem Stock hinterher, den er soeben
ins Wasser geworfen hatte.
Vier Jahre war
es nun her, der Junge war damals gerade vier Jahre geworden, da war
sein Vater, ein Matrose, von einer langen Seereise nach Hause
gekommen. Er hatte versprochen, nie wieder zur See zu fahren, sondern
bei Frau und Kind zu bleiben. “So wahr, wie der Apfelbaum bei uns
im Garten steht und jedes Frühjahr für uns blüht”,
so hatte sein Vater versprochen, “so wahr werde ich bei euch
bleiben und für euch sorgen.” Und als Zeichen für sein
Versprechen hatte er zwei Äste vom Baum abgebrochen und seiner
Frau und seinem Sohn je einen gegeben. Die Mutter hatte ihren in eine
Vase gestellt, und als er verblüht war, zusammen mit den anderen
Küchenabfällen auf den Kompost geworfen. Der Junge aber
legte seinen unter sein Kopfkissen und hütete ihn wie einen
Schatz.
Die erste Zeit
war sehr vergnügt, und obwohl es für den Vater schwierig
war, eine Arbeit in ihrem kleinen Heimatdorf zu finden, gab er die
Hoffnung nicht auf. Er kämpfte, bis ihn jemand einstellte und
nahm die schwierigsten und undankbarsten Stellen an ohne zu murren.
Die Familie hatte nicht sehr viel, doch mit dem, was der Garten
abwarf, reichte es zum Leben.
Doch nach zwei
Jahren merkte der Junge, dass die Eltern sich immer öfter
stritten. Der Vater war es Leid, immer wieder aufs neue um eine
Stellung zu betteln, und die Mutter wollte nicht immer so aufs Geld
achten müssen. Sie wünschte sich seit langem schon ein
neues Kleid. Wenn die Eltern sich so stritten, lief der Junge schnell
in seine Kammer, holte den Zweig unter dem Kopfkissen hervor und
setzte sich unter den Apfelbaum. Das gab ihm Trost, denn der Vater
hatte ja bei diesem Baum ein Versprechen gegeben.
Ein Jahr lang
geschah nichts, und der Junge hatte sich inzwischen daran gewöhnt,
dass die Eltern sich ab und an stritten. Eines Morgens jedoch wachte
er auf und sah aus seinem Fenster, dass der Apfelbaum mitten im
Sommer anfing, seine Blätter zu verlieren. Er rannte in den
Garten, kniete sich vor den Baum und fing bitterlich an zu weinen.
Die Mutter versuchte ihn zu trösten, doch es half nichts. Sie
erklärte ihm, dass eben auch Bäume krank werden können,
dass es aber nicht schlimm sei, da der Birnbaum inzwischen so groß
geworden sei, dass er dieses Jahr bestimmt reichlich Früchte
tragen werde. Sie würden in diesem Jahr statt Äpfeln halt
Birnen essen. Zum Schluss versprach sie ihm sogar, sich um einen
neuen Apfelbaum zu kümmern. Doch all das gute Zureden half
nichts, so dass der Vater, der hinzugekommen war, ihm zum Schluss ein
Ohrfeige androhte, wenn er nicht endlich aufhöre.
Und nun war es
geschehen. Gestern Morgen hatte der Vater seinen Seesack gepackt und
war in Richtung Stadt, zum Hafen, davongestampft.
Der Junge
winkte dem Ast, der nun Richtung Meer schwamm, traurig nach und sagte
leise: ”Wenn du meinen Vater triffst, dann grüß ihn von
mir. Wünsch ihm alles Gute und sag ihm, ich vermisse ihn.”

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Merle Schulz).
Der Beitrag wurde von Merle Schulz auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Merle Schulz als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die dicke Made von Chris Peter



Die Geschichte einer Made auf großer Reise, ihren Abenteuern und dem Wunsch, allen zu Hause an ihren Erlebnissen in einer fernen Welt teilhaben zu lassen. Geschrieben in klassischer Gedichtform zum Lesen und Vorlesen, nicht nur für Kinder, sondern für alle, die sich ihre Fantasie erhalten haben und die schon immer wissen wollten, wie und warum gewisse drei Worte auf so manches Spielzeug kamen …

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Kindheit" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Merle Schulz

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Schnell wird man ein Ewald von Rainer Tiemann (Kindheit)
Warum können Männer nicht so sein wie wir? von Eva-Maria Herrmann (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen