Nora Runge

Die Bräutigamseiche

Es war im Herbst 1960.
Ich saß mit meinem Vater vor dem Fernseher. Es lief gerade eine Sendung über die Bräutigamseiche in Eutin. Den Namen bekam die Eiche angeblich im Jahre 1891, weil sich dort ein Paar, das nicht zusammenkommen durfte, heimlich immer traf und im Astloch seine Liebesbotschaften hinterließ. Nach einer langen Zeit des Schmachtens durften sie dann endlich heiraten.
Angeblich soll diese 500 Jahre alte Eiche als natürliche Kontaktbörse für Singles dienen, und das schon seit über hundert Jahren.
Ein Astloch im Stamm des Baumes dient als Briefkasten. Täglich steigt seit 1927 ein Postbote die Leiter hinauf, um Briefe einsamer Herzen dort zu hinterlegen.

Naja, ich war ziemlich skeptisch.
Mein Vater meinte: „Versuch's doch mal. Vielleicht bekommst Du ja Antwort.“
„So ein Quatsch! Wetten, dass da kein Mensch vorbeikommt und in das Astloch guckt.“

Aber irgendwie reizte es mich doch.
Also setzte ich mich hin und schrieb einen Brief an den „lieben Unbekannten“, und brachte ihn noch am selben Tag zur Post.
Viel Hoffnung auf eine Antwort hatte ich nicht.

Nach vier Monaten, ich hatte die Sache schon längst vergessen, flatterte ein Brief ins Haus.
Als ich abends aus dem Büro kam, überraschte meine Mutter mich mit der Nachricht: „Du hast Post bekommen. Aus Flensburg. Kennst Du da jemanden?“
„Nööö.“
„Komisch. Woher hat denn dieser G.L. Deine Adresse?“
„Keine Ahnung ... „

Mein Vater, der am Küchentisch saß, schmunzelte und zwinkerte mir zu.
Ach, du lieber Himmel! Der Brief an die Bräutigamseiche!
Plötzlich hatte ich es sehr eilig in mein Zimmer zu kommen.
Mit klopfendem Herzen riß ich den Umschlag auf.

Da schrieb mir ein junger Soldat, dass er mit seinem Freund in Eutin war und von der Eiche gehört hatte. Von den vielen Briefen, die dort im Astloch lagen, habe er meinen genommen, weil ihm mein Vorname so gut gefiel.
Was für ein Affe!

Ich legte den Brief beiseite. Er interessierte mich nicht.
An diesem Abend hatte ich was Besseres vor. Ich hatte eine Verabredung mit meiner Freundin. Wir wollten ins Kino gehen.

Als ich wieder nach Hause kam, wollten meine Eltern wissen, was denn in dem Brief stand.
Mein Vater konnte unser Geheimnis leider nicht für sich behalten.
„Ach, nichts Besonderes. Alles Blödsinn! Gesäusel!“

Bevor ich ins Bett ging, las ich mir die Zeilen dieses G.L. noch einmal durch.
Eigentlich schreibt er ja ganz witzig, dachte ich.
'Er würde sich über eine Antwort sehr freuen'. - Da kann er lange warten!

Tage später lag der Brief noch immer auf meinem Nachttisch.
Endlich überwand ich mich und beantwortete ihn.
Es dauerte keine drei Tage, da war seine Antwort da.
Er schrieb so nett und lustig, dass es mir richtigen Spaß machte, darauf einzugehen.

So entwickelte sich zwischen uns ein reger Briefwechsel.
Wir lernten uns immer besser kennen und verstanden uns prächtig.
Inzwischen wusste ich auch, dass er acht Jahre älter war als ich.
Schon ein 'gestandender Mann', wie meine Mutter sagte.
Ich erwischte mich dabei, dass ich sehr enttäuscht war, wenn er nicht sofort antwortete.
Etwa ein Jahr lang gingen unsere Briefe hin und her.

Eines Tages klingelte im Büro das Telefon.
„Das ist für Sie“, sagte meine Kollegin und reichte mir den Hörer.
Ich meldete mich, und am anderen Ende der Leitung sagte jemand:
„Hallo. Ich bin in Bremen auf einem Offizierslehrgang und möchte Dich gerne heute abend treffen.
Kannst Du das einrichten?“

Mir verschlug es die Sprache.
Es war das erste Mal, dass wir miteinander telefonierten.
Diese Stimme! Seine Stimme!
Ein Schauern durchrieselte mich.
Ich begann vor Aufregung zu stottern.

„Schlage Du einen Treffpunkt vor. Ich kenne mich in Bremen nicht aus“, hörte ich ihn sagen.
Krampfhaft suchte ich nach einer Ausrede.
Seit Wochen träumte ich von diesem Augenblick. Davon, ihm endlich persönlich gegenüber zu stehen. Ich kannte ja nur sein Foto.
Und jetzt würde ich mich am liebsten davor kneifen.

'Das kannst Du nicht machen! Wer weiß, wann er mal wieder in Bremen ist', redete ich mir selber Mut zu.

„Ok. Dann treffen wir uns auf dem Marktplatz beim Roland. Linkes Knie.“
Er lachte: „Warum 'Linkes Knie'?“
„Ach, das sagt man bei Verabredungen hier so.“
„Gut, ich erwarte Dich dann um 20 Uhr dort. Ich freue mich auf Dich!“

Nach Büroschluß hatte ich es sehr eilig nach Hause zu kommen.
Als ich meiner Mutter von der Verabredung erzählte, hörte ich von ihr nur ein langgezogenes 'Ahaaa'. Sie ging mit einem Lächeln im Gesicht zu meinem Vater ins Wohnzimmer.

Was sollte ich bloß anziehen?
Kleid, Rock oder Kostüm?
Bisher dachte ich immer, ich hätte genug Garderobe.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mich an diesem Abend umgezogen habe, bevor ich mich für ein blaues Kostüm entschied.
Die Haare, die ich damals hochgesteckt trug, wollten nicht so wie ich.
Autsch, auch das noch! Eine Laufmasche!
Zum Glück konnte meine Schwester mit einer Strumpfhose aushelfen.

Zigmal fragte ich meine Mutter: „Wie sehe ich aus? Kann ich so gehen?“
Schließlich schob sie mich lachend zur Haustür hinaus: „Du wirst ihm schon gefallen!“
Als ich am Markt aus der Straßenbahn stieg, hielt ich Ausschau nach ihm.
Er war nicht zu übersehen: Er stand tatsächlich vor dem linken Knie des Rolands!

Langsam ging ich auf ihn zu. Er strahlte mich an.
Und ich ... ich sah nur seine blauen Augen. Es war, als würde ich in einem Meer versinken.
Von diesem Augenblick an wusste ich, dass ich rettungslos verloren war!

Er lud mich zum Essen in den Ratskeller ein.
Es wurde ein wunderschöner Abend. Wir waren so vertraut miteinander. Meine Aufregung und Unsicherheit war total verschwunden.

Es war schon sehr spät, als er mich nach Hause brachte.
Ich saß neben ihm im Auto und wünschte, die Fahrt würde nie zu Ende gehen.
Zum Abschied nahm er mich in die Arme und küßte mich.
Unser erster Kuß!

Von diesem Abend an trafen wir uns, sooft sein Lehrgang es zuließ.
Diese Wochen waren traumhaft. Wir lebten beide wie in einem Rausch.

Dann kam der Abschied. Er mußte zurück an seinen Standort.
Aber wir wussten beide, dass wir uns bald wiedersehen würden.

Monate später haben wir zusammen die alte Eiche besucht.
Die Bräutigamseiche, der wir unser Glück verdankten.

Es war ein kurzes Glück.
Wie es bei der ersten Liebe leider oft ist, hält sie nicht für's ganze Leben.
Wir trennten uns nach zwei Jahren.
© Nora Runge

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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