Margarete Weiss

Blitzlichter aus meiner Arbeit mit Kindern



 

 

 

 
„Sind die Kinder klein, gib ihnen Wurzeln..
 
werden sie groß, schenk ihnen Flügel
 
Herk.  Unbek.
 

 

 

 
Vorwort
 

 

 
Warum Blitzlichter?
 
Ich habe lang überlegt, welchen Titel ich diesen Erinnerungen geben soll.
 
Beim Schreiben habe ich versucht, mich ganz auf die damalige Situation einzustellen, es nachzuempfinden, wie ich zu diesem Zeitpunkt gefühlt und empfunden habe und hoffe, dies  dem Leser auch vermitteln zu können.
 
Die einzelnen Episoden und Ereignisse sind ohne langes Nachdenken wie Blitzlichter aufgeleuchtet. Viele sind im Dunkel geblieben.
 
Das ist auch der Grund, warum ich diese Begebenheiten in der Gegenwartsform erzähle.
 
Vielleicht ist Manches trotzdem in der Erinnerung verzerrt oder verändert. Ist dies der Fall, lag es nicht meine Absicht.
 

 

 

 

 

 

 

Ein Kindertraum
 
 
 
Als ich selbst noch Kind war, träumte ich davon, Ärztin zu werden. Schon früh interessierte ich mich für alles, was mit dem menschlichen Körper zusammenhängt und ich stellte es mir toll vor, all dies genau erforschen und kennen lernen zu dürfen.
 
Aber leider, wie bei den meisten Menschen, ging dieser Wunschtraum nicht in Erfüllung.
 
Zum einen sah man damals -  vor allem auf dem Land, wo ich aufgewachsen bin, - keine Notwendigkeit, ein Mädchen studieren zu lassen, zum Anderen hätten die finanziellen Möglichkeiten meiner Herkunftsfamilie dafür nicht ausgereicht.
 
Auch  die Möglichkeit, eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester zu machen, war nicht gegeben, so dass ich nach der Pflichtschule und zwei Jahren Haushaltsschule zu einer Familie nach Wien kam, um dort als „Kindermädchen“ zu arbeiten.
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
August 1966
 
Der Start in’s Berufsleben
 
Vom Kindermädchen zum „Mädchen für alles!“
 

 
Die Familie wohnte im 6. Bezirk. Der „Herr des Hauses“, Erich war 30 Jahre alt und arbeitete im Steuerberatungsbetrieb seines Vaters als Juniorchef. Er war sehr zugänglich, humorvoll und ich sah in ihm ein wenig einen Vaterersatz.
 
Seine Frau Brigitte, meine Chefin, war etwas jünger, wir kamen gut miteinander aus und ich bin ihr heute noch dankbar für das Vertrauen, dass sie mir entgegengebracht hat.
 
Sie war, zur Zeit meines Dienstantrittes in Karenz.
 
Die Schwiegermutter betrieb eine Blumenhandlung, stand kurz vor der Pensionierung und Brigitte sollte das Geschäft übernehmen. Dazu war aber die Ausbildung zur Floristin notwendig . Das war auch der Grund, warum ich dann doch sehr viel auf mich allein gestellt war.
 
Ich wohnte bei der Familie und war sozusagen Familienmitglied, ein Status, der seine Vor – aber auch Nachteile hatte.
 
Vorteil war sicher der totale Familienanschluss. Ich kannte ja in Wien niemanden und wäre sonst sicher einsam gewesen. Das war nie der Fall.
 
Mit meinem Chef konnte ich lachen, er konnte sehr fröhlich sein, es machte mir Freude, mit ihm an der Wohnung zu basteln.
 
Die Folge waren manches Mal Eifersüchteleien seiner Frau, für die es aber keinerlei Anlass gab.
 

 
Mein erstes „Opfer“ ist Claudia. Sie ist 10 Monate alt und wir schließen schnell Freundschaft. Von nun an bin ich fast rund um die Uhr für sie zuständig. Die Eltern sind berufstätig und haben anscheinend großes Vertrauen in meine Fähigkeiten, da sie mir ihr Kind anvertrauen.
 
Anfangs stimmt die Bezeichnung „Kindermädchen“. Es gibt eine „Bedienerin“, die Wäsche wird auswärts gewaschen und gegessen wird meistens bei der , wenige Gassen entfernten Großmutter.
 
Doch ganz langsam und schleichend ändert sich das. Die Putzfrau kündigt, bald kommt eine Waschmaschine ins Haus und Omi will auch nicht immer kochen.
 
Wer wohl macht jetzt all die diversen Arbeiten?
 
Na, wozu ist denn Grete da? Ich werde „Mädchen für alles!.“
 
Das Stadtleben ist ja für mich Landpomeranze ja so verschieden zu meinem früheren Leben, als würde man einen Zooelefanten plötzlich in die Wildnis verpflanzen. Nun muss ich auch noch Arbeiten machen, die mir völlig fremd sind. An den Umgang mit Gasherd, Waschmaschine und Staubsauger muss ich mich erst gewöhnen.
 
Dabei passieren natürlich immer wieder Missgeschicke, bei denen mein Chef mir oft genug hilft, sie vor seiner Frau zu verbergen.
 
Bunte Socken unter der Weißwäsche sind dabei noch das kleinste Übel. Beim „Überfüttern“ des Dauerbrandofens setze ich fast die Wohnung in Brand und was beim Kochen so an Unfällen passiert ist…
 
Da sind Gäste eingeladen, auf der Speisekarte steht unter anderem Rindsuppe. Die Leute sitzen schon bei Tisch, ich will die Suppe abseihen - aber leider, die gute Suppe rinnt in den Abfluss. Ich habe vergessen, einen Topf unterzustellen. Zum Glück sind alle geduldig und warten auf eine, natürlich ziemlich verdünnte Suppe .
 
Bald darauf ist die Mutter von Claudia wieder schwanger.
 
Sie bekommt noch ein Mädchen, das Angelika genannt wird. Angelika wird ganz und gar „mein“ Kind. Sie kommt aus dem Krankenhaus und ich bin von Anfang an für sie zuständig. Ihre Mutter muss zu der Zeit mehrere Prüfungen machen, so dass sie wenig Zeit für das Baby hat.
Ein aufregender Lebensabschnitt für mich! Noch nie hatte ich ein so frisch geschlüpftes Kindchen im Arm und nun musste ich es füttern, wickeln und versorgen.
 
Ich stehe Todesängste durch, wenn sie nach dem Füttern das Gesichtchen verzieht, weil ich Angst habe, etwas falsch gemacht zu haben. Trotzdem würde ich sie am liebsten überhaupt nicht aus der Hand geben.
 
Heute weiß ich nicht mehr, wie ich mit meinen, noch nicht einmal 19 Jahren das alles gemanagt habe.
 
Nur 16 Monate später kommt Alice, das dritte Mädchen.
 
Mittlerweile häufen sich die Probleme. Ich bin älter geworden, habe einigen Anschluss zu Gleichaltrigen gefunden und leide immer mehr unter der knappen Freizeit.
 
Ich habe zwar ein eigenes Zimmer in Wien, aber natürlich ist es verboten, dort Besuche – vor allem männliche – zu empfangen.
 
Nun, Verbote sind da, um gebrochen zu werden.
 
Es ist Sonntag, die Familie macht einen Ausflug und ich habe, wie man so schön sagt, sturmfreie Bude. Die beste Möglichkeit, Franz, einen Freund aus der Jugendgruppe mitzunehmen. Doch der Spaß dauert nicht lang:
 
Unerwartet kommen die Leute viel früher als erwartet nach Hause! Nun ist guter Rat teuer. Flucht durchs Fenster ist unmöglich: 2. Stock. Wir verhalten uns mucksmäuschenstill. Jeden Augenblick kann jemand ins Zimmer kommen. Es liegt direkt neben der Küche und es ist relativ schwierig, ungesehen aus der Wohnung zu kommen.
 
Aber wir haben Glück. Irgendwann sind alle Türen zu und Franz kann sich auf leisen Sohlen davonmachen. Er hat mich nie wieder besucht!!
 
Mehrere Monate im Jahr verbringe ich mit den Kindern in Salzburg, bei der Oma mütterlicherseits. Von ihr fühle ich mich noch viel mehr bevormundet.
 
 Dort gibt es auch kein eigenes Zimmer für mich und ich habe die Kinder rund um die Uhr um mich..
 
So sehr ich die Kleinen liebe, aber ich habe nie das Gefühl: „Ich habe frei“, denn egal, ob Sonn – oder Feiertag, das Dreimäderlhaus hängt an meiner Kittelfalte. Die einzige Möglichkeit ist Flucht!
 
So lerne ich jeden Winkel Salzburgs kennen. Denn, wenn ich nicht zu Hause bin….
 
Ich lerne zum Glück eine nette Familie kennen, bei der ich viel Zeit verbringe, die mich aber auch in meinem Wunsch nach mehr „Freiheit“ unterstützt.
 
Auf mein Drängen nach einem eigenen Zimmer in Salzburg wird vom Chef geantwortet, dass ich unterschreiben müsste, bis zum Schuleintritt der Kinder zu bleiben, dann würde man das Geld investieren und ein Zimmer im Dachboden ausbauen. Das ist mir doch zu viel Druck, so dass ich , wenn auch mit schwerem Herzen kündige.
 
Ich weiß aber, dass ich bei dieser Familie viel für mein weiteres Leben gelernt habe.
 
Ich bin selbständiges Arbeiten gewöhnt, habe gelernt, Verantwortung zu tragen
 
und habe auch das erste Mal eine „richtige“ Familie erlebt. Was für mich, die ohne Vater aufgewachsen ist, sehr viel bedeutet.
 

 

 
Es ist lange her, aber an ein paar Aussprüche, besonders von Claudia kann ich mich noch gut erinnern.
 
Einmal baut sie mit ihren Bauklötzen ein Schloss für die Prinzessin. Als es in der Höhe nicht mehr weitergeht, beginnt sie daneben einen „Keller“ zu bauen, der aber immer wieder einstürzt.
 
Nach mehreren Versuchen stößt sie den Keller wieder um und sagt:
 
„Ach was, die Prinzessin soll mit Briketts heizen!“
 

 
Zum besseren Verständnis:
 
Im Keller ist unser Heizmaterial, der Koks gelagert.
 
In der Übergangszeit wird mit Briketts, die im Abstellraum in der Wohnung stehen geheizt.
 

 
Einmal spielen wir Verkleiden. Sie ist eine Braut und will Hochzeit spielen. Leider fehlt der nötige Bräutigam. Aber Claudia sieht da kein Problem und meint:
 
„Ich geh einfach auf die Strasse und hol mir einen!“
 

 
In Salzburg wohnen wir in der Nähe des Leopoldskroner - Weihers. Dort beobachten wir eine Entenmutter mit ihren Jungen.
 
Ich erkläre  den Kindern, wo die Mutter ist und dass der Vater anders aussieht. Nach einigem Nachdenken fragt Angelika: „Haben die Entenkinder keine Grete?“ (so nennen sie mich)
 

 

 
Meine nächste Dienststelle war das „ Heim für Mutter und Kind“ der Caritas Socialis in Wien Hütteldorf
 

 
Hier lebten junge Mütter, die Probleme mit ihren Familien hatten. Oft verbrachten sie schon einen Großteil der Schwangerschaft in diesem Haus und auch nach der Geburt, bis wieder ein geregeltes Leben für sie möglich war.  Die Mütter kümmerten sich um ihre Kinder, waren aber auch im Haus beschäftigt.
 
Gleichzeitig wurden dort Kinder des Jugendamtes der Gem. Wien betreut.
 
Es gab 5 Familiengruppen mit Kindern von 1-6 Jahren, eine Behindertengruppe und die Säuglingsstation.
 
Um den Kindern eine möglichst familiäre Atmosphäre zu bieten, gingen die Kinder der Familiengruppen tagsüber in Kindergarten, bzw. Krippe, die auch im Haus untergebracht waren. In der Gruppe blieben dann nur zwei bis drei Kleinkinder, die dann von der dienst habenden Schwester liebevoll betreut wurden.
 
 Für mich ist all dies völlig neu, doch ich lebe mich schnell ein und bald werde ich überall eingesetzt. Es ist hier absolut nicht so, wie man sich ein Heim vorstellt und die Kinder sind eigentlich recht zufrieden und guter Dinge. Es gibt wenig Wechsel im Pflegepersonal, für die Schwestern des Ordens sind die Kinder, als wären es die eigenen und ich fühle mich sehr wohl in dieser Gemeinschaft.
 
Bald darf ich auch Nachtdienst machen, wobei ich ganz allein für fast 100 Kinder verantwortlich bin!!
 
Ich gehe alle halben Stunden durch alle Gruppenräume, schau, ob alles ruhig ist, setze hier und da ein Kind auf den Topf, messe Fieber, wenn eines krank ist, tröste dort, wenn eines aufgewacht ist und weint.
 
Gegen 5h wecke ich den Beidienst und gemeinsam wickeln und füttern wir die Babys auf der Säuglingsstation.
 
Meine Aufgabe im Nachtdienst ist es auch, bei den Behinderten ein paar Kinder zu wickeln. Davor habe ich anfangs ziemlichen Bammel.
 
Hier gibt es Sabine, ein Kind mit schwerem Schilddrüsenschaden. Man glaubt, ein Skelett vor ich zu haben, Knochen mit Haut drüber und schwerem geistigen Schaden . Anfangs kostet es mich eine Riesenüberwindung, sie nur anzugreifen. Oder Hansi, mit seinem monströsen Wasserkopf. Ich kann nicht verstehen, wie Sr. Jakoba so an diesen seltsamen Wesen hängt. Aber..  Dienst ist Dienst und so verrichte ich auch dort  - wenn auch mit Widerwillen - meine Arbeit.
 

Eine weitere Schwierigkeit beim Nachtdienst ist meine Angst in der Dunkelheit. Im Haus gibt es lange, dunkle Gänge, die mir , besonders in der Nacht sehr unheimlich erscheinen.
Es kostet mich viel Selbstüberwindung in den Keller zu gehen, wo sich Milchküche und Waschküche befinden. Wenn ich in einen Raum gehen muss, halte ich mir die Augen zu, dreh am Lichtschalter und erst wenn ich sicher bin, dass das Licht brennt, mach ich die Augen wieder auf! Jede Nacht kommt der Milchwagen, dazu muss ich auch noch in die Küche, um die Sachen zu übernehmen. Alles Tätigkeiten, bei denen mir der Angstschweiß ausbricht.
 
Aber ich sage niemanden etwas und beiße mich  durch! Nichts ist mir passiert!
 
Besonders gerne mache ich Dienst in der Gruppe bei Sr. Diemut
 
Hier sind Dominik und Susi, meine Lieblinge .Susi ist knapp 2 und Dominik 4 Jahre alt.
 
Susi’s Mutter hat einen neuen Partner gefunden und will sie bald nach Hause holen. Vorher soll sie aber noch getauft werden.
 
Zu meiner großen Freude werde ich von der Mutter gebeten, die Patin zu werden. Ich kaufe ein schönes Kleidchen und stolz trage ich sie 1969, am Karsamstag bei der Osternachtsfeier in der schönen Kapelle des Hauses zum Taufbecken.
 
Bald darauf zieht sie nach Bad Vöslau zu ihrer Mutter und ich habe über lange Jahre mit ihr Kontakt, darf sie durch die Schulzeit und einen Teil ihrer Jugend begleiten.
 
Eines Tages sehe ich auf dem Dienstplan, dass ich für die Gruppe F – das sind die Behinderten – eingeteilt bin. Nur das nicht! Ich bin entsetzt und will mich bei der Oberschwester beschweren.
 
Nach einigen inneren Kämpfen beschließe ich, es einfach zu versuchen.
 
Der Anfang war hart! Außer Sabine und Hansi,  von denen ich schon erzählt habe, gibt es noch den 6 jährigen Harald, er sollte abgetrieben werden und hat dadurch einen schweren geistigen Schaden erlitten. Er kann nur mühsam gehen, ist Spastiker und kann nur breiige Nahrung zu sich nehmen. Ihn zu füttern ist ein Geduldspiel: man schiebt einen Löffel voll in seinen Mund und meistens rinnt das Mehrfache davon wieder heraus. Eine unendliche Geschichte!
 

Es gibt auch Rudi, knapp drei und schwer herzkrank. Auch er kann nicht gehen, nur am Boden herumrutschen. Greterl, 4, ist taubstumm, Sylvana, 6, ist mehrfach behindert,  kann aber gehen und versteht auch vieles. Claudia ist 6, sieht aus, wie ein Baby. und verhält sich auch so… Stand: ca. 8 Monate. Stefan ist knapp 2, auch schwerstbehindert, Leo, 4, hat schwere epileptische Anfälle und auch
Erich ist
Epileptiker.
 
Es gibt viel Arbeit. Sr Jakoba, die in dieser Abteilung die Chefin ist, liebt ihre Kinder abgöttisch, tut alles für sie…und erwartet das auch von ihren Mitarbeiterinnen.
 
Bei schönem Wetter schleppen wir die Kinder mit allem, was sie brauchen auf die Sonnenterasse, gehen mit ihnen in unserem schönen Park spazieren und machen mit ihnen die verschiedensten Übungen, die von den Ärzten vorgeschrieben sind.
Es dauert nicht lange, bis ich merke, wie dankbar diese Geschöpfe für jede Kleinigkeit sind, wie sehr sie sich über ein Lachen, eine Zärtlichkeit freuen. Besonders Rudi hängt sehr an mir und sobald ich in das Zimmer komme, rutscht er auf mich zu und will hochgenommen werden. Auch an Sabine gewöhne ich mich langsam und es kostet mich keine Überwindung mehr, sie zu berühren. Von Sr Jakoba lerne ich unendlich viel für meine ganze weitere Beschäftigung mit Kindern. Sie hat mich in der Zeit bei ihr mehr geformt als jede andere und mein Kontakt zu ihr ist auch bis heute nicht abgerissen.
 
Leider nimmt die schöne Zeit in diesem Heim ein unschönes Ende.
 
Die Stadt Wien, die für die Belegplätze zahlt und damit den Erhalt der Institution ermöglicht, zieht ihre Kinder ab und damit auch den finanziellen Hintergrund.
 
Nie werde ich die Tage vergessen, an denen die Leute vom Jugendamt mit den Kleinbussen kommen, um die Kinder zu Pflegeeltern im ganzen Bundesgebiet zu bringen. Sie werden aufgeteilt, wie eine Herde Vieh. Es ist traurig, für uns, nicht zu wissen, welche Zukunft sie erwartet, was aus ihnen wird.
 
Auch unsere Behinderten müssen weg. Hansi kommt ins Caritasheim am Himmel, andere in ein Heim in Oberösterreich und Harald und Rudi müssen nach Steinhof. Ich bin dabei, als wir sie dort „abliefern“
 
Ein Riesensaal mit lauter rundum vergitterten „Raubtierkäfigen“. Ein schlimmes Erlebnis. Beide leben dort nicht lange. Sie waren Anderes gewöhnt!
 
Die geistlichen Schwestern werden auf andere Wirkungskreise verteilt, die Kindesmütter möglichst gut versorgt, die Schülerinnen die bei uns ihr Praktikum gemacht haben, werden auch verlegt. und ich…?
 
Ich werde, so wie viele der Kinder von der Gemeinde Wien übernommen und bekomme ab September 1971 eine Stelle als Hilfsschwester in der Kinderübernahmestelle Lustkandlgasse, kurz
 
KÜST genannt.
 

 
Inzwischen habe ich mir eine kleine Wohnung gesucht, da ich ja bisher immer an meinen Dienststellen gewohnt habe. Bei einem Urlaub in Windischgarsten habe ich Bruno kennen gelernt und wir sind dabei, Hochzeitspläne zu schmieden.
 

 

 
Die KÜST, eine Einrichtung der Gemeinde Wien
 
Für Kinder, die aus den verschiedensten Gründen, überraschend von den Eltern weg müssen. Sei es, dass sie misshandelt wurden, die Eltern einen Streit mit Polizeieinsatz hatten, verunglückt sind…oder, oder, oder…
 

 
Die Ursachen waren verschieden, für die Kinder aber immer traumatisch. Für die Kleinen, weil sie nicht verstanden, warum sie plötzlich weg von Papa und Mama mussten, für die Größeren –weil sie es verstanden. Es gab da Schicksale, die man sich in seiner Fantasie nicht ausdenken kann und will.
 
Es war ein „Durchzugsheim“, das hieß, dass die Kinder nur dort blieben, bis eine Entscheidung getroffen wurde, was weiter mit ihnen geschieht. Im besten Fall konnten sie wieder nach Hause, was leider nur selten vorkam. Für die Kleinsten war es relativ leicht, Adoptiv – bzw. gute Pflegeplätze zu finden, aber je älter die Kinder waren, umso schwieriger wurde es, sie in Familien unterzubringen. Dann blieb nur ein anderes Heim.
 
Mir war es von Anfang an wichtig, die Hintergründe des Aufenthalt’s bei uns zu kennen. Was keine Selbstverständlichkeit war. Aber ich habe es durchgesetzt, dass wir die Aufnahmeberichte lesen durften. Es war einfach notwendig, zu wissen, was diese armen Kinder durchgemacht haben, um ihr Verhalten besser verstehen zu können.
 

 
Es ist gut, dass ich nicht so genau weiß, was mich an meiner neuen Dienststelle erwartet. Ich werde anfangs bei den Säuglingen eingesetzt. Hier sind die Kinder  bis 2 Jahre. Ich bin von meiner Arbeit in Hütteldorf gewohnt, dass immer die Kinder vorrangig sind. Wenn ich sehe, dass eines weint, traurig und unglücklich ist – was natürlich oft der Fall ist – nehme ich es aus dem Bettchen und will es trösten.
 
Leider ist das hier absolut nicht erwünscht. Sofort bekomme ich irgendeine furchtbar wichtige Tätigkeit, wie zum Beispiel Windeln falten zugewiesen, denn es geht nicht an, dass die Kinder verwöhnt werden. Ich füge mich, aber mein Herz blutet.
 
Füttern, wickeln, baden, alles wird wie am Fließband ohne Lachen, kuscheln, schmusen abgewickelt. Es ist ständiger Personalwechsel, kaum hat das Kind sich an ein Gesicht gewöhnt, ist wieder ein anderes da.
 
Das muss zusätzlich zu den schlimmen Erlebnissen, die diese Kinder ohnehin schon haben, ein entsetzlicher Dauerstress sein! Zuerst weinen sie, dann verfallen sie in Lethargie, schlagen sich die Köpfe am Gitter blutig und werden dann „brav“.
 
Ich leide mit ihnen!
 
Zum Glück komme ich bald in die Gruppe zu den älteren Insassen. 2-6 Jahre. Hier übernehme ich selbstständig eine Gruppe, obwohl ich eigentlich keinerlei pädagogische Ausbildung habe. Meine Kollegin in der Paralellgruppe ist Kindergärtnerin, macht die gleiche Arbeit wie ich, bekommt aber fast das Doppelte an Gehalt. Aber was soll’s. Ich bin trotzdem stolz, in Eigenverantwortung arbeiten zu dürfen und außerdem lerne ich auch viel von Hilde, meiner Kollegin.
 
Hier läuft alles etwas anders. Es gibt die zwei Gruppen, mit je zwei Leiterinnen, die sich abwechseln. Daneben haben wir eine so genannte „Radlschwester“ die für Essen, Bekleidung usw. zuständig ist und die auch die Nachtdienste macht.
 
Hilde und ich sind nur für die erzieherischen Belange zuständig.
 
Die Anzahl der Kinder schwankt natürlich stark. Manchmal sind es nur 5, dann wieder 15 Kinder.
 
Nun macht es sich bezahlt, dass ich bei den Schwestern auch im Kindergarten eingesetzt war und doch schon einiges an
Erfahrung habe. Vor allem kommt es mir zu Gute, dass ich in meinem Fernkurs über Kindererziehung viel über positive Konditionierung gelernt und auch meine Abschlussarbeit darüber geschrieben habe Positive Signale bewirken positive Reaktionen. Ich zeige den Kindern, dass ich sie mag und auch verstehe wenn sie unglücklich sind. .und wir kommen meistens gut miteinander zurecht. Trotz meiner konsequenten
Erziehung mögen mich die Kinder. Ich mache aber auch die
Erfahrung, dass es hilft, ein Kind, das total außer sich ist, durch festhalten, dadurch, dass ich es fest an mich drücke, wieder zu beruhigen.
 
Da ist
Erich, der oft richtige Tobsuchtsanfälle hat, vor allem, wenn seine Mutter ihm jedes Mal verspricht, ihn mitzunehmen… und dann doch wieder allein nach Hause geht.
 
Ich bekomme vier Mädchen aus einer Familie. Man hat sie total verdreckt, in ihrem eigenen und in Hundekot liegend, aufgefunden. Sie können nicht sprechen, sind nur ruhig, wenn sie sich aneinanderkuscheln können und haben Panik vor den anderen Kindern. Sie können nicht allein essen  und sind am ganzen Körper wund. Wie es wohl in ihrer Seele aussieht????
 
Eine Tages kommt der kleine Harald in meine Gruppe. Seine Mutter ist Prostituierte und hat ihn einfach auf die Strasse geschickt, wenn sie ihre Freier empfangen hat. Er hat sich dort das Essen zusammengebettelt – und lässt sich das sehr schwer abgewöhnen.
 
Er ist etwas über drei und spricht kein Wort. Aber er ist ein sehr kluges Kelchen und holt das in kürzester Zeit auf. Nur auf der Strasse oder im Park kann er es einfach nicht lassen, Menschen, die Essbares in der Hand haben, anzubetteln. Was nicht immer mit Freundlichkeiten honoriert wird.
 
Habe ich eine kleine Gruppe gehen wir viel weg, am liebsten in den Pötzleinsdorfer Park. Dort gibt es Tiere und wir können die
Enten im Teich füttern.
 

 
Dies geht natürlich nur, wenn ich eine Begleitperson habe, denn mit mehr als 5 Kindern mag ich nicht alleine in der Straßenbahn fahren.
 
Noch eine Bemerkung zu den Radlschwestern. Zu ihrer Aufgabe gehört es auch, die Aufnahmen der Kinder zu machen. Das ist eine der schlimmsten Aufgaben im Haus.
 
Die Kinder sind oft derart verwahrlost und verschmutzt, dass eine dritte Hand notwendig wird: Um sich die Nase zuhalten zu können!
 
Es ist wirklich unglaublich, wie schmutzig und stinkend ein Kind sein kann. Und dann die Läuse! Nach dem ersten Kopfwaschen ist das Becken oft schwarz.
 
Viele haben auch Skabies (Grätze), die sehr ansteckend ist und gleich behandelt werden muss.  
Es ist manchmal ein richtiges Wunder, wenn so ein kleines Menschlein dann gewaschen und frisch gekleidet aus dem Bad kommt.
 
Bei den größeren Kindern ist das eine noch schlimmere Prozedur.
 
Es kommt ja kein Kind freiwillig zu uns. Damit sie nicht gleich wieder entwischen, müssen sie in den Keller und sich dort völlig entkleiden! Sie werden nicht nur ihrer Kleider, sondern auch ihrer Würde beraubt! Ich finde es einfach unmenschlich! Es muss doch auch eine andere Lösung geben!
 
Anfangs denke ich, bei den Kindern, die ja ohnehin oft nur ein paar Wochen bei uns sind, nicht wirklich etwas bewirken zu können. Aber je länger ich in der Gruppe bin, wird mir bewusster: „Sie spüren dass ich sie mag, sie dürfen lachen, weinen, einfach so sein, wie sie sind und wenn es auch nur ein Samenkorn der Liebe ist… vielleicht geht es einmal auf!“
 
Mittlerweile bin ich verheiratet, habe mich in meiner Wohnung eingewöhnt, verstehe mich mit den Kolleginnen gut und komme auch mit den verschiedensten Situationen bei den Kindern gut zurecht.
 
Nun bekomme ich Hannes in meine Gruppe. Er ist 6 und lebte in einem Verhau am Anwesen seiner Eltern, die sich für ihr behindertes Kind schämten.
 
Damals weiß man noch nicht viel über Autismus, heute bin ich überzeugt, dass er schwer autistisch war.
 

Er wirft alles über den Haufen, was ich mir aufgebaut habe. Nicht nur, dass er einfach ALL
ES zerstört, was die Kinder bauen oder basteln.
Er verschmiert den Inhalt seines Topfes wo er nur kann, bekommt fürchterliche Schreianfälle und hat den ständigen Drang, wegzulaufen.
Er ist blitzschnell und wendig wie eine Schlange, so dass man ihn fast nicht festhalten kann. Mit ihm auf die Strasse zu gehen ist schwierig und für einen allein fast untragbar. Gerade zu der Zeit fehlt einiges an Personal, so dass mir oft gar nichts anderes übrig bleibt. Dabei darf man ihn keine Sekunde aus den Augen lassen.
Er tritt und bespuckt die Passanten, steckt in den Mund – und schluckt – was ihm in die Finger kommt und ist ständig am Sprung,  um auf die Strasse zu laufen.
 
Will ich ihn zu Hause lassen, höre ich von der Stationsschwester, die dann auf ihn aufpassen müsste, dass er ja auch an die frische Luft muss.
 
Die hat ja leicht reden!
 
In der Nähe des Heimes befindet sich der Währinger Park. Hier gibt es ein eingezäuntes Areal, für Kindergärten der Stadt Wien und unsere Kinder vom Heim.
 
Praktischerweise sind in diesem Areal auch die Garagen für die Gärtner untergebracht, die der
Einfachheit halber meistens das große Tor offen lassen.
 
Somit kann ich mit Hannes auch dort nicht wirklich beruhigt hingehen. Wie schnell kann er hier entwischen, oder unter ein Fahrzeug der Gärtner geraten. Es ist Stress pur. Noch dazu bin ich in den ersten Schwangerschaftswochen, mir ist ständig schlecht und dann noch diese ununterbrochene  Aufmerksamkeit, Sorge und Angst, dass etwas passiert. Natürlich habe ich auch nicht wirklich Zeit und Ruhe, mich mit den anderen Kindern so zu beschäftigen, wie sie es brauchen, was zur Folge hat, dass auch sie unruhiger und verstörter werden.
 

Es wird September. Rund um den Zaun im Park sind Ligustersträuche. Die Beeren reifen und sind ein begehrenswertes Objekt für meinen „Allesfresser“. Wenn auch unser Arzt im Heim immer wieder darauf hinweist, dass Hannes ein anderes Verdauungssystem hat und Dinge verträgt, die andere umbringen – z.B. Rosskastanien – ich glaube nicht ganz, dass ihm die Ligusterkugeln nicht schaden.
 
Es ist ein Kampf. Er lässt sich nicht festhalten, man glaubt, er hat hundert Hände, mit denen er diese Früchte von den Stauden reißt.
 
Ich weiß mir nicht anders zu helfen und schlinge ihm eine zusammen gelegte Springschnur um die Mitte, um ihn vom Zaun fernhalten zu können. Dabei werde ich von einer anderen Kindergartentante beobachtet… und angezeigt!
 
Nun habe ich ein Disziplinarverfahren am Hals.
 
Ich werde zum Gottöbersten des Jugendamtes vorgeladen. Dort kann ich aber glaubwürdig versichern, dass ich von der Stationsschwester immer wieder angehalten wurde, ihn mitzunehmen, obwohl sie von den Problemen wusste. Meine Hauptargumentation war aber, dass keine Mutter angezeigt würde, wenn sie ihr Kind im Kinderwagen anhängt, um zu verhindern, dass es hinausfällt.
 
Mein „Fesseln“, wie es ausgedrückt wurde, war genauso eine Vorsichtsmassnahme.
 
Die Anzeige wird daraufhin zurückgezogen, ich werde aber trotzdem strafversetzt.
 
Mein nächstes Arbeitsgebiet ist ein Heim für schwererziehbare Mädchen bis 18 in Klosterneuburg.
 

 


 
 









 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
 
 










 
 
 Bei einem Ausflug nach Schönbrunn              
 

mit meiner Lieblings-kollegin Irene
 

 

 
Die „Martinsstraße“  -  ein geschlossenes Heim für – wie es damals hieß – gefallene Mädchen. Dort sind Mädchen vom Schulalter bis 18 untergebracht. Meistens solche, die schon in mehreren anderen Heimen waren, dort als untragbar galten und so wie ich nach Klosterneuburg „strafversetzt“ worden waren.
Es gab dort eine Schule und die Möglichkeit, eine Schneider-,  Koch- oder Gärtnerausbildung zu machen. Auch hier gab es Gruppen gemischten Alters, die Mädchen ab 16 durften rauchen,  aber niemand durfte allein das Grundstück verlassen.
 
Wurde eines der Mädchen krank, kam es auf die Krankenstation. Diese  war in einem gemütlichen Häuschen etwas außerhalb der anderen Gebäude untergebracht. Dort wurden auch die laufenden Medikamente aufbewahrt.
 
Die jungen Damen durften zwar nicht weg, aber sie waren sehr einfallsreich und fanden immer wieder Gelegenheit, zu türmen. Meistens wurden sie wenige Tage später von der Polizei in der Pratergegend aufgefunden und die Freiheit war wieder zu Ende.
 
Die Mädchen, die in ihrem Leben nicht viel an Liebe erlebt haben, gingen oft mit dem nächsten Mann, der ihnen ein wenig Zärtlichkeit bot, ins Bett. Wurden sie dann aufgegriffen, mussten sie erst einmal auf die Krankenstation und man brachte sie nach Wien zur Kontrolle bezüglich einer venerischen Infektion.
 

 
Mein Arbeitsbereich ist also die oben erwähnte Krankenstation. Ich bin dort für die erkrankten Mädchen zuständig. Zusätzlich muss ich dreimal täglich durch alle Gruppen gehen, um die laufend verschriebenen Medikamente zu verteilen. In meinem Korb befinden sich aber auch Grippemittel, Halswehtabletten, Kreislauftropfen und Verbandzeug.
 
Wenn ich in eine Gruppe komme, frage ich, ob eines der Mädchen Schmerzen, eine Verkühlung oder sonst irgendwelche Probleme hat.
 
Ich entscheide dann, ob ich ihr etwas aus meiner „Schatzkiste“ gebe, oder ob sie der Ärztin vorgestellt werden muss. Ich hab auch immer ein Fieberthermometer bei mir. Hat ein Mädchen Temperatur, nehme ich es gleich mit. Ich komme sehr schnell dahinter, dass ich hier sehr energisch und vor allem genau so schlau sein muss wie diese Kinder. Sind Schularbeiten im Anzug werden sie gerne krank! Hier heißt es schon einmal abwägen, wie weit die starken Bauchschmerzen usw. echt sind.
 
In unserem Fundus gibt es Merfen Lutschtabletten. Diese finden reißenden  Absatz, werden sie doch als „Zuckerlersatz“ gelutscht.. Nun, da habe ich schnell eine Lösung: LEIDER sind keine mehr vorrätig! Die armen Mädchen mit den Halsschmerzen werden gepinselt und bekommen eine Lösung zum Gurgeln. Das wirkt Wunder! Bei der nächsten Visite sind sie doch glatt gesund. Kopfschmerztabletten ersetze ich oft durch einige Tropfen Kamillosan. Scheint auch zu wirken..
 
Wenn ich aber sehe, dass es einem Mädchen wirklich psychisch schlecht geht, bespreche ich das mit unserer Ärztin und bitte sie, sie für ein paar Tage krank zu schreiben. Auf der Station bei mir sind ja immer nur wenige Patientinnen und so habe ich dann genug Zeit, mich mit diesen zu beschäftigen, mit ihnen zu plaudern – und vor allem -: ihnen zuzuhören! Das ist oft wichtiger als jedes Medikament.
 
Ich habe auch hier alle „Dossier’s“ der Insassinnen gelesen, vor allem, von denen, die bei mir auf der Station sind. Somit habe ich das nötige Hintergrundwissen, auch um Flunkereien nicht allzu ernst zu  nehmen.
 
Einmal ist ein ca. 11jähriges Mädchen auf der Station. Sie erzählt, dass ihr Vater sie und ihre zwei Schwestern, sobald die Mutter aus dem Haus war, missbraucht hat. Er drohte, sie zu ermorden, wenn sie etwas davon erzählen würden. Endlich gelang es ihr, ihm eine Bierflasche an den Kopf zu werfen, worauf er kurz das Bewusstsein verlor. Sie glaubte, ihn getötet zu haben und lief davon. Sie schloss sich einem Wanderzirkus an und erst dort wurde sie von der Polizei aufgegriffen und ins Heim gebracht.
 
So hat jedes dieser Mädchen seine traurige Vergangenheit und es tut mir weh, sehen zu müssen dass sie wenig Chancen haben, aus diesem Rad herauszukommen. Sie werden schwanger, weil sie sich nach Liebe sehnen, aber keine Ahnung von Verhütung haben, werden von den Männern ausgenützt und oft als Prostituierte missbraucht.
 

Eines der Mädchen, knapp 14, ist schwanger…. und es gelingt ihr vor uns allen diesen Zustand geheim zu halten. Sie holt brav jedes Monat ihren Bedarf an Vorlagen, trägt weite T-Shirt’s und (angeblich) weiß auch keines der Mädchen aus ihrer Gruppe davon. Sie glaubt, das Kind heimlich am WC entbinden und „entsorgen“ zu können. Dabei unterschätzt sie die Schmerzen der Wehen und die Schwester hört sie schreien.
 
Seither weiß ich, dass es wirklich möglich ist, eine Schwangerschaft zu verstecken.
 
Natürlich geht nicht immer alles problemlos ab. Auch bei mir in der Krankenstation. Es ist dort absolutes Rauchverbot, was die Damen nicht immer gerne akzeptieren. Da gibt es endlose Diskussionen und Bitten. Aber auch Drohungen. Eine Patientin ist zur Nachsorge nach einer Blinddarmoperation auf der Station. Sie droht, ihre Wunde aufzuschneiden, wenn sie nicht rauchen darf.
 
Hier hilft nur ein Schritt nach vorne. Ich bringe ihr eine Schere und fordere sie auf, dies zu tun, mit der Vorwarnung, dass sie dann halt noch länger auf ihre geliebte Zigarette warten muss.
 
Sie hat es sich überlegt, ich kann die Schere wieder wegräumen.
 
Sie ahnt nicht, wie mulmig mir bei dieser Aktion ist!
 
Ich muss auch regelmäßig mit den „Ausreißerinnen“ nach Wien zur Untersuchung fahren. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Meistens haben sie vor, die beste Gelegenheit zu nützen, um gleich wieder auszureißen. Ich kann die großen Mädchen ja schwer an der Hand führen. Noch dazu sind sie da sehr einfallsreich. Mehr als einmal komme ich mit weniger Jugendlichen zurück, als ich weggefahren bin. Ich muss dann nur angeben, was sie anhaben und sie werden wieder polizeilich gesucht. In einigen Tagen sind sie wieder bei mir auf der Krankenstation.
 
Meine Zeit in Klosterneuburg ist bald vorüber. Nach zwei Monaten gehe ich in den Mutterschutz und kann  mich nun auf mein eigenes Kind freuen.
 

 

 
Am 19. November  bekam ich Ingrid, mein lang erwartetes, eigenes Baby.
 

 
Ich konnte überhaupt nicht verstehen, wie die Mütter im Krankenhaus so ängstlich und unsicher sein konnten. Ich kam von Anfang an gut mit ihr zurecht, sie war ein braves, friedliches Kind, das sich gut entwickelte und uns viel Freude machte. Wir wohnten damals noch in meiner kleinen Wohnung mit Kaltwasser am Gang. Die Windeln… Wegwerfwindeln gab es noch nicht – kochte ich in einem großen Topf am Ofen aus, gespült wurden sie am Gang. Die größere Wäsche brachte ich zur Schwiegermutter, wo ich sie mit der Maschine waschen konnte.
 
Ingrid war neun Monate alt, als ich feststellte, wieder schwanger zu sein.
 
Leider ging es mir diesmal noch schlechter als in der ersten Schwangerschaft. Mir war nur schlecht und ich musste schon erbrechen, wenn ich Ingrid aus dem Bettchen heben wollte, wenn ich in die Nähe einer Fleischhauerei kam, und auch bei jeder Mahlzeit.
 
Nach dem Jahr Karenz sollte ich wieder in Klosterneuburg arbeiten aber es ging mir so schlecht, dass mein Gynäkologe mich nach wenigen Tagen von der Arbeit freistellte.
 
Inzwischen hatten wir beschlossen, in die Wohnung der Schwiegereltern zu ziehen. Diese bauten den Dachboden aus und stellten uns ihre große Wohnung zur Verfügung. Mit zwei Kindern war es in der bisherigen Substandartwohnung doch nicht zu machen.
 
Trotz meines schlechten Zustandes begannen wir also mit der Wohnungsrenovierung, bei der wir aus finanziellen Gründen möglichst viel in Eigenregie machten.
 
Am 13. April 1976 konnten wir provisorisch die Wohnung beziehen und am 9. Mai, am Muttertag wurde dann Martin geboren. Er sollte erst 10 Tage später kommen, aber ich hatte das schon Monate vorher „geplant“ am Muttertag zu entbinden. Nun es war so ziemlich das einzige Mal, dass mein Söhnchen mir wirklich gefolgt hat!
 
Martin war im Gegensatz zu Ingrid immer - nun ja, lebhaft, ein richtiger Lausbub. Nichts war vor ihm sicher, er heckte ständig irgendwelche Streiche aus und war vor allem „dauerschmutzig“.
 
Dazu hatte er von Geburt an Probleme mit der Lunge, bekam schnell Pneumonien und war sehr oft im Krankenhaus.
 
Obwohl er viele Medikamente nehmen musste, jede Verkühlung durch sein Bronchialasthma zum Problem wurde, war er kaum zu bremsen.
 
Das brachte oft Schwierigkeiten mit den Schwiegereltern. Sie hätten ihn gerne unter den besagten „Quargelsturz“ gestellt und machten mir oft Vorwürfe, dass ich zu wenig auf ihn aufpassen würde.
 
Ich wollte aber, dass er trotz seiner Krankheit möglichst normal leben konnte und selbst lernt, was und wie viel er sich zumuten kann.
 

 
Dabei passierten halt so kleine „Unfälle“ wie ein Einbruch ins eiskalte Wasser eines zugefrorenen Teichs bei Minus 10°, was wieder einen Krankenhausaufenthalt zur Folge hatte, oder Asthmaanfälle beim Fußballspiel, bis er merkte, dass es ihm im Tor am besten ging, weil er da weniger laufen musste.
 
Die ersten Jahre in der Volksschule waren äußerst schwierig. Die Lehrerin hatte  kein Verständnis für seine Husterei. Er musste sich auf den Gang stellen, weil angeblich sein Husten den Unterricht störte, die anderen Kinder Angst hatten, angesteckt zu werden und ich bekam immer wieder den Auftrag, ihn nicht in die Schule zu schicken, wenn er hustet. Schwierig, da müsste ich ihn überhaupt zu Hause lassen.
 
Ich konnte ja nicht abschätzen, wann er sich am Schulweg zu sehr hetzte, dass er wieder den ganzen Vormittag husten musste, oder er sich in der Turnstunde überanstrengte.
 
Nach knapp zwei Jahren Stress wechselten wir die Schule und seltsamerweise gab es dort keinerlei Probleme. Im Gegenteil: die Lehrerin besuchte ihn im Krankenhaus, um mit ihm zu lernen, brachte Grüße der Mitschüler mit und baute ihn damit sehr auf.
 
Die Hauptschuljahre machte er in der Hans– Radl – Schule, einer Behinderten- Integrationsschule, die sehr gut für ihn war und wo er sehr gut aufgehoben war. Heute noch besucht er seine Lehrer und hat viele schöne
Erinnerungen an diese Zeit.
 

 
Frühling 1977
 

 
Nun war bald die Karenzzeit zu Ende und es stellte sich die Frage, wie es in meiner beruflichen Laufbahn weitergehen sollte. Für mich war klar, dass ich wieder mit Kindern arbeiten wollte.
 
Aber - wohin mit den
Eigenen? Meine Schwiegermutter wohnte zwar bei uns im Haus, aber ich wollte ihr nicht die ständige Beaufsichtigung der
Enkel zumuten. Sie war auch nicht mehr die Jüngste und außerdem war der Schwiegervater sehr reiselustig, was alles zusammen sicher bald zu Problemen führen würde
 
Da las ich in der Wiener Bezirkszeitung einen Artikel über Tagesmütter. Man hatte gerade erst begonnen, diese Form der Kinderbetreuung aufzubauen. Mir schien das ideal. Ich konnte bei meinen eigenen Kindern bleiben und daneben bis zu vier fremde betreuen. Unsere Wohnung war groß genug, wir hatten einen Garten, also die besten Voraussetzungen für diese Tätigkeit. Das Gehalt war nicht umwerfend, aber ich war selbst versichert und konnte doch ein wenig zum Familienbudget beitragen.
 
Ich bewarb mich beim Wr. Hilfswerk, musste verschiedene Tests absolvieren, außerdem musste ich um eine Pflegestellenbewilligung einreichen.
 
Bei meinem beruflichen „Vorleben“ war dies alles kein Problem und im Mai 77 kamen Hannes und Renate, die ersten Tageskinder.
 

 

 

 
Mai 1977, mein Debüt als Tagesmutter
 

 
Hannes ist knapp drei, also, so alt wie Ingrid und Renate ist 13 Monate. Ingrid und Hannes schließen schnell Freundschaft.
 
Renate braucht lange, bis sie sich an das morgendliche Ritual des „Ablieferns“ gewöhnt.
 
Aber bald geht es ganz reibungslos und ich kann daran denken, die Gruppe zu vergrößern. Es ist der kleine Georg, auch gerade ein Jahr alt, der nun jeden Tag kommen wird. Mit seiner Mutter verstehe ich mich sehr gut und sie bleibt immer nach dem Abholen noch auf einen Kaffee sitzen. Das halten wir dann die ganzen 15 Jahre so. Es ist sehr wichtig, mit den Eltern einen guten, persönlichen Kontakt zu haben, weil es dann auch für die Kinder leichter ist, am Morgen hergebracht zu werden.
 
Georg ist ein süßer Schelm, den wir schnell ins Herz schließen. Am liebsten räumt er die Spielsachen aus dem Schrank um sich selbst darin zu verstecken.
 

 
Nachdem ich für vier Kinder die Bewilligung habe, suche ich noch nach einem weiteren Zwergerl. Eine Ärztin meldet sich an, sie ist noch schwanger, müsste aber das Baby schon ganz früh zu mir bringen, weil sie den Turnus fertig machen will.
 
Wir treffen einander zum kennen lernen. Sie möchte mir ihr Baby zwar überlassen, hat aber die Sorge, dass ich mit 6 Kindern überfordert bin und verlangt, dass ich die anderen kündige um nur für ihr Kind da zu sein. Dazu bin ich aber nicht bereit. Sie sucht weiter – und kommt doch wieder auf mich zurück. Im Jänner 1978 wird Alexander geboren und wir dürfen ihn schon im Krankenhaus besuchen kommen. Wir sehen uns auch in den ersten Monaten, die er noch zu Hause ist, sehr oft und im Frühling kommt er dann zu uns. Die „Großen“ sind begeistert vom Baby und gehen sehr liebevoll mit ihm um. Auch die Mutter hat ihre Bedenken längst vergessen und ist froh, den Kleinen gut untergebracht zu haben.
Er schläft auch in der Nacht oft hier, wenn die Mutter Dienst hat. Für mich ist es ein kleines Taschengeld und ihr ist damit sehr geholfen.
 
Alexander ist eindeutig das klügste meiner Tageskinder. Mit zwei Jahren spricht er fließend, kann eine Unmenge an Liedern und ist sehr wissbegierig. Dafür ist er motorisch nicht so gut drauf. Klettern, Laufen, Spielen im Park ist nicht seine Lieblingsbeschäftigung. Bei ihm sieht man deutlich, wie verschieden sich die einzelnen Gehirnregionen eines Kindes entwickeln.
 
Weihnachten 79 – Alexander ist knapp 2. Er kann so gut „Kling Glöckchen klingelingeling“ singen und soll das bei der Weihnachtsfeier  für die Eltern vortragen. Ich habe ihm ein Engelkleidchen genäht und bei den Proben klappt alles super.
 
Doch bei der Feier schlägt der Vorführeffekt zu und Alexander beginnt bitterlich zu weinen.
 
Die Weihnachtsfeiern sind immer beliebt. Ich übe mit den Kindern  selbst gedichtete Stücke ein, wir haben Geschenke für die Eltern gebastelt und es ist jedes Jahr sehr stimmungsvoll.
 

 
Inzwischen haben wir ein neues Baby bekommen. Patrick, genannt „Petzi“
 
Auch seine Mutter ist Ärztin, hat aber schon eine eigene Ordination und auch Familie im Hintergrund, so dass Petzi  kein „Nachtkind „ist.
 
Mein Tag ist ohnehin lang.
 
Je nach Arbeitszeit der
Eltern sind die Kinder offiziell 4o Stunden in der Woche bei mir. Rechnet man die Fahrtzeit dazu, geht sich das einfach nicht aus. Außerdem kommen manche Kinder ganz früh, werden dadurch auch früher geholt – die anderen kommen erst später und es schiebt sich die Abholzeit hinaus.
 
So kommt es, dass an manchen Tagen von 6h30 bis 18h oder noch länger Kinder da sind. Das hält ganz schön auf Trab!
 
Wir wohnen im ersten Stock und es gibt eine Menge Stufen.
 
Besonders im Sommer, wenn die Größeren in den Garten laufen, heißt es immer gut aufpassen, dass nicht ein Krabbelkind – denn mindestens eines ist ja immer in der Gruppe – die Stiegen runterkullert. So habe ich ihnen immer sehr bald gezeigt, verkehrt die Stufen runterzurutschen. Zum Glück ist nie etwas Gröberes passiert.
 
In der Gruppe ist auch Philipp. Das nächste Ärztekind. Seine Mutter ist Spanierin, der Vater Österreicher. Er wird zweisprachig erzogen und es fasziniert mich immer wieder, wie schnell er von spanisch auf Deutsch „umschalten“ kann.
 

Er und Alexander können so gar nicht miteinander.
Es gibt ständig Rangeleien zwischen den beiden. Phillip zieht Alexander an den Haaren, der kann sich nicht rächen, denn der „Feind“ hat fast keine Haare. So kommt er schon in der Früh mit dem Vorsatz: „Fest hauen musst du den Phillip!“  was er auch bei jeder Gelegenheit macht.
 
Ich darf die zwei Kampfhähne nicht eine Minute aus den Augen lassen.
Einig sind sie sich nur, wenn sie die Möglichkeit haben, etwas anzustellen.
Einmal erwischen sie mein Schminkzeug und verschmieren den ganzen Inhalt auf sich und die Umgebung. Da sind sie mucksmäuschenstill dabei, diese Lauser.
 

 
Alexander kommt mit drei Jahren in den Kindergarten, verbringt aber auch dann noch viele Nächte bei uns, wenn die Mutter Dienst hat.
 

 
Das nächste Baby, Gregor. Auch mit ihm gibt es keine Schwierigkeiten.
Er hat Sichelfüße und bekommt mit 6 Monaten einen Gips auf beiden Beinchen. Das stört ihn aber nicht besonders und er liebt es, mit seinen „Hämmerchen“ auf den Boden zu klopfen. Später versucht er mit Vorliebe in den Geschirrspüler zu klettern. Ob er darin gewaschen werden möchte?
 

 
Mittlerweile hat sich ein guter Rhythmus herausgebildet. Die meisten Kinder kommen mit drei in den Kindergarten so dass ein neues Kind nachrücken kann. Meine Teamleiterin weiß, dass ich gerne Säuglinge habe und vermittelt mir regelmäßig welche, so dass viele Kinder schon von ganz klein auf bei uns sind. Ingrid geht inzwischen zur Schule und da heißt es, noch besser zu organisieren. Ich muss ja auch die nötige Zeit haben, um ihr bei der Hausübung zu helfen.
 
Zum Glück gehen die Tageskinder zu Mittag alle ins Bett, so dass ich diese Zeit meinen eigenen Kindern intensiv widmen kann. Martin geht das letzte Jahr vor der Schule in den Kindergarten, was ohnehin ziemlichen Stress bedeutet. In der Früh alle anziehen, in den Kindergarten, wieder zurück, ein wenig spielen, dann muss ich schnell kochen und wieder anziehen, zwei der Kleinsten dürfen ins Wagerl und es geht wieder los Richtung Kindergarten.
 
Wir sind, besonders in der Übergangszeit, wenn wir noch nicht in den Garten können und im Winter viel unterwegs. Wenn ich so mit meiner Schar daherspaziere, wie eine Entenmutter mit ihren Jungen erregt das oft die Aufmerksamkeit der Passanten. Manche regen sich auf, ob das notwendig sei, so viele „Fratzen“ zu haben, andere wieder bestaunen sie, weil sie so brav sind. Einmal fragt ein Straßenarbeiter, ob die alle mir gehörten „Aber nein,“ antworte ich ihm, „es sind auch Enkel dabei!“ Das hat ihn etwas irritiert und er hat den Mund gehalten. Hat ja auch gestimmt, ich habe ja nicht gesagt: „ MEINE Enkel!“
 
Während ich koche, sitzen alle beim Tisch und es wird gesungen oder ich sage ihnen ihre Lieblingssprüche und Gedichte auf, die ich zum Glück auswendig kann. Somit habe ich sie alle unter meinen Fittichen und sie sind trotzdem beschäftigt.
 

Es ist ohnehin faszinierend, wie gut alles klappt. Die Kinder gewöhnen sich immer sehr schnell daran,  auf die Kleinsten Rücksicht zu nehmen. Schon mit fünf Monaten liegen sie am Boden mitten unter den anderen und haben jede Unterhaltung, die sie sich nur wünschen.
Es ist rührend zu sehen, wie vorsichtig sie mit den Dreirädern um die Babys herumfahren, um ihnen nicht weh zu tun!
 
Die „Großen“ sind stolz, wenn sie helfen dürfen, ziehen den Kleineren die Schuhe an, helfen beim füttern, usw.
 
Die Eltern sind oft erstaunt, wenn sie sehen, wie ruhig und ausgeglichen die Kinder sind. Es gibt selten Geraunze und wenig  Anlass zu weinen.
 
Der nächste Alexander ist da! Seine Mutter ist erst 16 und will die Schule fertig machen. Ich bewundere sie sehr, wie toll sie mit der Situation zurechtkommt und ihr Baby in ihr Leben mit einbezieht. Auch wenn sie sicher oft gerne mit ihren Freunden alleine weggehen würde, sie nimmt ihn überall mit. Ihr Umfeld steht total hinter ihr und ich bin froh, ihr ein wenig helfen zu können.
 
Meine eigenen Kinder werden immer älter und ich muss dafür sorgen, dass ihre Bereiche geschützt bleiben. So ist z.B. Ingrid’s neue Puppe für die fremden Kinder tabu, außer sie borgt sie selbst her. Wenn Martin mit seinen Legos etwas baut, darf es auch nicht zerstört werden. Wir haben das Kinderzimmer nun abgeteilt, damit Ingrid und Martin ihren eigenen Raum zur Verfügung haben. Das wird auch von den Kleinen toleriert.
 
Meine Kinder hängen sehr an den Tageskindern. Einmal gibt es mit einer Mutter Probleme. Sie ist immer mit den Zahlungen im Rückstand und ich muss sie oft daran „erinnern“ dass ich noch kein Geld bekommen habe.
 
Martin bekommt dies einmal mit und meint dazu: „ Ich finde es gemein, dass du von den Eltern Geld verlangst, denn wir haben das Vergnügen und die armen Eltern müssen dafür bezahlen! “Dieser Ausspruch zeigt mir, dass er es schön findet, so viele „Geschwister“ zu haben.
 
Viele Leute, die sich nicht vorstellen können, wie so ein Tag mit so vielen Kindern verlaufen kann, haben immer wieder gemeint, dass meine Kinder sehr unter den anderen leiden würden.
 
Ich versuche aber, gerade die Stunden, die wir allein sind, wirklich Zeit  für sie zu haben, mich mit ihnen zu beschäftigen.
 
Mittlerweile sind in meiner Gruppe Veronika, Karin und der kleine Martin. Veronika und Karin sind zwei und ein Jahr alt und werden wie Schwestern. Sie gehen später auch gemeinsam in Kindergarten und Volksschule und haben lange Kontakt miteinander.
 
Veronika hat mit zwei Jahren eine Phase, in der sie alles ablehnt, was in ihren Augen „kaputt“ ist, z.B. ein geschälter Apfel, eine Banane, ein aufgeschnittenes Brot.
 

 
Zum zweiten Geburtstag gibt es eine Torte . Sie ist erst ganz happy, aber nachdem ich sie aufteilen will, schreit sie nur noch:
 
„Ich will keine kaputte Torte essen!“
 

Ein Wort aus ihrem Sprachschatz während der Zeit des sprechen Lernens: Platzpärker  ist Parkplätze
 
In Veronikas Zeit habe ich für das Trotzalter auch den Ausdruck : „Kalte Milch –Syndrom“ geprägt. Sie weiß genau, dass sie keine kalte Milch trinken darf und wenn ihr danach ist,  mit der Mutter einen Kampf auszuführen, verlangt sie nach kalter Milch. Sie kann sich dann so richtig in ihren Zorn hineinsteigern, wenn sie diese nicht bekommt.
 
Karin ist still und bedächtig und lässt sich nicht leicht aus der Ruhe bringen. Sie bemuttert den kleineren Martin gerne, was der sich auch gefallen lässt. Vor dem Mittagessen wird ein Tischgebet gesprochen, bei dem Karin immer sagt: „Hast auch mich noch nicht gegessen, lieber Gott ich danke dir!“ Es soll heißen: „Hast auf mich auch nicht vergessen…..Karin ist das treueste meiner Tageskinder. Sie schreibt mir regelmäßig Mails, berichtet von Neuigkeiten in ihrem Leben, was mich immer sehr freut.
 
Sonst sind die drei herrlich unkompliziert und es ist ein lockeres Leben, bis… ja bis ich Claudia aufnehme. Claudia ist ein Jahr alt, aber schon ein richtiger kleiner „Besen“. Sie glaubt, mit Gebrüll alles durchsetzen zu können und es geht auf einmal ziemlich laut her. Schlimm aber ist, dass sie die Größeren richtig terrorisiert. Sie beißt! Sie schlägt ihre kleinen Beißerchen in die Finger, oder auch ins Gesicht ihrer Kollegen, zerstört alles, was sie bauen und es ist echt schwer, sie durch den Tag zu bringen.
 
Karin und Martin haben richtige Angst vor ihr. Martins Mutter ist zu der Zeit schwanger und als die Frage auftaucht, ein Mädchen vielleicht Claudia zu nennen ruft er ganz entsetzt: „Claudia, nein!“
 
Es dauert einige Zeit, bis Claudia sich ein wenig in die Gruppe integriert hat. Es ist für sie schwierig, sich umzustellen, denn zu Hause führt sie das Regiment. Wenn ihr etwas nicht passt, brüllt sie einfach das ganze Haus zusammen. Sie kann toben wie ein kleines Rumpelstilzchen. Es ist auch schlimm, wenn die Mutter sie zu Mittag abholt. Sobald sie bei der Tür hereinkommt, verwandelt sich Claudia zum kleinen Biest.
 
Sie massakriert die Mutter, reißt sie an den Haaren, beißt und schlägt sie. Diese lässt sich das lange gefallen, wenn es ihr zu viel wird, stößt sie Claudia weg… und es beginnt wieder die Schreierei.
Es ist schwer, hier zu helfen. Die Mutter kann und will nicht einsehen, dass sie mit ihrer Inkonsequenz Claudia schadet. Ich bin froh, dass sie wenigstens bei mir ihr aggressives Verhalten abgelegt hat.
 
Trotzdem ist es bei ihr schwieriger als bei manchen anderen Kindern. Sie muss meistens am eigenen Leib die Konsequenzen ihres Tun’s erfahren. Sie kommt z.B. im tiefsten Winter mit Sandalen, weil sie sich einbildet, diese anziehen zu wollen.
 
Ich will ihr gut zureden, dass man im Winter so nicht weggehen, kann, weil es zu kalt ist, und vieles mehr.
 
Sie lässt es sich aber nicht ausreden, also geht sie in Sandalen spazieren. Nicht lange, aber immerhin so, dass sie spürt, wie kalt das ist. Am nächsten Morgen kommt sie wieder brav mit den Stiefeln.
 

Eines Tages, sie ist knapp drei, geht sie mit dem Puppenwagen spazieren. Ich glaube, sie ist bei meiner Schwiegermutter oben und rufe nach ihr. Da sehe ich.. alle Türen offen und ganz entfernt höre ich das Scheppern des Wagerls am Pflaster.
 
Ich mache die Türen zu und rufe aus dem Verandafenster  nach ihr. Ausnahmsweise dreht sie um und kommt zurück. Nur kann sie nicht mehr herein. Sie ruft nach mir und  erwartet, dass ich ihr aufmache. Aber ich sage, dass sie erst läuten muss, damit ich aufmache. Dafür ist sie natürlich zu klein. Ich lasse sie noch ein paar Minuten warten, bevor ich sie heraufhole. Dann erkläre ich ihr, dass man nicht alleine weggehen kann, wenn man zu klein ist, um anzuläuten. Das versteht sie und es bleibt beim einzigen „Ausbrecher“
 
Dazu muss ich noch sagen, dass wir in einer verkehrsarmen Gegend wohnen und ich sie vom Verandafenster aus beobachten kann.
 
Eines Tages, es geht etwas turbulent zu, weil wir Zimmer neu tapezieren, passiert ein kleines Missgeschick. Ich bin im Kinderzimmer, um die Babys zu wickeln. In der Küche steht eine Schüssel, in der ich die Masse für Semmelknödel vorbereitet habe. Als ich wieder in die Küche komme, erklärt Claudia strahlend: „ich habe die Knödel schon gesalzen!“
 
Bei meiner Nachfrage, womit sie gesalzen hätte, stellt sich heraus, dass es der Tapetenkleister war. Die Knödel hätten gut geschmeckt!!
 
Claudias Mutter ist schwanger und bekommt einen Buben. Die Hebamme hegt die Befürchtung, dass er am Down – Syndrom erkrankt ist, die Ärzte verneinen das aber. Sie bittet mich, das Kind anzuschauen und mir ist sofort klar, dass die Befürchtung stimmt. Stefan hat zwar keine auffallenden äußeren Symptome, aber er hat überhaupt keinen Muskeltonus, man spürt, wenn man ihn im Arm hält, dass etwas nicht in Ordnung ist.  Die Mutter klammert sich 6 Wochen an die Hoffnung, dass er gesund ist, aber nach der Genuntersuchung muss sie die traurige Wahrheit akzeptieren.
 
Die Familie zieht bald darauf nach S. Francisco, unser Kontakt reißt aber nicht ab. Claudia ist mittlerweile eine hübsche Dame geworden und auch Stefan wird seinen Weg machen.
 

 
Kaum ist Claudia alt genug für den Kindergarten, kommt das nächste Problemkind.
 
Georg, schon fast drei und mit einem immensen Zerstörungstrieb ausgerüstet. Vor ihm ist nichts sicher. Bausteintürme, Legos, Puzzle, alles wird mit Begeisterung zerstört. Mit den Kindern zu basteln ist in der Zeit mit ihm unmöglich. Seine Mutter stillt ihn noch und wenn sie ihn abholt, gräbt er sich sofort die Brust heraus um daran zu nuckeln. Dabei ist sie wieder schwanger und wird nach Iris’ Geburt beide Kinder stillen.
 
Zu meinem Glück bleibt sie dann zu Hause und wir sind den „Störefried“ wieder los.
 
Phillip hat einen Bruder bekommen, den kleinen Georg, der auch bis zum Kindergarten bei uns ist. Seine Schwester Clara, wird schon in Breitenfurt geboren, wo der Vater eine Ordination eröffnet. Er ist noch heute mein Hausarzt.
 
Dazwischen gibt es immer wieder Kinder, die nur kurz hier sind.
 
Obwohl ich beim Vorstellungsgespräch immer wieder versuche, den Eltern meinen Erziehungsstil klar zu machen, und ich auch darauf schaue, ob ich mit den Eltern zurechtkommen kann, kommt es doch auch vor, dass es zu wenig Gemeinsamkeiten gibt und ich nach einiger Zeit sagen muss, dass sie sich etwas anderes überlegen sollen.
 
So ist es auch bei Leo. Bei ihm habe ich von Anfang an schon das Gefühl, dass es nicht gut gehen wird. Die Eltern wollen es aber trotzdem ausprobieren. Aber ich kann Leo nicht so in Watte packen, wie es zu Hause gemacht wird. Er kommt dann im Hochsommer im Wintermantel, weil ihn die Kinder mit kaltem Wasser angespritzt haben und er nass geworden ist.
 
Man verlangt, dass ich ihn immer über die Stufen trage und außerdem braucht er zu Mittag nicht schlafen. Er ist aber nicht ruhig zu halten, weckt die anderen Kinder und auch meine können nicht in Ruhe ihre Hausaufgaben machen.
 
Somit kann er einfach nicht bleiben.
 
Der „
Ersatz“ für ihn ist Gabriel, von den Kindern allgemein nur „Gabirel“ genannt.
Er ist ein Jahr alt, seine Mutter ist allein stehend und hat eine ziemlich problematische Schwangerschaft hinter sich. Ob das der Grund für Gabriels Schlafprobleme ist?
Er hat richtige Panik vor dem Bett.
Es dauert ca. ein Monat, bis er wie alle anderen Kinder sich hinlegt und einschläft. Ich muss neben ihm sitzen, damit er sich überhaupt hinlegt. Jeden Tag vergrößere ich dann den Abstand zu seinem Bettchen und irgendwann kann ich außerhalb der Kinderzimmertür sitzen  und er schläft friedlich ein. Geschafft!
 
Sonst ist Gabriel ein reizendes, fröhliches Kind, das alle mögen.
 
Er isst für sein Leben gerne und beim Mittagessen dauert ihm die Fütterei viel zu lange, so dass er mit 13 Monaten schon alleine isst. Gabriel streitet vehement ab, ein Bub zu sein. Fragt man ihn dann, was er sei, antwortet er: „Ein Kind!“ Seine Mutter hat inzwischen einen neuen Partner gefunden, an dem er sehr hängt.
 
Ein Jahr nach ihm kommt Felix zu uns und die beiden verbindet bald die gleiche Freundschaft wie zuvor Karin und Veronika.  Felix ist ein „Werkzeugfetischist“. Alles wird zu Hammer, Schraubenzieher und Zange umfunktioniert und er hat ständig etwas zu reparieren. Sein Opa ist da sein größtes Vorbild.
 
Er und Gabriel sind noch jetzt, wo sie erwachsen sind in Kontakt und werden ihre gemeinsame Zeit bei uns nie vergessen.
 
Die Eltern von Felix haben ein Haus am Zellersee, wo wir viele gemeinsame Urlaube verbringen werden.
 
Neben Gabriel und Felix ist auch Lukas bei uns.
Er ist das ernsteste Kind, das ich je hatte.
Er wirkt nicht traurig oder unglücklich, aber es ist schwer, ihm ein Lächeln zu entlocken. Lebhaft wird er, wenn es um Autos geht und schon bald kennt er alle Automarken.
 
Im Fasching verkleide ich ihn als Clown, aber auch da bekommt er kein fröhlicheres Gesicht.
 
Die vierte in der Runde ist Nina. Sie ist etwas über zwei, will außer Kakaofläschchen und Semmeln nichts essen. Bei uns ist es nicht üblich dass beim
Essen Spielzeug am Tisch ist. Wenn Nina nicht  essen will, muss sie im Kinderzimmer spielen. Dort ist es ihr aber langweilig und bald sitzt sie bei den anderen Kindern beim Tisch.
Einmal stell ich auch für sie einen Teller hin und siehe da: .sie isst!!
 
Am liebsten hat sie rote Speisden. Gulasch, Paradeiser, und so weiter. Ich versuche, ihr da etwas entgegen zu kommen, aber bald isst sie alles, außer Fleisch, was es ohnehin nicht so oft gibt.
 
Nina wünscht sich sehnlichst einen Bruder. Die Mutter hat sich aber gleich nach der Entbindung sterilisieren lassen, so dass dieser Wunsch unerfüllt bleiben wird.
 
So erfindet sie sich einen Fantasiebruder, den „Heiligen Zolan“
 
Er ist immer bei ihr. Wenn sie am Morgen kommt, ist er natürlich auch mit und sie wird böse, wenn ich nicht sehe, wie er angezogen ist.
 
Soll sie aufräumen, oder etwas machen, was sie nicht will, dann ist der hl. Zolan immer als Entschuldigung da, denn wenn DER sagt, sie muss nicht aufräumen, hat das viel mehr Gewicht…
 
Mit dem
Essen ist das auch so eine Sache. Ich koche leichte Hausmannskost und die Kinder essen immer ohne Probleme.
Erzähle ich das aber den Müttern, sind die immer ganz erstaunt, weil die  lieben Kleinen zu Hause sehr anspruchsvoll sind und Schwierigkeiten machen. Besonders Veronika, die ihrer Mutter immer erklärt, dass es bei Grete besser schmeckt. Als sie gefragt wird, was sie zu Mittag gegessen habe, antwortet Vroni: „Gekochte Schmetterlinge mit Wurst!“  (Wurstfleckerl)
 
Nun, solch exotische Speisen gibt es bei Mama nicht, auch wenn sie immer wieder versucht, nach meinen Rezepten zu kochen.
 
Im Lauf der Zeit mache ich immer mehr die Erfahrung, dass ich am Besten mit jenen Kindern zurechtkomme, wo auch der Kontakt zu den Eltern gut funktioniert. Der Kaffeeplausch am Nachmittag ist ein wichtiges Medium, um über Fortschritte, Probleme, usw. zu sprechen.
 
Eine Ausnahme davon ist Amber. Ihre Mutter ist Amerikanerin und Botschaftsangehörige. Sie hat keinen langen Mutterschutz und Amber kommt mit 6 Wochen zu uns. Sie wird vor allem Martins spezieller Liebling.
 
Die Mutter hält überhaupt nichts von irgendwelchen Kontakten. Sie drückt mir zeitig in der Früh das kleine Bündel plus abgezählter Packungen tiefgekühlter Muttermilch in den Arm und ist weg. Die Fläschchen sind so konstruiert, dass man das Milchpackerl in eine Art Röhre hängt und den Sauger darauf schraubt. Somit muss man sie nicht umleeren und die Sauberkeit ist garantiert. Das Sackerl wirft man nachher  weg. Recht klug ausgedacht!
 
Am Abend das Gleiche. Ich habe den Eindruck, dass sie kein Interesse an der Entwicklung ihres Kindes hat, wo sie doch so vieles versäumt.
 
Amber ist zwar sehr zart aber ein bewegliches Mäuschen. Mit sieben Monaten krabbelt sie schon fleißig durch die Gegend. Wie ich oben schon erwähnt habe, bringe ich auch ihr bei: STI
EG
E: STOP!  UMDR
EH
EN und RÜCKWÄRTS hinunterrutschen. Sie hat das bald so intus, dass sie sich sogar bei Türstaffeln umdreht, was sehr ulkig aussieht. Mit 11 Monaten kann sie gehen. Sie ist noch so klein, dass es keine passenden Schuhe für sie gibt. Sie sieht mit ihren blonden Locken aus wie ein
Engel und ist unser aller Liebling. Sie ist 14 Monate alt, mein Urlaub steht vor der Tür und schon lange habe ich die Mutter gebeten, für diese Zeit einen
Ersatz zu suchen. Was diese aber nicht macht, so dass ich im letzten Augenblick eine Kollegin bitten muss, sie für drei Wochen zu übernehmen. Leider ist Amber dort sehr unglücklich, verweigert das
Essen und weint viel. Meine Kinder reden den ganzen Urlaub über von ihr und wir besuchen sie, sobald wir zurück sind. Ich werde nie dieses strahlende Lächeln vergessen, das über ihr Gesicht geht, als Martin sie auf den Arm nimmt. Nun, Urlaub hin oder her, der Vertretung wird abgesagt und Amber ist wieder bei uns. Leider nicht mehr lang. Mit 18 Monaten verlässt sie uns. Ihre Mutter ist in die Dom. Rep. versetzt worden. Martin und wir alle sind sehr traurig. Immer, wenn er ein blondes Mädchen sieht, spricht er von Amber. Wir bekommen zwar noch eine Zeit lang Fotos von ihr, aber dann reißt der Kontakt ab.
 
Ambers Mutter hat den Kolleginnen von mir erzählt und bald kommt das nächste Botschafterkind. Es ist Karli aus Alaska.
 
Sein Großvater war Deutscher und ist nach dem Krieg in Amerika geblieben, daher auch sein Name. Karlis Eltern waren viel zugänglicher. Leider war er nur ein halbes Jahr bei uns. Karli liebt es, fotografiert zu werden. Kaum sieht er den Fotoapparat, setzt er sich schon in Pose. Er ist ein sehr fröhliches, unkompliziertes Kind und auch ihn lassen wir nur ungern weg.
 
Später kommt auch noch Milan, aber er bleibt auch nur wenige Monate bis zur Versetzung.
 
Felix geht mittlerweile auch in den Kindergarten. Dafür ist sein Bruder Moritz gekommen. Wir sind fast jedes Jahr eine Woche in Zell am See. Meistens sind auch Gabriel und sein Schwesterchen Johanna dabei. Es ist für alle eine schöne, erholsame Zeit.
 
Gabriels Mutter hat geheiratet. Ich bin bei der Hochzeit in Vorarlberg eingeladen und kümmere mich dort ein wenig um Gabriel um den Eltern ein wenig Stress abzunehmen. Vor der Trauung hält Gabriel seinen Mittagsschlaf und anschließend soll er sein hübsches Trachtengewand anziehen. Will er aber absolut nicht! Es dauert lange, bis ich ihm den alten Trainingsanzug ausgeredet habe.
 
Wenig später kommt seine Schwester Johanna zur Welt, bei der ich Taufpatin sein darf. Dies ist auch der Grund, warum mich mit dieser Familie eine besondere tiefe Freundschaft verbindet.
 

 
Leider ging zu der Zeit meine Ehe in Brüche. Ich hatte vor, mich von meinem Mann zu trennen, Das hieß, dass ich natürlich das Haus verlassen musste. Somit hatte auch meine 15 jährige Tagesmutterzeit ein Ende. Moritz und Laura konnten in den Kindergarten gehen, Nina’s Eltern wollten ohnehin nach Niederösterreich übersiedeln und Milan war auch schon abgemeldet. Es war für mich eine schöne Zeit, in der ich viele wichtige Erfahrungen gesammelt habe. Ich weiß es nicht mehr genau, aber es waren insgesamt an die 4o Kinder, die in diesen 15 Jahren in unserer Familie gelebt haben. Nicht an alle kann ich mich gleich erinnern, nicht alle sind mir in der gleichen Weise ans Herz gewachsen. Ich habe mich jedoch immer bemüht, mein Bestes zu geben und ihnen Geborgenheit und Wärme zu vermitteln. Mit vielen habe ich noch regelmäßig Kontakt, es gibt von Zeit zu Zeit von mir organisierte Treffen, damit sie sich nicht ganz aus den Augen verlieren. Alle, die ich noch kenne, sind gut geraten, was mich ein wenig stolz macht. Haben sie doch die wichtigste Zeit ihres Lebens unter meiner Obhut verbracht.
 

 

 
Nun war ein wichtiger Lebensabschnitt vorbei und es galt Ausschau zu halten nach neuen Ufern.
 
Um mir eine Wohnung leisten zu können, musste ich einen Hauswartposten suchen, den ich wie durch ein Wunder recht bald fand. Als ich aber die so genannte „Dienstwohnung“ betreten wollte, traf mich fast der Schlag.
Es war eine verwüstete Räuberhöhle. Ich weiß nicht, wie meine Vorgängerin dort gehaust haben musste.
Es war unmöglich, das den Kindern zuzumuten!
Es gab ein großes Zimmer, eine Gangküche und zwei Kabinette .Somit konnte ich jedem Kind ein eigenes Zimmer einrichten. Aber wie es aussah! Total abgewohnt und vernachlässigt. Nach schweren Kämpfen mit dem Hausherrn, der kein Geld für eine Sanierung locker machen wollte, erreichte ich doch, dass alle meine Vorstellungen erfüllt wurden. Ich müsste mich nur selbst um alles kümmern. Was auch geschah. In drei Monaten war aus der Räuberhöhle eine schmucke, gemütliche Wohnung geworden, in der auch die Kinder sich wohl fühlten.
 
Die Tätigkeit einer „Hausbesorgerin“ schloss für mich die Sorge um das Haus ein und ich stürzte mich mit
Energie in diese Aufgabe. Was nicht ganz einfach war. Mein Vorhaben, den Innenhof zu begrünen und wohnlich zu gestalten, wurde von den Hausparteien völlig sabotiert. “Was will die Depperte mit dem Grünzeug?“ hieß es da und die Pflanzen wanderten in den Müll. Der wiederum war auch ein Problem. Die Papiercontainer im Stiegenhaus wurden regelmäßig mit dem Restmüllkübel „verwechselt“, Mülltrennung war für die meisten Mieter ein Fremdwort und jede Woche gab es Diskussionen, warum bloß alle Kübel so voll sind. Der Hof wurde als großer Aschenbecher benutzt. Bis ich einen Aschenbecher mit schöner Masche und dem Hinweis, dass dies auch eine Möglichkeit sei, seine Kippen zu entsorgen, ans schwarze Brett hängte. Ganz, ganz langsam lernten die Mieter einander kennen, es gab Kartenspielabende, es wurde gegrillt und an den Wochenenden gemeinsam gefrühstückt. Auch an die Blumen hatten sich die Hausparteien gewöhnt und man freute sich über den weihnachtlichen Schmuck des Stiegenhauses im Advent, bzw. die Girlanden im Fasching.
 










 
 
 
 

 

 

 

 
Der
 
begrünte
 
Innenhof
 

 

 

 

 

 

 

 
Nur, von der Hausmeisterei allein konnte ich nicht leben. Ich brauchte zwar keine Miete zahlen, bekam auch ein kleines Reinigungsgeld, aber ich musste mir noch eine zusätzliche Beschäftigung suchen. Die Trennung von meinem Mann hatte mir psychisch ziemlich zugesetzt, so dass ich mir eine Arbeit wünschte, bei der ich nichts von mir hergeben musste, die höchstens meine körperlichen Kräfte beanspruchen würde. Ich fühlte mich zu leer, um die „Gebende“ sein zu können.
 
So kam ich ins St. Anna Kinderspital. Ich wurde dort als Abteilungshilfe angestellt. Meine Aufgabe war die Beaufsichtigung der Teeküche,
Essensausteilung, Sauberhalten der Nachtkästchen,   Betten waschen nach den
Entlassungen, die Wäschesortierung und Verteilung sowie die Innenreinigung aller Stationsschränke.
 
Die Kinder durfte ich laut Vorschrift nicht berühren. Nun, im ersten Moment klang es genau nach dem, was ich mir vorgestellt hatte
 

 

 
1. April 1991…14h kein Aprilscherz…..
 
sondern Arbeitsbeginn im St. Anna
 

 

 
Meine Anlern–Station ist die 3B, die HNO Abteilung. Meine Kollegin, die mich in die Feinheiten des Dienstes einführen wird, heißt
Erna, steht kurz vor der Pensionierung und ist sehr nett. Hier auf der HNO gibt es einen sehr geregelten Ablauf, da der Großteil der Patienten zur Tonsillektomie kommt. Sonntag Nachmittag und Mittwoch Nachmittag werden die Kinder aufgenommen. Montag und Donnerstag wird operiert, Mittwoch - und Sonntag Vormittag wieder entlassen. Somit gibt es Tage mit viel Arbeit wie Betten waschen und soweiter,. .die anderen Arbeiten sind auf die restlichen Tage aufgeteilt. Auf jeder Station gibt es eine Liste, in der man lesen kann, wie der Wochenplan aussieht, bzw. was der Vormittagsdienst zu machen hat und was die Kollegin vom Spätdienst für Aufgaben hat. Daran sollte man sich halten und die Arbeiten jede Woche durchführen. Das ist nicht schwer zu begreifen und ich habe mich schnell an den erforderlichen Rhythmus gewöhnt. Da man am Beginn einer
Einstellung immer als Springerin arbeitet, bis eine feste Station frei ist, werde ich bald versetzt und zwar auf die Onkologie. Hier läuft alles wieder ganz anders.
Es ist ein völlig neues Betätigungsfeld.
Es macht mich sehr betroffen, zu sehen, wie die Kinder leiden, mich beeindruckt aber auch ihre
Energie und ihre Fröhlichkeit, sobald es ihnen etwas besser geht.
 
Wenn ich nach Dienstschluss weggehe, ist es jedes Mal, als wäre ich in einer Therapie gewesen. Wie gut geht es mir doch! Meine Kinder sind gesund, was habe ich Grund, den Kopf hängen zu lassen!
 

 

 
Kurz nach meinem Beginn auf 2A sehe ich das erste tote Kind.
Es ist für mich ein gewaltiges Schockerlebnis!
Es ist ein moslemisches Kind und stundenlang höre ich die Gebetsschreie der Angehörigen.
Es geht mir durch Mark und Bein. Noch halte ich mich von den Kindern fern, so gut es geht.
Es ist auch ungewohnt, all diese Geräte und Apparate, hinter denen diese armen Kleinen versteckt sind! Dann, eines Nachmittags, wieder stirbt ein kleiner Patient. Ich habe schon mehrmals kurz mit der Mutter gesprochen und weiß, dass sie keine Hoffnung mehr hatte. Sie kommt zu mir in die Küche und ich kann nicht anders, als gemeinsam mit ihr über den Tod ihres Kindes zu weinen. Diese Mutter sagt mir später einmal, wie sehr ihr das geholfen hat, dass ich nicht nach irgendwelchen tröstenden Worten gesucht, sondern nur ihr Leid geteilt habe. Mit ihr treffe ich mich noch öfter  und ich bin froh, ihr in dieser Zeit ein wenig helfen zu können. Dieses
Erlebnis trägt dazu bei, mehr  Kontakt mit den Müttern zu suchen.
Einmal sehe ich eine Mutter traurig im Spielzimmer sitzen. Ich gehe zu ihr, frage sie, wie es ihr geht. Sie beginnt zu weinen und sagt: “
Endlich einmal jemand , der fragt, wie es MIR geht!“ Sie sitzt schon monatelang den ganzen Tag beim Bettchen ihres Kindes, es geht immer nur um das Kind und kein Mensch kümmert sich darum, wie sie mit all dem zurechtkommt.
Es stimmt auch. Die Schwestern sind zu beschäftigt, haben sie einmal Pause, wollen sie diese auch nutzen, um sich ein wenig zu entspannen und bei den Ärzten ist einfach der Patient vorrangig. So werde ich immer mehr zum „Ansprechpartner“ für belastete
Eltern. Ich sorge natürlich dafür, dass ich mein Arbeitskontingent nicht vernachlässige, aber mit einer guten Organisation ist das leicht zu schaffen.
 
Ich werde nie den kleinen Michael aus  Tirol vergessen.
Er war durch seine Krankheit weit reifer als andere Kinder mit 9 Jahren. Seine
Einstellung zur Krankheit war ergreifend.
Er meinte, der einzige in der Familie zu sein, der es sich „leisten“ kann, so krank zu sein.“ Die Mama“, so meinte er , „brauchen wir ja alle, der Papa muss arbeiten, um Geld nach Hause zu bringen und Christian, der zweijährige Bruder ist einfach noch zu klein, um verstehen zu können, was da mit ihm passiert!“ Michael hat lange gekämpft.
Er sollte noch eine Knochenmarktransplantation erhalten, hat aber vorher aufgegeben. Für die Operation hätte er ein bestimmtes Gewicht erreichen müssen, hat aber knapp davor jedes Mal aufgehört zu essen.
Es war S
EIN
E
Entscheidung, zu gehen. Sein Wunsch war es, vorher noch gefirmt zu werden. Diese Firmung am Krankenbett war eine berührende Zeremonie. Bald darauf ist er eingeschlafen. Die
Eltern haben sein Weggehen akzeptiert und ihn bewusst losgelassen.
Es ist ein sehr lehrreiches
Erlebnis für mich und hat meine
Einstellung zum Tod stark geändert.
 
Bald darauf wird ein Platz auf der 3A frei und ich werde für die nächste Zeit auf dieser Station von 14  -18h arbeiten. Später wird die Arbeitszeit verlängert und ich beginne um 12h.
 
Die 3A ist eine interne Station mit einer eigenen Abteilung für gastroenterale Erkrankungen, wo die Kinder in Quarantäne gehalten werden können.
 
Wieder eine Umstellung. Dazu kommt, dass meine Kollegin vom Vormittag unter permanenter Bequemlichkeit leidet und vieles, was sie schon gemacht haben sollte, liegen bleibt, nach der Devise „Hinter mir die Sündflut!“
 

Es kristallisiert sich immer mehr heraus, dass ich zu den Schwestern, mit denen ich zusammenarbeite, viel mehr Kontakt habe, als mit den Kolleginnen. Meine Mitarbeiterinnen beschweren sich laufend, dass sie von den Schwestern abschätzend und diskriminierend behandelt würden. Aber ich beobachte sie dabei, wie sie mit den Frauen vom Reinigungsdienst - die in der, schon sehr ausgeprägten Krankenhaushierachie  noch eine Stufe tiefer stehen - umgehen. Keinen Deut besser!
 
Ich erfahre viel über die Erkrankungen der Kinder, versuche auch immer über die Behandlungsmethoden etwas zu lernen und frage auch manche Ärzte aus. Nicht bei allen geht das, aber es gibt immer welche, die meine Fragen auch beantworten. Ich arbeite gerne auf dieser Station. Mit  Sr. Eva, der Stationsschwester und Sr. Rosi, ihrer Vertretung komme ich gut zurecht und die Arbeit macht mir Freude.
 
Auf dieser Station werden die verschiedensten internen Krankheiten behandelt. Ich verliere immer mehr die Distanz zu den Kindern und plaudere beim Bettenmachen und während der verschiedenen Arbeiten gerne mit ihnen. Da ist ein türkischer Bub, der meinen Namen wissen will. Ich sage: „Margarete“ Er d’rauf: „Ah, ich weiß schon, Margaretengürtel!“. Ich antworte ihm lachend: “Nein, Margarete ohne Gürtel!“ Dieser Beiname ist mir lange geblieben.
 
Hier werden viele Kinder nach einer Blasenplastik, die im AKH ausgeführt wird, nachbehandelt. Diese Op. wird notwendig, wenn infolge einer Blasenmissbildung Restharn in der Blase bleibt. Nach diesem
Eingriff dürfen die Kinder drei Wochen nicht aufstehen. Was mich dabei fasziniert, ist, je jünger die Patienten sind, umso schneller erholen sie sich davon. Da ist eine Vierjährige, die steht nach diesen drei Wochen auf und läuft herum, als wäre nichts geschehen, einige Wochen später ein 11-jähriges Mädchen, das beim Aufstehen einen Kreislaufkollaps bekommt.
Es zeigt mir, wie schnell der Körper wieder abbaut, je älter man wird.
 
Mein Hauptproblem auf dieser Station ist das „Durchfallzimmer“. Hier werden die Kinder unter strengen hygienischen Vorschriften betreut, um zu verhindern, dass ein Durchfallvirus auch die anderen Patienten anstecken kann.
Es lässt sich aber nicht vermeiden, dass der Inhalt der Spielzeugkisten, die in jedem Krankenzimmer stehen, ständig durcheinander gemischt wird. So sehr ich darauf achte, dass in diesem Zimmer nur leicht waschbare Spiele sind, kaum bin ich einige Tage nicht da, ist alles wieder durcheinander geraten. Wen wundert’s da, wenn es doch immer wieder spitalsinterne Infektionen gibt!
 
Bei den Spielsachen versuche ich, sie möglichst sauber zu halten, wandern sie ja doch, gerade bei den Kleinsten so oft in den Mund. Ein Versuch, es besonders gründlich zu machen, geht aber ziemlich schief:
 
Ich gebe alle Legosteine und verschiedene andere Sachen in den Geschirrspüler um sie dort zu reinigen. Dabei vergesse ich, dass unsere Maschinen auf fast 100° erhitzen. Die Legosteine verformen sich total und sind nicht mehr zu verwenden. Leider!
 
An das Gebot, die Kinder nicht zu berühren, kann ich mich nicht ganz konsequent halten. Wenn einem Kind die Jause aufs Nachtkästchen gestellt wird und dieses gar nicht die Möglichkeit hat, dort hinzugelangen, oder noch gar nicht alleine essen kann, kann ich nicht einfach zusehen.
 

Es ist traurig, aber die pflegerische Organisation ist darauf ausgerichtet, dass bei jedem Kind ein Angehöriger rund um die Uhr dabei ist. Was bei 90% der Kinder auch der Fall ist. Die Kinder werden vom Besuch gefüttert, gewickelt, herumgetragen und beaufsichtigt. Die restlichen 10% fallen durch den Rost! Die Schwestern mögen noch so bemüht sein, aber es fehlt einfach die Zeit für diese Kinder. Ich kann nicht seelenruhig ein paar Schränke auswischen – die ja in der Vorwoche auch gewischt wurden – und zusehen, wie so ein kleiner Wurm sich die Seele aus dem Leib brüllt. Ich merke immer sehr schnell, wo ein Kind ist, das keine Rundum-Betreuung hat und versuche dort ein wenig auszuhelfen.
Ein kleiner Schwarzer mit schweren Brandwunden auf der Brust.
Er hat die Tischdecke mit der heißen Kaffeekanne heruntergezogen und sich den ganzen Brustbereich verbrüht. Seine Mutter hat noch ein Kleinkind und kann nicht oft da sein.
Er freut sich immer, wenn ich komme und seine großen dunklen Augen leuchten. Ich lese ihm vor, singe mit ihm und so oft ich kann, schau ich an seinem Bettchen vorbei.
 
Die Schwestern haben sicher eine gut fundierte, medizinische Ausbildung, aber sehr oft keinerlei pädagogische Erfahrung. Wir haben immer wieder auch verhaltensauffällige Kinder, die nicht bettlägerig sind. Es ist sehr schwer, diese im Zaum zu halten, zu verhindern, dass sie nicht ins Behandlungszimmer gehen, wo ja jede Menge Medikamente aufbewahrt werden, oder sonst etwas aushecken. An manchen Nachmittagen habe ich dann so ein „braves“ Kind als fleißigen Helfer bei mir. Es gibt fast kein Kind, das nicht glücklich ist, einem Erwachsenen helfen zu dürfen.
 
Somit ist der „schwierige Fall „aus dem Verkehr gezogen und für mich ist es ja nichts ungewohntes, ein Kind zu beschäftigen.
 
Ich gehe eigentlich jeden Tag mit einem sehr guten Gefühl nach Hause, weil ich spüre, auch hier mein Bestes gegeben zu haben.
 
Noch eine kleine Episode zum Thema Hierarchie im Krankenhaus.
 
Ich bin schon fast zwei Jahre auf der gleichen Station. Während einer kurzen Kaffeepause, in der ich mit den Schwestern im Aufenthaltsraum plaudere, kommt der Sohn der Stationsärztin und bringt eine große Box mit Eis eines bekannten Eissalons.
 
Die Frau Doktor fragt alle, ob sie
Eis wollen. Ich bin anscheinend Luft für sie, ich werde nicht gefragt.
 
Nachdem mich das Verhalten dieser Ärztin schon mehrmals geärgert hat, überlege ich, wie ich ihr „rüberbringen“ kann, dass nicht sie allein die Wichtigste in diesem Team ist.
 
Bald darauf jährt sich der Tag, an dem ich auf der 3A zu arbeiten begonnen habe. Ich backe eine gute Torte und schreibe eine Karte dazu: „Für die Schwestern und Pfleger als Dank für die gute Zusammenarbeit!“
 
Wer wohl will das erste Stück von der Torte? Die Frau Stationsärztin! Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage: “Nein, die ist nur für die Schwestern!“
 
Sie fragt ganz erstaunt, warum nicht auch für sie, worauf ich ihr die „Eisgeschichte“ erzähle.
 
Ihre Reaktion passt zu ihrem Verhalten. Denn nun erklärt sie, dass sie mir keines angeboten hat, weil sie mich ja gar nicht kennt! Das nach zwei Jahren, an denen ich täglich 6 Stunden auf ihrer Station arbeite.
 
Da bin ich nicht mehr zu halten und es ergibt sich ein langes Gespräch, in dem ich ihr erkläre, dass sie und ihre Ärztekollegen überhaupt nichts ausrichten könnten, wären nicht da auch all die anderen Menschen, die die unscheinbaren, niederen Dienste verrichten. Ein Krankenhaus, in dem nichts gereinigt wird, wird sehr bald keine Kinder gesund machen können. Die großen Denker und Gelehrten, sie alle hätten nie etwas schaffen können, wären da nicht tausende von Menschen der „unteren Schichten“ gewesen, die die Arbeiten ausgeführt haben.
 
Meiner Meinung nach, ist ein Team nur dann ein Team, wenn jeder darin seinen Stellenwert hat und es keine Wertung gibt.
 
Das größte Uhrwerk wird nicht funktionieren, wenn auch nur ein paar winzige Rädchen fehlen.
 
Unser Gespräch gibt ihr doch zu denken und sie meint, es wäre ihr nicht bewusst gewesen, dass sie sich so diskriminierend verhält.
 
Von dem Tag an, kennt sie mich aber und auch später, wenn ich einen Besuch mache, werde ich freundlich gegrüßt.
 

 
Leider musste ich mich 1993 mehrerer Operationen unterziehen, was einen längeren Krankenstand zur Folge hatte.
 

 
Als ich dann den Dienst wieder antrat, war „meine „3B leider an die Kollegin, die mich vertreten hatte, vergeben worden und ich kam auf die 4A, auch eine Interne Station . Hier hatte man schon längere Zeit umgebaut und kurz vor meinem Antritt die neue Intensivstation eröffnet, die auch in meinen Arbeitsbereich gehörte.
 

 
Meine Kollegin vom Vormittag heißt Erika, ist als sehr „schwierig“ bekannt und mir ist nicht ganz wohl zu Mute. Mit Dragica von der 3A hatte ich ja schon genug Schwierigkeiten, obwohl wir uns dann zum Schluss recht gut zusammengerauft haben und sie sich zumindest bemüht hat, ihren Teil der Arbeit zu machen.
 
Überraschenderweise geht es mir mit
Erika sehr gut. Sie ist auch schon kurz vor der Pensionierung, völlig allein stehend und „adoptiert“ mich. Immer wieder bekomme ich kleine Geschenke von ihr und mit ihr kann ich wirklich gut zusammenarbeiten. Wenn sie einmal mehr Zeit hat, macht sie Arbeiten, die auf meinem Plan stehen und ich kann mich dafür mehr den Kindern widmen.
 
Hier werden immer wieder HIV kranke Kinder behandelt. Vor allem der kleine Mike, der dann mit 17 Monaten stirbt, verbringt einen Großteil seines Lebens bei uns. Seine Mutter und Geschwister haben auch Aids und er bekommt nicht oft Besuch.
 
Bis zu seinem sechsten Lebensmonat entwickelt er sich ziemlich normal.
Er hat oft schwere Pneumonien, weshalb er dann immer lange stationär behandelt werden muss. Ab dem siebten Monat bleibt seine
Entwicklung ziemlich stehen. Micky wird nie sitzen oder stehen lernen.
Er ist ein liebenswertes Baby, aber es geht ihm oft sehr schlecht.
Er bekommt durch das ständige Liegen schlecht Luft, so dass ich ihn stundenlang herumtrage.
 
Ich erkundige mich, wie weit durch Tränen und Schweiß eine Ansteckungsgefahr besteht. Durch den engen Kontakt beim herumtragen und mit ihm kuscheln, lässt es sich nicht vermeiden, damit in Berührung zu kommen. Aber man beruhigt mich und er ist bald „mein“ Kind. Wenn er da ist, kümmere ich mich viel um ihn. Ich bin traurig, dass ich bei seinem Sterben nicht dabei bin, bin aber sicher, dass es für ihn eine Erlösung ist.
 
Hier gibt es immer wieder schwerst behinderte Kinder und ich lerne viel über die verschiedensten Ursachen. Der Stationsarzt hier ist sehr nett und er beantwortet mir alle meine Fragen.
 
Wir haben ein Kind, dessen Mutter in der Schwangerschaft an Zytomegalie erkrankt war.
Eine Viruserkrankung, die einer Verkühlung ähnlich ist, aber schwere geistige und körperliche Schäden am ungeborenen Kind zur Folge hat. Immer wieder kommen Patienten mit Mucoviscidose.
Ein Leiden, bei dem der Körper eine abnorme Menge an Schleim erzeugt, der die Bronchien verstopft, Verdauungsprobleme verursacht und sehr unangenehm für die Kinder ist. Die Schwestern zeigen mir, wie ich diesen Kindern durch eine besondere Klopfmassage
Erleichterung verschaffen kann.
 
Hier werde ich schon, wenn ich meinen Dienst antrete, gebeten, hier und dort mitzuhelfen. Auch Daniel, ein Spastiker , sechs Jahre alt, ist oft bei uns. Wenn er im Bett liegt, ist er steif wie ein Brett.
 
Nehme ich ihn auf den Arm, streichle sanft seine Beine, werden sie weich und locker und auch am Monitor sieht man eine Veränderung.
Er reagiert zwar nicht, aber ich merke, es tut ihm gut.
 
Wir haben viele Diabetiker zur Insulin-
Einstellung, auch hier erfahre ich viel Neues. Ich versuche immer, so viel als möglich, über die verschiedenen Krankheiten herauszufinden. Auf der Station gibt es auch jede Menge medizinischer Lektüre, die ich mir ausleihen darf.
 
Besonders gerne bin ich bei Sr. Anita auf der Intensivstation.
 
Hier kenne ich mich bald gut aus, weiß über die verschiedensten Instrumente und Geräte Bescheid und werde immer wieder um Mithilfe gebeten.
 
Hier gibt es viele Kinder, die einmal Krebs hatten, durch Chemotherapie geheilt wurden….. und nun an den Folgen der Chemo sterben. Das erschüttert mich am meisten. Ihre Innenorgane sind so von Pilzbefall betroffen,  dass man ihnen nicht mehr helfen kann.
 
So auch ein 18 jähriger Bursche. Er liegt mehrere Wochen im Koma. Bis man feststellen muss, nichts mehr für ihn tun zu können und die lebenserhaltenden Medikamente absetzt.
 
Der Körper kämpft noch ein paar Tage. An einem Nachmittag spüre ich fast körperlich das Nahen des Todes. Ich habe einen richtigen Druck auf der Brust und fühle mich ganz seltsam. So habe ich das noch nie empfunden!
Es ist Freitag. Nach Dienstschluss gehe ich noch einmal zu ihm, um ihn ein letztes Mal übers Gesicht zu streicheln, ich weiß, am Montag ist er nicht mehr da! Ich zeichne ihm ein Kreuz auf die Stirn und verabschiede mich für immer. Bei ihm habe ich erfahren, dass ein Mensch, auch wenn er im Koma liegt, sehr wohl auf angenehme oder unangenehme Reize reagiert.
 
Der Druck liegt noch immer wie ein Stein auf meiner Brust. Bis um ca.23h.Da ist mir auf einmal ganz leicht und ich weiß genau, jetzt ist er eingeschlafen. Die Dienst habende Schwester bestätigt mir später diesen Zeitpunkt.
Es ist die genaue Sterbezeit. Sie erzählt auch, dass die ganze Familie anwesend war. Die  Mutter war vorher sehr gefasst, bekam dann aber einen Weinkrampf. Von da an konnte man am Monitor sehen, wie seine Körperfunktionen abfielen und er verstarb.
 

Es ist eine sehr beeindruckende
Erfahrung für mich. Ganz sicher haben diese
Erlebnisse meine
Einstellung zum Tod, zum Sterben für immer geprägt. Ich verstehe immer mehr, warum viele Menschen nur sterben können, wenn ihre Angehörigen kurz weggehen. Wenn ein Kranker keine Kraft mehr hat, mit seinem Leben abgeschlossen hat, sollte man die Stärke haben, ihn loszulassen. Das sagt sich leicht, aber anscheinend haben gerade die Kinder viel weniger Angst vor dem Tod und spüren viel besser, wenn die Zeit gekommen ist, um zu gehen. Sitzt dann eine Mutter da, die es anfleht, nicht zu sterben, wird es ein Kampf. Mir ist bewusst, wie schwer dieses „Loslassen“ ist und fühle mit den
Eltern.
 
Natürlich ist mir klar, wie sehr ich bei meiner Tätigkeit gegen die Vorschriften verstoße. Ich steh immer mit einem Fuß im Gefängnis. Auch, wenn ich von den Schwestern dazu angehalten werde, diese Arbeiten zu verrichten. Wenn etwas passiert, bin ich diejenige, die zur Verantwortung gezogen wird!
 
Da kommen Zwillinge auf die Intensiv. Frühgeburten, richtige Winzlinge mit Lungenentzündung. Anfangs bekommen sie ihre Nahrung über Magensonde, später aber, müssen sie auch lernen, aus dem Fläschchen zu trinken. Eine mühsame Sache!
 
Es dauert lange, bis man ihnen einige Gramm eingeflößt hat.
 
Zur gleichen Zeit gibt es mehrere andere, schwere Fälle, so dass mich die Schwestern immer wieder bitten, das Füttern der Zwillinge zu übernehmen.
 
Da sitz’ ich also und versuche, in das hustende, schnaufende Zwergerl Milch hineinzubekommen. Plötzlich schießt mir durch den Kopf: „Was ist, wenn das Baby mir dabei erstickt?“
 
Dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los. Ich weiß genau, dann sitze ich gewaltig in der Tinte.
 
Ich spreche mit Anita darüber und sie schlägt mir vor, mit der Verwaltung zu reden, ob man mir eine Pflegehelferausbildung ermöglicht. Denn damit wäre meine Tätigkeit legalisiert. Für die Schwestern wäre es eine große Hilfe und ich könnte ohne Angst arbeiten.
 

 
Aber leider! Verwalter und Oberschwester waren stolz darauf, nur diplomiertes Personal in ihrer Anstalt zu haben und spielten nicht mit. Die Weiterbildung wurde mir verweigert  und man legte mir nahe, zu gehen, wenn ich damit nicht einverstanden wäre. Nun, das machte ich auch. Mittlerweile war es nicht mehr so einfach, ohne fundierte Ausbildung eine anspruchsvolle Tätigkeit zu finden.
Eine Ausbildung, die man selbst bezahlen musste, konnte ich mir nicht leisten.
 
Außerdem war es schwierig, weil ich ja auch auf meine Tätigkeit als Hauswart Rücksicht nehmen musste. Ich hatte mich schon länger für eine Institution interessiert, die kranke Kinder in der Familie betreute. Sie hieß damals noch „Die Frau und ihre Wohnung“ .und wurde erst später in SOZIAL-GLOBAL umbenannt. Dorthin schickte ich auf gut Glück ein Bewerbungsschreiben und wurde aufgrund meiner guten Zeugnisse und meiner bisherigen
Erfahrung in der Kinderbetreuung aufgenommen. Hier war nur noch Bedingung, einen einführenden Kurs über zwei Wochen zu besuchen, wozu ich gerne bereit war. Im September 1995 begann also ein neuer Abschnitt in meiner Arbeit mit Kindern.
 

 
September 1995
 
Kinderbetreuerin…was ist das?
 

 
In diesem Kurs wurden uns die Grundregeln unserer neuen Tätigkeit nahe gebracht. Es würde eine Menge von uns verlangt werden. Schließlich ging es darum, erkrankte Kinder zu betreuen. Kinder, deren Eltern keine Möglichkeit hatten von der Arbeit zu Hause zu bleiben. Wir sollten uns also tagsüber  alleine und selbstständig in deren Wohnung  um die kleinen Patienten kümmern.
 

 
Hier sollten wir nicht
EIN
EN Beruf ausüben, nein wir waren Mutterersatz, Köchin, Krankenschwester, Lehrer und Therapeuten gleichzeitig. Kein einfaches Unterfangen! Kannten wir doch in den meisten Fällen weder das Kind noch die Familie. Wir waren konfrontiert mit einer gestressten Mutter, hin und her gerissen zwischen Arbeitsstelle und Kind, oft erst in der Probezeit mit der ständigen Angst wieder gekündigt zu werden – und einem kranken, oft weinenden Kind, das nicht verstehen wollte, dass die Mama, gerade, wo sie am meisten gebraucht wurde, weggeht und es einem wildfremden Menschen überlässt. Da war eine gewaltige Menge an
Einfühlungsvermögen notwendig. Außerdem wären wir berechtigt, die verordneten Medikamente zu verabreichen und mit den Kindern zum Kinderarzt oder eine Klinik zu gehen In unserem „Schnellsiederkurs“ erfuhren wir also einiges über
Erste Hilfe bei Kindern und  die verschiedenen Kinderkrankheiten.
Erfahrene Kolleginnen gaben Tipps, wie man kranke Kinder beschäftigen kann. Außerdem wurde uns beigebracht, wie die verschiedensten Formulare, die es für jeden
Einsatz auszufüllen gab,  zu handhaben waren. Aber was uns wirklich erwartet, das konnten nur die
Einsätze selbst zeigen.
 

 
Am 16. 9. durfte ich  - noch mit Unterstützung einer Kollegin – zu meinem ersten Einsatz.
 

 

 

Es ist aufregend! Das erste Kind, das ich betreue, ist ein süßes, schwarzes Mädchen in einem Frauenhaus der Caritas. Sie ist 14 Monate alt und stark verkühlt. Ich habe mehrere
Einsätze in Frauenhäusern. Dieses aber ist das konfortabelste. Die Mutter hat ein kleines Appartement mit Kochnische und wir sind wie in einer Wohnung. Da die Kleine die Kollegin schon kennt, ist es nicht so schwer, einen Kontakt aufzubauen. Schon am nächsten Tag gehe ich alleine hin. Die
Einsätze dauern immer so lang, als der Arzt eine Pflegebedürftigkeit bescheinigt. Wird das Kind „gesund geschrieben“ melde ich dies telefonisch der
Einsatzleiterin und bekomme auch telefonisch den nächsten
Einsatz mitgeteilt.
Es wird zwar versucht, die Fahrzeiten gering zu halten, jedoch die Krankheiten halten sich nicht an Stadtpläne, so dass ich bald jedes
Eckchen Wiens kennen lerne.
 
Am ersten Tag versuche ich immer, einen gewissen „Zeitpolster“ einzuplanen. Ich habe zwar kein Problem, die verschiedensten Adressen zu finden, jedoch sind manche Wohnhausanlagen das reinste Labyrinth, in dem nur Eingeweihte sich zurechtfinden. Mehrmals kommt es vor, dass ich die Mutter telefonisch um einen Lotsendienst bitten muss.
 
Da ist es wichtig, früh genug da zu sein, müssen doch die Eltern auch pünktlich weg zur Arbeit und ich will immerhin ein wenig über das Kind erfahren.
 
Ich bekomme zwar Alter, Name und Krankheit mitgeteilt, habe aber sonst keine Ahnung von den Bedürfnissen des Kindes.
 
Ich mache es mir zur Gewohnheit am ersten Tag nur die nötigen Unterlagen mit zu nehmen. Ich möchte ganz frei sein, um mich völlig auf den neuen Patienten einstellen zu können.
 
Das Alter allein sagt nichts aus über Entwicklungsstand und Lieblingsbeschäftigung. Erst wenn ich sehe, was an Spielzeug, Beschäftigungsmaterial vorhanden ist, was das Kind gerne macht, beginne ich, meine Tasche mitzunehmen, in der ich Spiele, Bastelbedarf und Bücher mitbringe.
 
Ich komme zu allen Bevölkerungsschichten, zu Begüterten und Ärmsten, in Traumwohnungen – und schmutzige Löcher.
 

Es heißt, sich immer schnell auf die
Erfordernisse einzustellen. Flexibilität  und Toleranz sind wichtige Voraussetzungen für diese Arbeit.
Es ist eine echte Herausforderung. Aber nirgends gibt es so direktes, positives feed back wie hier. Wenn so ein kleiner Knirps nach dem ersten Tag fragt, ob man morgen eh wieder kommt, ist das das größte Lob, das man sich vorstellen kann!
 
Wie schwer das auch für die Mütter ist, erfahre ich bei meinem Einsatz bei Melanie. Bis jetzt ist immer die Oma eingesprungen.  Die ist aber selbst erkrankt und mit der Schwiegermutter gibt es Probleme. Leider erinnere ich die Mutter aber vom Aussehen her sehr an diese, was uns den Beginn nicht gerade erleichtert.
 
Melanie hat in der Nacht wenig geschlafen und schläft jetzt am Morgen tief. Wir wollen sie nicht wecken. Sie ist 4 und weiß, dass eine fremde Tante kommt. Was aber noch lange keine Garantie für ein problemloses Erwachen ist. Die Mutter gibt mir eine ganze Liste Anordnungen und ich merke, wie schwer es ihr fällt, das Kind mir zu überlassen.
 
Als Melanie aufwacht, ist sie zwar anfangs etwas schüchtern, aber das ist bald vorbei. Sie hat viele gute Bücher, wir spielen mit ihrer Puppe und verbringen einen schönen Tag. Die Mutter ist beim Heimkommen überrascht, ihr kleines Mädchen froh und zufrieden vorzufinden. Am nächsten Tag ist alles schon unverkrampfter und am
Ende des
Einsatzes erzählt mir die Mutter, wie sehr sie am ersten Tag gelitten hat. Sie musste sich mit aller Gewalt zurückhalten, nicht ständig anzurufen und  hatte Schweißausbrüche vor Sorge um ihr krankes Kind. Wir sind richtige Freundinnen geworden und ich habe Melanie noch oft betreut.
 
Ich bin der Mutter dankbar, dass sie mir so offen von ihren Befürchtungen und Sorgen erzählt hat. Kann ich mich dadurch noch viel besser in ihre Situation hineindenken. Wie muss es sein, einem wildfremden Menschen, das kranke Kind, die eigene, vielleicht nicht ordentlich aufgeräumte Wohnung zu überlassen? Es ist da ein immenser Vertrauensvorschuss notwendig, um damit zurechtzukommen.
 
Im Lauf der Zeit  bekomme ich immer mehr Erfahrung im Umgang mit den Eltern, der meist schwieriger ist, als der mit den Kindern.
 
Ich bin unter anderem auch für die Zubereitung des Mittagessens zuständig. Das wird von Familie zu Familie verschieden gelöst. Manche Mutter zeigt mir die Küche und sagt, ich soll schalten und walten, wie ich will. Kochen was das Kind möchte. Dann wieder gibt es schon alles vorbereitet in der Mikrowelle. Andere legen penibel alles heraus, was ich zu einer bestimmten Mahlzeit benötige. Ich überlasse das immer den
Eltern, was sie lieber möchten. In manchen Haushalten findet man fast keine Lebensmittel, um überhaupt etwas kochen zu können und auch sonst ist innovativer
Erfindergeist angesagt.
 
Besonders gerne essen fast alle Kinder Palatschinken. Ich werde zum Meister im Palatschinkenschupfen! Das hat einen besonders hohen Stellenwert!
 
Doch nicht bei einem Geschwisterpaar. Beide im Vorschulalter. Sie beobachten mich aufmerksam. Der kleinere Bruder fragt die Schwester: „Was macht denn die da? “ Die Schwester  hat fliegende Palatschinken auch noch nie gesehen, antwortet ihm: „Ach lass sie, sie kann das machen, wie sie will!“ hier bin ich mit meiner Show also echt abgeblitzt.
 
David, soll zum Mittagessen Spinat bekommen, sagt aber schon den ganzen Vormittag, dass er Spinat nicht mag. Also disponiere ich um und es gibt Krokodilgulasch. (Spinat mit
Erdäpfelstücken). Mit diesem Menü ist er vollauf zufrieden und wir erfinden täglich lustige Speisen.
 
Bei der kleinen
Eva antworte ich auf die Frage, was es zu Mittag gibt,  „ein Hendi“ sie schaut mich erstaunt an und fragt:
 
„Das kann man essen?“ Sie denkt dabei an ein Handy.
 
Nina, ein ziemlich resolutes Persönchen droht mir, ihr Mittagessen auf den Teppich  zu leeren. Mein Bemerkung, dass die Mama da aber eine Freude haben wird, wenn der Teppich eine neue Farbe hat, überrascht sie derart, dass sie sich ohne Murren hinsetzt und isst.
 
Nach dem Weggehen der Eltern ist es besonders am ersten Tag schwierig, einen Zugang zu den Kindern zu bekommen.
 
Ich habe da bald meine eigene Taktik: IGNORIEREN
 
Ich habe mir angewöhnt, erst bei den Familien zu frühstücken. Die Kinder haben es gerne, wenn sie nicht alleine essen müssen und das gemeinsame Frühstück ist meistens sehr nett und gemütlich. Merke ich, dass ein Kind scheu ist und Zeit braucht, richte ich mein Frühstück, lese die Zeitung und lasse den kleinen Patienten möglichst in Ruhe.
 
Da bin ich bei einem dreijährigen Knirps, der sehr weint, als die Mutter weggeht. Ich darf gar nicht in sein Zimmer kommen, er versteckt sich unter der Decke und ist traurig. Ich kann ihn gut verstehen, schau nur hin und wieder kurz nach ihm, lasse ihn aber ansonsten in Ruhe. Im Wohnzimmer liegt ein Fotoalbum mit Babybildern von ihm. Ich blättere darin und sehe aus den Augenwinkeln, wie er in der Tür steht und mich beobachtet.
 
Wenige Minuten später klettert er auf meinen Schoß und erzählt mir, wer auf den Fotos zu sehen ist. Das Eis ist gebrochen!
 
Noch schwieriger ist es bei einem kleinen Mädchen. Sie schreit: “Geh weg, geh weg!“ Nun, diesen Wunsch kann ich ihr nicht erfüllen, aber ich setze mich mit dem Rücken zu ihr. Später lege ich ihr das Gewand hin, damit sie sich anziehen kann, denn wir müssen zum Arzt. Auf meine Frage, ob ich ihr helfen soll, nickt sie, bleibt aber mit dem Gesicht unter der Decke. Ich helfe ihr, noch immer ohne Blickkontakt und erst beim Frühstück beginnt sie langsam zutraulich zu werden.
 
Ich erkenne immer mehr, wie wichtig es auch bei kleinen Kindern ist, ihre Intimsphäre nicht zu verletzen. Sie nicht mit Liebe zu „überfallen“. Vor allem ist es wichtig, dass diese momentane Ablehnung nicht gegen mich persönlich gerichtet ist, sondern einfach gegen die Situation, für die das Kind ja nichts kann.
 
Ich habe mir angewöhnt, bei Schwierigkeiten die 5 W’s zu beachten:
 

 

Warum reagiert das Kind so?
 
Wie ist es mir in einer ähnlichen Situation als Kind gegangen?
 
Was habe ich dabei gefühlt?
 
Was hätte ich mir da von der Betreuungsperson gewünscht?
 
Wenig Worte sind oft mehr!
 

 
Einsatz bei Max, knapp 6 Jahre. Die Eltern haben sich erst vor kurzem getrennt, die Mutter leidet selbst noch sehr darunter und bittet mich, mit Max nicht darüber zu sprechen. Im Allgemeinen halte ich mich an solche Vorgaben.
 
Max ist sehr aggressiv. Er redet nur davon, wie er alle möglichen Leute umbringen will, hat schlimme Wutanfälle und ist ein augenscheinlich total verunsichertes Kind. Außerdem redet er davon, aus dem Fenster zu springen.
 
Während ich noch überlege, ob ich die Trennung doch ansprechen soll, kommt er mit einem Messer aus der Küche und will mich „abstechen“.
 
Seine Mutter ist Köchin und hat das entsprechende Werkzeug.
 
Er tobt und schreit und es ist gar nicht so leicht, ihm ohne mich oder ihn zu verletzen, das Messer wegzunehmen. Dann nehme ich ihn und halte ihn ganz fest. Anfangs wehrt es sich dagegen, später lässt sein Widerstand nach und er beginnt zu weinen. Auch mir rinnen vor Erleichterung und auch Mitgefühl die Tränen aus den Augen.
 
Er sieht das und fragt ganz verwundert: “Warum weinst DU?“ Ich antwortet, dass es mir weh tut, dass es ihm so schlecht geht, dass er so zornig sein muss und ich ihm nicht helfen kann.
 
Da beginnt er zu erzählen. Wie schlimm es ist, den geliebten Papa nicht mehr zu haben. Er weiß zwar, dass Papa zu Mama böse war und sie gehaut hat, aber zu ihm war er immer lieb und nun darf er nicht einmal von ihm reden! Unglücklicher, kleiner Bursche!
 
Ich erzähle dieses Erlebnis meiner Teamleiterin und diese kann die Mutter überreden, mit Max eine Therapie aufzusuchen.
 
Problematische Kinder gibt es mehr als genug. Aber diese werden nicht so geboren!
Erst ihre Umwelt macht sie dazu! Die meisten Kinder sind schon glücklich, wenn da jemand ist, der wirklich jede Zeit hat, um zu spielen, vorzulesen oder zu basteln. Besonders das lieben fast alle. Meine Tasche ist da unerschöpflich und wir machen aus allem, was ich so sammle, schöne Sachen.
 
Ich erinnere mich an Julia. Sie ist 11 und erklärt mir am ersten Tag, dass ich mich gerne am Bücherschrank bedienen kann. Sie würde mich nicht brauchen, weil sie ohnehin den Fernseher hat.
 
Gut, auch kein Problem, ich lese ein wenig und beginne dann mit der Vorbereitung einer Weihnachtsbastelei.
 
Nach einiger Zeit fragt sie, was ich da mache und schaut interessiert zu. Ich erkläre es ihr und bald kommt die Frage, ob sie auch was machen darf. Ich antworte, dass sie ja fernsehen wollte und ich sie nicht stören will.
 
„Ich kann ja abdrehen!“ rief sie und jeden Morgen sitzt sie schon aufgeregt da und wartet, was wir wieder basteln. Fernsehen ist out!
 

 
Auch Simon, ein 10-jähriger ist ein begeisterter Bastler.
Er sammelt Steine und wir falten verschieden große Schachteln, in denen er sie gut aufbewahren kann.
Er ist voll des Lobes und erklärt: “Meine Werklehrerin glaubt, alles zu können, aber das, was du kannst, kann die nie im Leben!“. Tut gut, ein solches Lob.
 
Mit Peter wieder spiele ich den ganzen Tag mit den Legosteinen und wir bauen so lang, bis der letzte Stein aufgebraucht ist. Was soll’s, die Zeit vergeht, dem Kind geht es gut dabei und mir macht es Spaß!
 
Den größeren Kindern macht es auch Freude, selbst Spiele zu auszudenken und herzustellen.
 
Was hier noch wichtig ist: Auch die Schule darf nicht zu kurz kommen. Ich versuche besonders bei Langzeitkranken Kontakt mit der Lehrerin herzustellen, damit wir daheim den Lernstoff durcharbeiten. Damit mache ich mich nicht wirklich beliebt, aber wenn wir das Lernen mit Spielen verbinden, kann es auch recht lustig sein.
 
Lustig!
Ein Stichwort:
 
Da ist Sarah, sie ist fast gesund und wir dürfen weggehen. Was sie aber gar nicht will. Für keine Unternehmung kann ich sie begeistern. Nachdem wir beim Basteln festgestellt haben, dass einiges fehlt und nachgekauft werden muss, beschließen wir, einfach nur einkaufen zu gehen. Die Meidlinger Hauptstraße ist in der Nähe. Sarah findet zwar auch einkaufen öde aber ich verspreche ihr, dann gleich wieder nach Hause zu gehen. Was machen wir daraus?
Einen urcoolen Shoppingbummel! Wir spielen feine Damen, die sich alles leisten können, spazieren in jedes Geschäft, schauen alles an, kaufen natürlich nichts. In einem Schuhgeschäft probieren wir jede Menge Schuhe ohne zu kaufen und im Stoffgeschäft überlegen wir, was wir uns aus den wunderschönen Stoffen schneidern lassen.
 
Wieder zu Hause stellt sie fest: „ich habe nicht gewusst, dass Einkaufen soooo lustig sein kann!“
 

Es macht mich immer wieder betroffen, wie ungewohnt es für viele Kinder ist, dass man mit ihnen lacht und Späße macht.
Es kommt vor, dass dann so ein Kind bei der nächsten
Erkrankung  nach der lustigen Tante, mit der es so gelacht hat, verlangt.
 
Am Beginn eines neuen Einsatzes bespreche ich immer mit dem kleinen Patienten, was wir für ein Programm durchziehen werden, was er gerne macht, wie das so mit dem TV – Verhalten aussieht.
 
Ich sage dann auch gleich, dass ich nach dem Essen eine Stunde für mich brauche, um mich auszuruhen. Denn nur so kann ich dann wieder ganz für sie da sein.
 
Viele benötigen ohnehin einen Mittagsschlaf, entweder weil sie noch klein sind, oder durch die Krankheit geschwächt. Manche wehren sich aber dagegen, weil sie ja überhaupt nicht müde sind.
 
So auch Benjamin.. Ich erkläre ihm, dass er nicht schlafen muss, dass es aber wichtig ist, sich auszurasten, weil er dadurch schneller gesund wird. Er darf also bei mir auf der Bank liegen und hat die Füße auf meinem Schoß. Ich streichle sie sanft, während ich lese und in wenigen Minuten schläft Benjamin. Am nächsten Tag legt er sich schon ganz freiwillig hin und bittet mich, seine Füße wieder so lieb zu „massieren“, das hätte ihm sooo gut getan. Wenn’s weiter nichts ist, das mache ich gerne für ihn!
 
Diese Mittagsruhe ist sowohl für mich, als auch die Kinder wichtig und macht meistens nur in den ersten Tagen Probleme. Die Kinder merken sehr schnell, dass ich das konsequent durchziehe und akzeptieren das dann auch.
 

Einige Kinder betreue ich auch nach Unfällen. Martina, sieben Jahre alt, geistig behindert, ist in einem unbeobachteten Moment über die Straße gelaufen und wurde von einem Auto niedergestoßen. Sie hat eine offene Unterschenkelfraktur und trägt einen Fixator.
 
Das ist ein Metallgerüst, mit dem die Knochen verschraubt werden. Die Wunde ist ziemlich weit offen und  Martina muss liegen.
Es ist eine schwierige Aufgabe! Man kann es ihr nicht erklären, warum das so ist und es braucht viel Geduld, sie am Aufstehen zu hindern.
Es ist Sommer, ich trage sie oft auf den Balkon, so dass sie auf die Straße sehen kann.
Es gibt auch einen Wagen, mit dem wir weggehen können, aber es ist einfach zu heiß. Leider leben in dieser Wohnung außer den Menschen Millionen von Ameisen und ich bin den ganzen Tag damit beschäftigt, diese daran zu hindern, in Martinas offenen Fuß zu krabbeln. Das aber findet Martina recht lustig und bringt sie sogar dazu, manchmal zu lachen. Ansonsten weint sie viel und ich weiß nicht, ob sie Schmerzen hat, oder warum sie weint.
 
Nach einigen Wochen Einsatz beginnt mein Urlaub und ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, bis das Beinchen wieder verheilt ist.
 
Auch ein 4jähriges, türkisches Mädchen hatte den gleichen Unfall. Auch sie trägt den Fixator, sie darf aber vorsichtig gehen. Am ersten
Einsatztag begleite ich sie und die Mutter ins Krankenhaus zur Kontrolle. Ich habe den
Eindruck, dass der Fuß ziemlich geschwollen ist und spreche den Arzt darauf an. Der meint aber, das sei normal und schickt  uns nach Hause. Am nächsten Morgen ist der Fuß so stark geschwollen, dass ich das Gestänge des Fixators fast nicht sehen kann.
Erschrocken packe ich die Kleine und fahre wieder ins Krankenhaus. Plötzlich??  steht der Fuß unter
Eiter und der Apparat muss weg. Die Kleine wird auf den Tisch gelegt und ohne irgendeine Betäubung beginnt man, die Schrauben zu lösen – was aber nicht gelingt. Nun kommt man mit einem riesigen Werkzeugkasten – der mir Angst macht.
Erst nach vielen Ansätzen schafft der Arzt es, die Schrauben zu lösen. Das Kind brüllt und muss von mehreren Personen festgehalten werden. Der Arzt sagt zu mir: „Die soll nicht so schreien, das tut eh nicht weh!“
 
Worauf ich ihm antworte. „Ihnen nicht!“
 
Die Schrauben sind weg und aus den Öffnungen rinnt der
Eiter. Nun bekommt sie einen Spaltgips,  muss mit Antibiotika behandelt werden und bleibt einige Tage im Krankenhaus.
 
Nach der
Entlassung gehe ich wieder zu ihr. Sie hat inzwischen keinen Gips mehr, die offenen Stellen sind gut verheilt und es ist wichtig, dass sie viel geht und Bewegung macht. Sie hat aber totale Angst, den Fuß zu belasten und will nicht gehen. So beginne ich,  mit ihr Dreirad zu fahren. Das macht ihr Spaß und der Fuß wird kräftiger. Wir gehen viel in den Park und ich versuche immer wieder, sie zum Gehen anzuregen.
Erst als ich ihr einen Stock in die Hand gebe und ihr versichere, sie an diesem Stock fest zu halten, wird sie mutiger. Bald halte ich den Stock nur ganz leicht und sie geht ganz frei . Mit Ballspielen und verschiedenen Tricks habe ich sie bald soweit, dass sie sogar alleine die Stiegen in den ersten Stock schafft
 
Die Ärzte staunen, wie bald sie  sie wieder laufen kann und wir sind stolz auf unsere Leistung.
 
Bei diesem
Einsatz bin ich sehr lange in dieser muslimischen Familie. Anfangs gibt es Probleme. Die Großmutter wohnt im gleichen Haus und mischt sich immer wieder in die Betreuung ein.
Einmal reicht es mir. Ich setze ihr das Kind in die Küche und sage, dass ich gehe und sie selbst das Kind betreuen soll, wenn ihr nicht passt, was ich mache. Das will sie nun doch nicht, sie lenkt ein und bemüht sich, sich in Zukunft fernzuhalten, solang ich im
Einsatz bin. Im Park, der gleich gegenüber ist, sind nur türkische Familien. Setze ich mich zu einer Frau auf die Bank und versuche mit ihr ins Gespräch zu kommen, steht sie auf und geht zu einer anderen Bank. Ich komme mir vor wie eine Aussätzige!
 
Das Mädchen aber ist sehr lieb und sie freut sich immer, wenn ich komme.
 
Bei einem
Einsatz in einer anderen muslimischen Familie habe ich ein
Erlebnis, das mich erschüttert! Die Kinder, das Mädchen fünf, der Bub sechs Jahre.
Erkan hat eine Spielzeugmaschinenpistole, mit der er immer wieder auf mich zielt. Ich erkläre ihm, dass ich es nicht lustig finde, erschossen zu werden und nach längeren Diskussionen ist er bereit, die Waffe abzulegen. Der Vater ist im Gefängnis, für den Buben aber das große Vorbild.
 
Eines Tages erklären sie mir, sie wollen „Das Böse zerstören“. Ich bin gespannt, was sie darunter verstehen.
 
Nun holen sie einen Versandkatalog der Mutter und blättern eifrig darin. Was suchen sie da bloß?
 
Da, sie haben die Seiten mit dem Schmuck gefunden und beginnen, mit einem Bleistift alle Kreuze, die sie finden, zu zerfetzen. Es tut mir weh, zu sehen, wie aufgehetzt diese Kinder schon sind.
 

Ein lustiges
Erlebnis habe ich bei einem Geschwisterpaar, dem ich einige Zaubertricks vorzeige. Die zwei sind unersättlich und wollen spektakuläre Sachen sehen. Nun, ich sage ihnen, ich könnte meine Zähne wegzaubern. Ich trage Prothesen und für mich ist es kein Problem, diese verschwinden zu lassen. Nach einigen Hokus –Pokus  sind also plötzlich meine Zähne weg!  Nie werde ich die verwunderten,  erstaunten Gesichter der zwei vergessen. Diesen Zaubertrick habe ich ihnen aber anschließend erklärt.
 
Diese Zahnprothesen sind für manche Kinder sehr aufregend. Hin und wieder sieht eines der Kinder, wenn ich sie reinige und es gibt dann viele Fragen zu beantworten. Schlimm ist es, wenn das Kind in der Straßenbahn oder im Wartezimmer des Arztes verlangt, ich solle doch wieder die Zähne herausnehmen.
 
Jakob, ein fünfjähriger Bub, bei dem ich recht lange im Einsatz bin, ist immer total brav und unproblematisch. Bei unserem letzten Spaziergang sprechen wir darüber, ich lobe ihn und frage, ob er immer so brav ist. Worauf er mich ansieht und ganz offen sagt: “Bei der Mama nicht!“
 

Eine interessante Frage richtet Jakobs Vater an mich.
Er möchte wissen, ob man diese Arbeit macht, weil man Kinder liebt, oder weil man sie hasst. Der gute Mann muss auch schlechte
Erfahrungen gemacht haben.
 
Mein traurigstes Erlebnis hatte ich bei Florian.
 
Wie bei vielen Scheidungskindern üblich, wurde ich manches Mal auch von den Vätern abgelöst.
 
So ist es auch an diesem Mittwoch im Juni bei Florian. Es ist vorgesehen, dass der Vater um 15h kommt. Die Mutter will eine Freundin besuchen. Kurz vor dem vereinbarten Zeitpunkt ruft der Vater noch an, um sich zu entschuldigen, dass er nicht pünktlich kommen wird, er stecke im Stau.
 
Das macht mich schon unruhig. Gerade an diesem Tag habe ich es auch eilig. Der Donnerstag ist ein Feiertag, den Freitag habe ich frei genommen, um wieder einmal zu Gabriel und Johanna nach Graz fahren zu können.
 
Doch der Vater kommt nicht! Die Mutter ist nicht erreichbar. Es muss zwar immer eine Kontaktnummer angegeben werden, für den Fall, dass die Mutter ausfällt. Diese ist aber die des Vaters, der sich nicht meldet und auch am Handy nicht erreichbar ist.
 
Nach zwei Stunden gehe ich mit Florian zu seinem Kindergartenfreund, der im gleichen Haus wohnt. Zufällig habe ich ihn am Vormittag mit seiner Mutter kennen gelernt. Ich bitte also diese, Florian zu übernehmen, hänge einen Zettel an die Wohnungstür und rase zum Bahnhof.
 
Am nächsten Tag rufe ich die Mutter an, um mich zu versichern, dass mit  Florian und seinem Vater alles in Ordnung sei.
 
Aber leider . Der Vater hatte kurz nach unserem Telefonat einen tödlichen Verkehrsunfall.
 

 
Zum Abschluss möchte ich noch von meinem „Schlüsselkind“ erzählen.
 
Lukas ist knapp drei, als ich ihn das erste Mal betreue. Er geht nicht mit einem Kuscheltier ins Bett, sondern mit einem Schlüsselring! Schlüssel und Schlösser sind sein Ein und Alles. Er schaut ein Schlüsselloch kurz an und findet aus einer Menge Schlüssel auf Anhieb den richtigen heraus. Echt faszinierend! Auch bei ihm bin ich sehr oft und seine Vorliebe für Schlüssel bleibt ihm.
 
Was mir bei meinen Einsätzen immer wieder auffällt, ist die Tatsache, dass die Kinder viel zu wenig gelobt werden. Sage ich ihnen, wie brav und tüchtig sie sind, spornt sie das an, sich immer mehr zu bemühen und mir Freude zu machen. Was für beide Seiten angenehm ist! Für das Selbstbewusstsein der Kinder ist Lob unendlich wichtig!
 
Auch bei der Kinderbetreuung habe ich das Glück, eine sehr nette, kompetente Teamleiterin als Chefin zu haben. Sie kennt ihre Betreuerinnen sehr gut und weiß genau, bei welchen Einsätzen wir richtig am Platz sind. Auch mit ihr verbindet mich nach diesen 9 Jahren mehr als eine rein dienstliche Beziehung
 

 
 Leider bekam ich ab 2003 immer mehr gesundheitliche Probleme.. Starke Muskelschmerzen, Unsicherheit beim Gehen und Erschöpfungszustände. Auch eine Kur und laufende, physikalische Behandlungen brachten keine Besserung und es waren immer wieder Krankenstände erforderlich.  2004 erhielt ich die Diagnose:
 
Morbus Parkinson, was ich ohnehin schon lange vermutete.
 
Der Betriebsrat teilte mir mit, dass man mich wegen der häufigen Krankenstände kündigen würde.
 

 
Die Namen der Kinder, von denen ich im Rahmen der Kinderbetreuung erzählt habe, sind frei erfunden.
 

 
Nachdem ich mich körperlich ohnehin zu schwach fühlte, willigte ich ein und so ging meine  langjährige Beschäftigung mit den Kindern, diesen fröhlichen, dankbaren, neugierigen, wissenshungrigen Wesen zu Ende.
 
Jahrelang hatte ich einer versäumten Karriere als Ärztin nachgeweint. Ich weiß nicht mehr, wann ich begonnen habe, zu erkennen, dass der Platz, an den ich jeweils gestanden bin, der Richtige für mich war. Ich konnte zwar keine Universität besuchen, aber mir wurden immer die richtigen Menschen und Situationen geschenkt, aus denen ich vielleicht mehr gelernt habe, als man je in einer Schule lernen kann.
 
Ich möchte all diesen Menschen danken, die meine Lehrer waren. Sehr oft, ohne dies zu wissen. Ich möchte vor allem all den vielen Kindern danken, die mir ihre Liebe, ihr Lachen, ihr Vertrauen und ihre Zuneigung geschenkt haben. Ich werde sie für immer in meinem Herzen tragen. Wenn ich mich auch nicht mehr an alle gleich gut erinnern kann. Jedes von ihnen war mir wichtig und ich habe versucht, ihm mein Bestes zu geben.
 
Danken möchte ich vor allem dem Lieben Gott! Er hat mir immer genug Schutzengel zur Verfügung gestellt, die dafür gesorgt haben, dass meinen Schützlingen nie etwas Gröberes passiert ist
 
Froh und dankbar schaue ich zurück auf ein erfülltes und befriedigendes Berufsleben, in dem ich meine Begabungen und Talente voll einsetzen konnte.
 

 
Nun bin ich seit fast 4 Jahren Großmutter. Michelle und Dominik, meine Enkel sind oft bei mir und ich möchte auch ihnen all die Liebe schenken, die ich zur Verfügung habe!
 

 

 

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Margarete Weiss).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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