Reiner Borner

Der Alte, ein Märchen

Unsere Geschichte spielt in einer Zeit, in der das Leben noch nicht so laut und hektisch war wie heute. Es gab weder Autos, noch Computer und wollte man eine Reise antreten, so musste man eine Kutsche in Anspruch nehmen. Es war eine Zeit, in der die Menschen abends nach getaner Arbeit noch in der Stube zusammensaßen, sich Geschichten erzählten und bei einem Gläschen Rotwein den Tag ausklingen ließen.
Damals lebte in einem kleinen Bergdorf, inmitten eines mächtigen Gebirges, ein Mann namens Hans. Er war Holzschnitzer von Beruf und er führte mit seiner Frau ein bescheidenes Leben. Jeder im Dorf achtete ihn, denn er war stets freundlich und hilfsbereit. Und wusste man nicht mehr weiter, so hatte er stets immer einen guten Rat parat. Oft sah man ihn noch nachts in seiner Werkstatt an seinen Figuren schnitzen. Seine Frau hatte dafür Verständnis, auch wenn er manchmal erst sehr spät nach Hause kam.
Alles war in Ordnung und Hans hatte allen Grund, glücklich zu sein. Bis...ja bis zu jenem Tag, an dem Hans erfuhr, dass seine Frau unheilbar krank war. Das Leben änderte sich schlagartig und es dauerte keine 3 Monate, bis seine Frau nach kurzem aber schwerem Kampf von ihrem Leiden erlöst wurde.
Für Hans brach eine Welt zusammen. Alles was er sich aufgebaut hatte, für das es sich zu leben lohnte, fiel zusammen wie ein Kartenhaus. Er sah die Sterne nicht mehr, die in manch klaren Nacht am Firmament leuchteten. Der Gesang der Vögel am frühen Morgen kam ihm vor wie ein Klagelied aus den Tiefen seines Herzens und ein großer dunkler Schatten legte sich über das Haus, in dem sich Hans früher so geborgen und aufgehoben gefühlt hatte. Alles verschwand in einem dunklen Loch. Schwarz, tief und fern jeglicher Hoffnung. Und so kam es, dass Hans seine Abend immer öfters im Wirtshaus verbrachte und sich seinem Kummer hingab. Der Alkohol floss reichlich . Nach mehreren Schoppen Wein hatte er meist immer noch nicht genug. Er begann mit seinen Stammtischgenossen zu streiten und es fielen oft böse Worte. Das Schlimmste aber war, dass Hans seine Arbeit immer mehr vernachlässigte. Er wurde jähzornig und verbittert.
Dann kam der Tag, an dem sich seine Lage dramatisch zuspitzte. Es war ein warmer Tag im August gewesen und die Sonne sandte ihre letzten Strahlen über das kleine Bergdorf. Hans war auf eine Anhöhe gestiegen und nun saß er auf zusammengekauert auf einem kleinen Felsvorsprung nahe eines kleinen Bächleins. Er dachte darüber nach, wie er wohl seinem Leben ein Ende bereiten könnte,
Da kam ein alter Mann des Weges. Er hatte langes weißes Haar und er trug einen ebenso weißen Bart, der zu einer beachtlichen Länge herangewachsen war. Der Alte schien fremd hier zu sein Die Kleidung passte nicht so recht in diese bäuerlich geprägte Landschaft. Aber das war Hans egal. Er starrte mit traurigen, nassgeweinten Augen in die Tiefe und nahm kaum Notiz von dem Alten. Schwer atmend setzte sich dieser neben das Bündel Mensch, das nur aus Leid zu sein schien. Es war eine fast unheimliche Stille, die sich über die Berge und das darunter liegende Tal legte. Nach einiger Zeit, es war schon dunkel geworden, erhob der alte Mann sein Haupt und er sprach mit einer tiefen, aber doch angenehm weichen Stimme zu Hans:
"Was fehlt dir mein Sohn. Ich sehe große Trauer und Verzweiflung in deinem Gesicht. Möchtest du mit mir reden?" Hans sagte zunächst kein Wort. Die Stimme des Alten schien aus einer fremden Welt zu kommen. Endlich, nach einer fast unerträglichen Stille, begann Hans zu reden. Zuerst leise, dann immer lauter werdend: Weißt du ,alter Mann. Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Ich habe alles verloren. Meine Frau, meine Arbeit und die Achtung vor mir selbst. Die Leute gehen mir aus dem Weg. Keiner will mehr etwas mit mir zu tun haben. Ich sehe keinen Sinn mehr in meinem Leben. Ich möchte am liebsten sterben"
Der Alte hörte ihm aufmerksam zu. "Ich sehne mich nach dem Tod", fuhr Hans fort. Seine Stimme klang nun immer verzweifelter. "Sag mir, wo ich Frieden finden kann. Es soll ein Land geben, wo es kein Leid, keinen Schmerz gibt. Sag mir Alter, wo kann ich es finden? Ich möchte die Sonne wieder sehen, die meine trübsinnigen Gedanken wegbrennt wie Feuer, das alles verzehrt."
"Ja", entgegnete der Alte. "Dieses Land gibt es wirklich. Aber wenn du dir jetzt das Leben nimmst, wirst du es nie herausfinden. Das ganze Leben ist eine Suche. Und das Land, von dem du sprichst, mein Freund, musst du selber finden." Die Augen des Alten blickten streng und gütig zugleich. "Aber sei dir bewusst", fuhr er fort."Auf diesem Wege bist du nicht allein."
"Hilf mir, diesen Weg zu finden", unterbrach Hans den Alten. "Wo ist das Ziel? Welche Richtung muss ich einschlagen?" Aus den Worten klang plötzlich so etwas wie Hoffnung. "Geh deinen Weg", sprach der Alte noch kurz. "Es gibt keine falschen Wege - nur Umwege". Mit diesen Worten beendete der alte Mann das Gespräch. Es war bereits Nacht geworden und die ganze Szenerie wirkte irgendwie gespenstisch und unwirklich zugleich. Der Alte erhob sich und verschwand plötzlich, wie er gekommen war, im Dunkel der Nacht. Hans war nun wieder ganz allein. Aber etwas hatte sich verändert. Der Funken Hoffnung, das ihm der alte Mann vermittelte, begann in seinem Herzen zu glimmen. Ganz leise und sacht, aber stark genug, um die düsteren, schwarzen Gedanken zu vertreiben. Hans machte sich auf den Weg in das Tal, wo sein Dorf jetzt in tiefem Schlummer lag.
Die Jahre vergingen. Viele heiße Sommer zogen durch das Land, gefolgt von harten, entbehrungsreichen Wintermonaten, denen wieder ein neuer Frühling folgte, mit allen seinen Farben, mit all seiner Pracht, prall gefüllt mit Leben. Ein ständiges Werden und Vergehen.
Damals, nach dem Gespräch mit dem Alten, hatte sich Hans auf den Weg gemacht und sein geliebtes, aber doch so fremd gewordenes Dorf, verlassen. Er wurde getrieben von einer Sehnsucht und der Hoffnung im Herzen, dieses Land zu finden. Er bereiste fremde Städte, lebte mal hier, mal da. Aber nirgends hielt er es lange aus, ständig von einer inneren Unruhe gepackt.
Irgendwann, es war in einem dieser heißen Sommer, in dem die Sonne unerbittlich auf die Felder, Berge und Wiesen brannte, machte Hans Rast in einem kleinen Dorf, nahe eines stillen Sees. Er war müde vom Wandern und das Alter zeichnete tiefe Falten in sein Gesicht. Bei einem Großbauern fand er eine Bleibe Dort bekam er zu Essen und tagsüber verbrachte er mit den Magden und Knechten auf dem Feld, um ihnen bei der Arbeit zu helfen. Hans spürte so etwas wie Heimat, wie Zufriedenheit, Aufgehoben sein.
Einmal, es war gerade zur Mittagszeit, ging Hans auf einen kleinen nahegelegenen Hügel, auf dem ein großer mächtiger Baum stand. Dort ließ er sich nieder im Schatten des Laubes, das ihm Kühlung von der Mittagshitze verschaffte. Hans schloss für einen Moment die Augen. Er vernahm das Zirpen der Grillen, das Zwitschern der Vögel in den Bäumen und er spürte den warmen leichten Sommerwind, der sanft über sein Gesicht strich. Als er wieder die Augen öffnete, blickte er in einen blauen, wolkenlosen Himmel. Es war, als öffnete sich plötzlich ein Tor – ein Tor, dass so lange verschlossen schien. Mit all seinen Sinnen nahm Hans die Umgebung wahr. Er sah, er roch, er fühlte und schmeckte. Er hörte das Summen der Bienen in den Büschen und Gräsern. Zum ersten Mal nahm er ganz bewusst die wunderschönen Blumen am Wegrand wahr. Hans spürte die wohltuende Wärme in seinem Herzen. Ein Glücksgefühl überkam ihn, das er lange nicht mehr gekannt hatte.
Plötzlich vernahm er eine ihm vertraute Stimme. Hans hob seinen Kopf und er sah direkt in die Augen des alten Mannes, dem er vor Jahren in seinem Dorf begegnet war. "Wie geht es dir , mein Lieber", fragte dieser. "Ich bin glücklich", entgegnete ihm Hans, und im selben Moment wusste er die Antwort auf all seine Fragen. Das Land, wonach er so lange gesucht hatte, war immer hier. Es lag in seinem Herzen. Er hatte es nur nicht wahrgenommen.
"Du bist noch lange nicht an deinem Ziel", sprach der Alte." Aber du hast einen Platz in deinem Herzen gefunden. Ein Ort, an dem du dich immer wieder begeben kannst und der dir Kraft und Hoffnung gibt. Du nimmst jetzt die Dinge anders wahr. Du erfreust dich auch an den kleinen Dingen, die dir vorher nicht wichtig waren. Aber hier kannst du Gott finden und letztendlich auch deinen Frieden. Gott ist überall, in jeder Blume, in jedem Stein. Verstehst du das? Sei dankbar jeden Tag über das Geschenk, das dir gemacht wird. Und denke immer daran:
Es gibt keine falschen Wege, nur Umwege".
Mit diesen Worten beendete der alte Mann das Gespräch. Er nahm seinen Wanderstab und verschwand wortlos in den Tiefen des nahegelegenen Waldes.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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