Annika Modis

Ein etwas anderer Urlaub

Das ist also mein Vater, zuckt es mir durch den Kopf, als ich in Brunswick Georgia aus dem überhitzten Flugzeug in die Wartehalle trete. Nur ein Mensch wartet dort, und das offensichtlich auf mich. Es hätte mich auch gewundert, wenn jemand außer mir so verrückt gewesen wäre in diese kleine Blechschale zu steigen das zu Unrecht den Titel Flugzeug trägt.
Der Mann, der mich abholt ist in etwa so groß wie ich, was hauptsächlich daran liegt, dass er steht wie ein Fragzeichen. Ein bitterer Zug liegt um seinen Mund und ich fühle mich bereits jetzt schon deplatziert. Während er sein schmieriges T-Shirt zurechtzupft und die braune Cordhose noch ein wenig höher in Richtung Achsel zieht, habe ich Gelegenheit diesem mir fremden Menschen ausgiebig zu mustern. Natürlich war mir klar, dass er nicht mehr das volle schwarze Haar haben würde, wie auf den Fotos, die die einzige Erinnerung an ihn sind, noch, dass er diese stolze Haltung haben würde, doch dieses Häuflein Elend sollte tatsächlich der Mann von den zwölf Jahre alten Bildern sein? Sein Haar ist weiß wie Schnee und schütter, dass er mich an meinen Großvater erinnert, den ich allerdings mindestens genauso lange nicht gesehen habe. Aber bevor ich dazu komme, mir die Menschen aus meiner Familie in meinem Gedächtnis auszumahlen, wie sie nun nach all den Jahren wohl aussahen, unterbricht er mich mit einer nicht unangenehm klingenden Stimme in meinen Gedankengängen.
„Wir müssen uns beeilen, ich habe noch einen Termin!“ schnauzt er mich an und ich denke mir, dass ich hier die nächsten acht Wochen wohl weniger zu lachen haben werde, als ich es mir erhofft hatte. Nicht ohne Mühe schleppe ich den großen Koffer zu dem alten Auto und steige ein. Der Mann fährt los, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen und ich überlege ernsthaft, ob ich ihn nicht darauf ansprechen sollte. Doch ich verkneife mir meine bissigen Kommentare und lasse die Zukunft schweigend auf mich zukommen.
Wir fahren nicht lange und erreichen nach etwa zwanzig Minuten eine kleine Vorstadtsiedlung. Weiße Häuser mit weißen Lattenzäunen, alles typisch amerikanisch. Irgendwo bewässert jemand seinen ausgetrockneten Rasen, aber sonst regt sich in diesem Vorort von Brunswick nicht viel. Das Auto ist dank der Klimaanlage auf eine angenehme Temperatur abgekühlt während draußen die Luft vor Hitze flimmert. Wir halten vor einem dieser Häuser und meine Verzweiflung wächst: Hier gibt es nichts! Kleine Häuser wo das Auge hinblickt aber keine Einkaufspassage, keine Jungendlichen – nichts! Ich komme jedoch nicht dazu aus dem Auto zu steigen, denn der alte Mann hält mich zurück.
„Warte hier.“ Ich beginne mich zu fragen, warum ich eigentlich hier bin, wenn ich mir ständig Befehle geben lassen muss. Erst da fällt mir auf, dass ich noch nicht einmal begrüßt wurde. Schulterzuckend lasse ich mich tiefer in den Sitz sinken und warte in einem heißer werdenden Auto darauf, dass mein Fahrer wieder aus dem Haus kommt.
Ich bin bereits gut durch, als er erscheint und losfährt. Nebenbei bekomme ich eine handvoll Unterlagen in den Schoß gedrückt, doch mehr Aufmerksamkeit kann ich meinem Erzeuger nicht abringen.
Erneut fahren wir nur kurz und halten schließlich vor einem gigantischen Einkaufszentrum. Mein Erzeuger befiehlt mir, aus dem Wagen zu steigen und läuft schließlich mit großen Schritten auf den Eingang der Mall zu. Ich habe Schwierigkeiten ihm zu folgen, doch schließlich wartet er ungeduldig auf mich, bevor wir gemeinsam einen großen Laden betreten. Die Klimaanlage ist so stark, dass ich das Gefühl habe gegen eine Wand zu laufen. Ein Gefühl, das mich über die kommenden acht Wochen ständig begleiten soll.
Kaum haben wir den Laden betreten kommt eine charmante rothaarige Frau auf mich zu und begrüßt mich stürmisch, als würden wir uns bereits Jahre kennen.
Mein Vater stellt mich höflich vor und zum ersten Mal sehe ich so etwas wie ein lächeln auf seinen Zügen. Enttäuscht stelle ich fest, dass dieses Lächeln nicht mir gilt, oder dem Stolz auf seine Tochter, die mit sechzehn Jahren ganz alleine über Atlanta nach Brunswick geflogen ist, sondern der Aussicht auf ein lukratives Geschäft. Ich kann mich dem Gefühl nicht erwehren, wie auf einem Viehmarkt verkauft zu werden, als er sich umdreht und mir mit knappen Worten erklärt, dass ich bei Carol und William bleiben solle, solange er noch arbeitet.
Carol – die rothaarige Dame – und ihr Mann William erweisen sich als äußerst zuvorkommend. Ich darf mich in eines der ausgestellten Betten legen und meinen Jetlag ausschlafen während die Geschäfte in dem großen Gift-Shop seinen gewohnten Gang nehmen.
Dass ich mit Carol und William noch öfter zu tun haben würde, wird mir erst klar, als mein Erzeuger mich am späten Abend abholte und mir auf der Heimfahrt folgende Spielregeln erklärt: „Ich möchte nicht, dass Du mit irgendwelchen Menschen mit gehst, auch wenn Du glaubst sie zu kennen. Außerdem ist mein Computer für Dich tabu, genauso wie das Telefon. Und achte bitte darauf, dass der Fernseher aus bleibt, ich möchte mir nicht den Zorn der Nachbarn zuziehen, weil Du Dich nicht benehmen kannst. Und keine Musik, haben wir uns verstanden?
Du wirst tagsüber alleine sein, weil ich arbeiten muss, also kannst Du Dich im Haushalt ein wenig nützlich machen.“
Kein Fernsehen, keine Musik, kein Telefon, kein Internet und das die kommenden acht Wochen? Am liebsten würde ich umgehend wieder nach hause fliegen, doch das geht leider nicht.
Zwei Wochen lang lasse ich mir dieses Gefängnis gefallen, ehe sich mein Freiheitsdrang meldet. Kurzerhand laufe ich morgens los, kurz nachdem mein schlechtgelaunter Erzeuger das Haus verlassen hat und mache mich auf den Weg in die Mall.
Zu Fuß ist der Weg weiter als ich ihn mit dem Auto in Erinnerung hatte und gerade als ich denke, ich hätte mich nun endgültig verlaufen, taucht das riesige, blaue Gebäude vor mir auf.
Carol und William sind froh mich zu sehen und begrüßen mich so herzlich, dass ich plötzlich die Tränen der Enttäuschung nicht länger zurückhalten kann und ihnen schluchzend erzähle, was sich während der letzten Wochen zugetragen hatte. Die Beiden sind sichtlich geschockt und so schließen wir im geheimen einen Deal: Jeden Morgen, nachdem mein Vater das Haus verlassen hatte, holen mich die beiden ab, und wir fahren gemeinsam in ihren Laden, wo ich meinen ersten Sommerjob machen darf. Doch nicht nur im Gift-Shop wird meine Hilfe benötigt, auch in einem von Carol und William geführten Auktionshaus gibt es genug für mich zum helfen. Ich verdiene achtzig Dollar die Woche, was für mich ein kleines Vermögen ist, nachdem mein Erzeuger mir noch beim Auspacken meiner Koffer alles Geld abgenommen hatte.
Ich kaufe mir einen neuen Discman und kann nun doch endlich alle CDs hören, die ich mir aus Deutschland mitbrachte und leiste mir ebenfalls das ein oder Andere. Die Arbeit im Auktionshaus ist hart. Es gibt viele schwere Dinge zu schleppen und das bei einer Durchschnittstemperatur von fünfunddreißig Grad im Schatten, aber nichts auf der Welt würde ich lieber machen. Ich sehe durch die Reisen viel von Georgia und lerne viele nette Menschen kennen.
Doch mein Urlaubstraum hält nicht lange, denn der alte, missmutige Mann kommt hinter mein kleines Geheimnis und stellt mich nach kaum zwei Wochen zur Rede.
Während wir diskutieren und ich versuche ihm zu erklären, dass er mich nicht wie ein kleines Kind behandeln kann, klingelt es an der Tür. Ein dicker Mann steht vor mir und stellt sich als mein Babysitter vor. Meine Entrüstung wächst ins Grenzenlose, als mein Erzeuger mir zur Strafe für mein freches Verhalten mein hart erarbeitetes Geld abnimmt und dem Dicken als ersten Lohn in die Hand drückt.
Ohne mich, meine lieben, denke ich mir und nehme mir fest vor, meinem Vater einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen. Doch soweit kommt es nicht. Nachdem der alte Mann das Haus verlassen hat, um wieder einem seiner seltsamen Arbeiten nachzugehen, über die er in meiner Anwesenheit kein Wort verliert, zwinkert mir der Dicke zu. Er gibt mir mein Geld zurück und lädt mich zum Essen ein. Ich erzähle ihm in umständlichem Englisch, was sich die letzten vier Wochen zugetragen hat, ohne einen Bissen von meinem KFC herunter zu bringen. Ich bin frustriert und enttäuscht von meinem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten, aber mein Babysitter ist bereit mir zu helfen. Mittlerweile hat sich meine Meinung über die egoistischen, dummen Amerikaner gewaltig geändert, denn er fährt mich ab sofort heimlich zur Arbeit bei Carol und William. Nun habe ich meinen eigenen Schutzengel, der für mich lügt, wenn es wieder einmal später geworden ist und der mich wie ein Hund überallhin begleitet. Ein weiterer Vorteil ist, dass er ein eigenes Auto hat und mich deshalb überall hinfahren kann. Ich erfahre, dass er verheiratet ist, und drei wundervolle Kinder hat, die ich während der Zeit meines Aufenthaltes auch noch kennenlernen darf, und dass er den Job für meinen Vater nur als Freundschaftsdienst hat, weil er nach einem Unfall arbeitsunfähig ist. So vergehen weitere zwei Wochen wie im Flug und ich freue mich auf meinen Heimflug in vierzehn Tagen. Jeden Tag denke ich an meine Familie in Deutschland, die meinen Leidensweg nicht einmal erahnen kann, da mir jeder Kontakt zu ihnen verboten wurde. Nur manchmal, wenn mein Babysitter einen Mittagsschlaf macht und ich sicher sein kann, dass mein Erzeuger lange arbeitet, schleiche ich mich ins Arbeitszimmer um ein paar kurze Zeilen an meine Mutter zu schreiben.
Als es nur noch eine Woche zu meinem Abflug ist, fühle ich mich sicher genug, um alles meinem Tagebuch anzuvertrauen, was in den letzten sieben Wochen passiert ist. Doch das sollte sich als großer Fehler herausstellen. Mein Vater empfängt mich spät abends mit meinem Tagebuch in den Händen. Er schreit mich an, was mir einfällt, und dass ich ein undankbares Ding wäre. Als er handgreiflich wird, stoße ich ihn von mir und laufe blind vor Wut und Angst aus dem Haus.
Stundenlang laufe ich durch Brunswick, ohne zu wissen, wohin ich mich wenden soll. Zu Carol und William nach Hause kann ich nicht, da sie zu weit weg wohnen, und auch zu meinem Ex-Babysitter kann ich nicht gehen. Verzweifelt setze ich mich vor den Gift-Shop und stelle mich auf eine Nacht im Freien ein, als ein Pick-Up vor dem Laden hält. Als erstes schießt mir durch den Kopf, dass mein Erzeuger die Polizei gerufen hat, doch mir wird schnell klar, dass es nicht der Fall ist, als ein junger Mann aussteigt. Es ist TJ, Carols ältester Sohn, der noch eine Lieferung aus dem Lager des Gift-Shops holen soll. Mein Retter!
Er nimmt mich kurzerhand mit zu sich und ich wähne mich in Sicherheit. In mir keimt die Hoffnung, dass ich die letzte Woche bei dem wunderbaren Ehepaar Carol und William Mcghee verbringen darf. Doch weit gefehlt. Als wir ankommen, warten die beiden bereits auf mich um mich zu meinem Erzeuger zurück zu bringen. Mein Flehen, Betteln und weinen schlägt nicht an, denn mein Erzeuger lässt sie glauben, dass er in großer Sorge um seine verschwundene Tochter ist und erklärt damit lang und breit, warum er nicht wollte, dass ich arbeite.
Die letzte Woche meines Urlaubes verbringe ich eingeschlossen in meinem Zimmer. Es kommt nur noch einmal zum Streit, als ich mich im Abflugdatum um einen Tag verrechnet hatte.
Der Tag der Abreise ist unspektakulär. Ich habe meinem Erzeuger nach acht Wochen nichts mehr zu sagen und steige ohne ein Wort mit ihm gewechselt zu haben in den Flieger Richtung Deutschland. Zu Carol und William habe ich noch lange Kontakt, nachdem ich wieder in Deutschland war, und hätte ihr Angebot, sie zu besuchen nur allzu gerne angenommen, aber die Angst vor meinem Erzeuger ließ mich jedes Mal aufs Neue absagen. Ich habe ich erst wieder nach Amerika getraut, als mein Erzeuger drei Jahre nach meinem Besuch plötzlich verstarb.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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