Es war noch vor Sonnenaufgang, als Kayla in der kleinen Hütte, in der sie mit ihrer Familie lebte, die Augen aufschlug. Sie hielt es nie lange in ihrem Bett aus, da das platt gelegene Stroh ihr unangenehm ins Gesicht stach.
Sie richtete sich auf und sah zu dem Bett, in dem ihre Mutter und ihre kleine Schwester Isabeau schliefen. Kayla schlug die Bettdecke zurück, schwang sich leise aus dem Bett und schlüpfte in ihr zerschlissenes Leinenkleid. Schuhe hatte sie keine, aber jetzt im Frühling lief sie sowieso viel lieber barfuss. Kayla störte es nicht, dass ihre Familie arm war. Sie kannte kein anderes Leben und sie beneidete auch niemanden, der mehr besaß als sie. Niemand aus ihrem Dorf war besonders wohlhabend. Den Kindern war es egal, doch die Älteren schimpften oft auf den König des Landes und die hohen Steuern.
Kayla beschloss, die anderen noch schlafen zu lassen. Sie holte zwei Eimer aus der Küche und machte sich auf den Weg zu der nächstgelegen Quelle um Wasser zu holen. Wenn sie sich beeilte, würde sie in einer Stunde wieder da sein. Zwar stand auf dem Dorfplatz ein Brunnen, doch der war schon seit einigen Wochen ausgedörrt, wie die Kehle eines Verdurstenden.
Kayla machte sich auf den Weg. Fast das ganze Dorf schlief noch, aber unterwegs begegnete ihr Hadrian der Schmied. Hadrian grüßte sie freundlich.
"Wann wirst du endlich einsehen, dass Faramond nicht der Richtige für dich ist und mich heiraten?"
Kayla lachte. Diese Frage stellte Hadrian ihr jedes Mal, wenn sie ihm begegnete. Faramond war Kaylas Verlobter und sie hatte seit einiger Zeit das Gefühl, dass Hadrians Eifersucht auf ihn nicht gespielt war. Dennoch hatte er sich bereit erklärt, den kleinen Verlobungsring aus Kupfer zu schmieden, den Kayla an ihrer linken Hand trug. Er war weder besonders wertvoll noch ein Kunstwerk, Feinarbeit lag Hadrian nicht gerade, doch für Kayla hätte er mit keinem Schatz der Welt aufgewogen werden können.
Nach etwa einer halben Stunde erreichte Kayla die Quelle, die nach einigen Metern in einen schmalen Bach mündete. Sie füllte die Eimer auf und stellte sie dann ab, um sich zu waschen. Sie hielt ihren Kopf unter die sprudelnde Quelle und genoss das kalte Wasser.
Wieder einmal fragte sie sich, warum alle Leute, die sie kannte nach Reichtum strebten. Sie erinnerte sich an die Worte ihres Vaters: "Wenn du nicht hast, was du liebst, dann liebe, was du hast."
Kayla lebte immer nach diesem Motto und sie war sich sicher, dass ihr Vater es auch getan hätte, wenn er nicht vor vier Jahren, als sie gerade dreizehn geworden war, gestorben wäre.
Die Sonne war mittlerweile aufgegangen. Kayla machte sich auf den Rückweg. Mit den schweren Eimern würde sie länger brauchen und sie wollte ihre Mutter nicht länger als nötig warten lassen.
*
Sonnenaufgang! Sie hatten ihn kurz nach Sonnenaufgang geweckt nur damit er jetzt hier neben seinem Vater sitzen konnte, um den ganzen Tag Urteile über kichernde Grafentöchter zu fällen. Valerian, Prinz von Amorien, feierte heute seinen achtzehnten Geburtstag und sein Vater hatte als Gäste alles eingeladen, was weiblich, adelig und ledig war.
Valerian gähnte und versuchte, auf dem Thron eine halbwegs bequeme Position einzunehmen. Sein Vater warf ihm einen strafenden Blick zu.
"Bewahre Haltung, mein Sohn! Du sollst die Prinzessinnen doch nicht sofort wieder vergraulen. Mit etwas Glück wirst du dem Volk schon heute Abend auf dem Ball deine Zukünftige präsentieren können."
Valerian verdrehte die Augen.
Mit etwas Glück habe ich heute Abend endlich meine Ruhe, dachte er grummelnd.
Er hatte keine Lust zu heiraten. Wenn er Interesse an einer Frau zeigte, dann nur für eine Nacht und nicht für ein ganzes Leben. Er hatte keine Lust Verantwortungen zu übernehmen oder Verpflichtungen zu erfüllen. Er war jung und wollte das Leben genießen. Wozu eine Frau, wenn man alle haben konnte?
Die Fleischbeschauung, wie Valerian es nannte, begann. Nach und nach traten immer mehr Prinzessinnen, Grafentöchter und Komtessen vor den Thron und verbeugten sich, während sie von ihrer Dienerschaft vorgestellt wurden. Valerian hörte kaum zu und hatte für die meisten Mädchen noch nicht einmal ein müdes Lächeln übrig. Gelangweilt raunte er seinem Vater zu:
"Warum verheiratest du diese Grazien nicht einfach mit deinen Soldaten? Die sind doch alle noch ohne Anhang."
Sein Vater, offensichtlich auch nicht sonderlich begeistert, antwortete: "Die Soldaten sind nicht da. Es gibt da so ein kleines Dorf im Süden, das seine Steuern nicht zahlt."
Valerians Neugier war geweckt. "Was hast du vor?"
König Alaric grinste. "Ich werde dafür sorgen, dass es bald kein kleines Dorf mehr gibt, das seine Steuern nicht zahlt."
*
Kayla kam zu spät und das wusste sie. Sie hatte auf dem Heimweg getrödelt und war nun schon über eine Stunde unterwegs.
Als das Dorf in Sichtweite kam beschleunigte sie ihre Schritte, doch auf halber Strecke wurde sie wieder langsamer. Normalerweise herrschte am frühen Morgen ein lautstarker Betrieb, der einfach nicht zu überhören war. Doch jetzt war es beunruhigend still.
Kayla ging vorsichtig und besorgt näher. Sie musste einmal um das von einem Palisadenzaun umgebene Dorf herumlaufen, bevor sie das große Eingangstor erreichte. Es stand offen. Kayla trat hindurch - und blieb abrupt stehen. Der Anblick, der sich ihr bot trieb ihr die Tränen in die Augen. Auf einmal hatte sie keine Kraft mehr die Eimer zu halten. Sie rutschten ihr aus der Hand und kippten um. Das kalte Wasser umspülte ihre Füße, doch sie merkte es noch nicht mal. Ihr Blick galt einzig und allein dem, was vor ihr lag. Tote Menschen. Überall. Sie lagen verstreut auf dem Boden und starrten mit schreckensweit geöffneten Augen ins Nichts.
Kayla spürte, wie ihre Knie nachgaben.
"Mama", war das Erste, was ihr über die Lippen kam. Sie rannte los, rannte zu der kleinen Lehmhütte und stieß die Tür auf. Die einzigen zwei Räume waren durchwühlt und die karge Einrichtung lag zerstreut und zerstört auf dem Boden. Von ihrer Mutter und ihrer Schwester war keine Spur zu sehen. Kayla zitterte. Sie ging wieder nach draußen und wäre dabei beinahe um eine Leiche gestolpert.
Sie sah nach unten. Es war Hadrian. Er lag in einer Blutlache zusammengekrümmt auf dem Boden. Kayla schlug die Hand vor den Mund um sich nicht übergeben zu müssen. Alles um sie herum begann sich zu drehen. Sie zwang sich, sich zusammen zu reißen und begann, die leblosen Körper zu untersuchen.
Ich muss Überlebende finden, war ihr einziger Gedanke.
Doch je mehr sie suchte, desto mehr schwanden ihre Hoffnungen. All diese Menschen waren ihre Freunde gewesen und nachzusehen, ob sie noch lebten war eine grausame Aufgabe, doch Kayla musste einfach sicher sein. Sie war fast am Brunnen angelangt, als sie plötzlich am Knöchel gepackt wurde. Sie schrie erschrocken auf und sah dann nach unten.
"Faramond", rief sie, als sie erkannte, wer sie da fest hielt. Sie ließ sich neben dem jungen Mann auf die Knie fallen und beugte sich über ihn.
"Faramond Was ist passiert? Wo sind Mama und Isabeau?"
Faramond versuchte zu antworten, doch er brachte keinen Ton heraus. Kayla erkannte, dass er sehr schwer verletzt war. Seine Hand krampfte sich um ihre und er zitterte; er stand unter Schock. Nach einer Ewigkeit, wie es Kayla erschien, brachte er schließlich hervor: "Ritter des Königs...haben alle Männer getötet und..."
Er brach ab. Kayla sah sich um. Erst jetzt fiel ihr auf, dass unter den Toten tatsächlich nur Männer waren.
"Was ist mit den anderen passiert?", fragte sie eindringlich. Für einen Moment schien es, als hätte Faramond sie gar nicht gehört, doch dann antwortete er so leise, dass Kayla sich dicht über ihn beugen musste, um ihn zu verstehen: "Sie haben sie mitgenommen...weiß nicht wohin...Kayla?" Kayla drückte deine Hand. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten.
"Ja, ich bin da! Keine Sorge, es wird alles wieder gut."
Sie war selbst nicht überzeugt von ihren Worten, doch etwas Anderes fiel ihr nicht ein.
"Kayla?" Faramonds Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und Kayla beugte sich noch näher über ihn um ihn zu verstehen. Faramond küsste sie. "Ich liebe dich", flüsterte er mühsam. Kayla blinzelte die Tränen weg, als sie spürte, dass der Druck seiner Hand nachließ. Sie strich ihm die Haare aus dem Gesicht und wich selbst dann nicht von seiner Seite, als bereits jedes Lebenszeichen erloschen war.
*
Zunicken, lächeln, wieder wegschicken. Und das schon den ganzen Tag. Für Valerian war dies der schlimmste Tag seines Lebens.
Seit Stunden saß er nun schon auf dem Thron um jedes heiratswillige Mädchen abzuweisen. Nur zum Mittagessen durfte er eine Pause machen. Die Diener gaben sich größte Mühe um Valerian bei Laune zu halten, doch die sank zusehends. Valerian wurde immer aggressiver und jeder wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er wieder ausrasten würde.
Seine Wutausbrüche waren im ganzen Schloss bekannt und gefürchtet. Valerian wippte unruhig mit dem Fuß auf und ab, als plötzlich etwas seine Aufmerksamkeit erregte.
Ein Mädchen betrat den Thronsaal. Sie stöckelte nicht elegant herein und verbeugte sich, wie all die anderen sondern stapfte wütend in die Mitte des Saals und sah den König aus blitzenden Augen an. Valerian hob die Augenbrauen.
Sollte das etwa eine Prinzessin sein? Er fragte sich, wie sie wohl hereingekommen war. Mädchen wie sie bezeichnete er normalerweise als Fußvolk. Er betrachtete sie, als hätte sie etwas Abstoßendes an sich. Eine Schönheit war sie wirklich nicht. Sie steckte in einem schmutzigen, zerrissenen Leinenkleid, dessen Saum knapp über dem Knie endete. Eine Länge, die im ganzen Land verpönt war. Der Rest von ihr war nicht minder schmutzig. Die langen, hellbraunen Haare hingen ihr verfilzt ins staubige Gesicht, auf dem man deutlich Tränenspuren erkennen konnte. Die nackten Beine und Arme waren sonnengebräunt und die Füße hatten einen noch dunkleren Farbton, was Valerian nicht wunderte. Dieses Mädchen hatte in ihrem Leben bestimmt noch nie Schuhe oder Seife zu Gesicht bekommen. In seinen Augen war sie einfach nur abstoßend.
Zwei Palastwachen stürmten herein und packten das Mädchen an den Armen.
"Verzeiht Hoheit", sagte einer von ihnen, "sie wollte sich nicht aufhalten lassen."
Der König schmunzelte. "Wie kommt es, dass zwei ausgebildete Palastwachen, wie ihr es seid, nicht in der Lage sind eine einfache Bäuerin davon abzuhalten in das Gebäude zu kommen, dass ihr bewachen sollt?"
Die Palastwachen sahen sich verlegen an und schienen ernsthaft über eine Antwort nachzudenken. Der König erhob sich. "Meine Hochachtung Bauernmagd, du hast dich sehr geschickt angestellt und als Lohn für deine Mühen werde ich mir anhören, was du zu sagen hast."
Valerian merkte, dass er so herablassend wie möglich sprach, um nicht allzu großzügig zu klingen. Das Mädchen sah den Monarchen an und würdigte Valerian keines Blickes.
Valerian bemerkte, dass sie zitterte. Doch nicht vor Angst oder Erfurcht, wie er zuerst vermutet hatte. Bei näherem Hinsehen bemerkte er, dass es Wut war. Das Mädchen begann zu sprechen. "Mein Name ist Kayla", sagte sie, "Ich komme aus einem Dorf im Süden, in das Ihr Eure Männer geschickt habt, um es zu vernichten! Wo sind meine Mutter und meine Schwester und wer gibt Euch das Recht dazu, ganze Familien auszulöschen?"
Der König lachte. "Ich mir selbst! Schließlich bin ich der Herrscher dieses Landes und verabschiede die Gesetze. Und mein neuestes Gesetz lautet: Alle Bürger, die ihre Steuern nicht zahlen, werden unverzüglich hart bestraft, wobei die härteste Strafe der Tod ist."
Valerian beobachtete Kayla. Sie rang um Fassung und bemühte sich verzweifelt die Tränen zurückzuhalten. Valerian grinste abfällig. Die Probleme des niederen Volks hatten ihn noch nie interessiert. Er machte eine Handbewegung. "Schafft sie hier raus!"
Die Palastwachen reagierten sofort und zerrten die sich sträubende Kayla aus dem Saal.
Nach diesem Zwischenfall begann Valerian sich wieder von neuem zu langweilen.
Nach zwei Stunden hatte sein Vater endlich ein Einsehen und gönnte ihm eine Pause. Valerian, der wusste, dass er sich danach wieder den Adelstöchtern widmen musste schlich in die Stallungen und wies einen Jungen, der ihm über den Weg lief, an, sein Pferd Soltan zu satteln. Der Junge sah ihn mit großen Augen an.
"Ich kann nicht. Ich muss nach Hause, weil..."
Valerian unterbrach ihn. "Du tust, was ich dir sage! Nach Hause kannst du, wenn du hier fertig bist." Der Junge protestierte, doch es half nichts.
Nachdem er Soltan gesattelt hatte, riss Valerian ihm die Zügel aus der Hand und führte das Pferd aus dem Stall. Aus der Ferne sah er einen seinen Diener auf sich zukommen. Valerian dachte einen Augenblick über dessen Namen nach. Adam, Aron? Keines von beiden entschied er.
"Hoheit, Euer Vater erwartet Euch!" Valerian ignorierte ihn, stieg auf sein Pferd und galoppierte davon. Er wusste nicht genau wohin, Hauptsache nur weg von hier und weg von den Verpflichtungen, die dafür sorgten, dass sein unbeschwertes Leben gar nicht mehr so unbeschwert war.
Plötzlich fiel ihm der Name des Dieners ein. Ardan. Ein dummer Tölpel mit der Statur und der geistigen Auffassungsgabe einer Frau. Valerians Vater hatte ihn dazu beordert, den widerspenstigen Prinzen an seine Pflichten zu erinnern. Eine männliche Gouvernante.
Valerian lächelte bei dem Gedanken, was Ardan wohl widerfahren würde, wenn er dem Herrscher beichtete, dass sein Sohn soeben die Flucht ergriffen hatte.