Eckert Hebel

Der Termin

Irgendwie war immer etwas wichtiges dazwischen gekommen. Die Arbeit fraß mich auch immer irgendwie auf, oder der Abwasch musste gemacht werden, der Müll musste runter. Bügeln, was ich eigentlich eher selten tat, war auch wichtiger, als einen Termin zu machen. Die Sache war klar. Ich hatte Angst. Immer schon fand ich es deshalb auch total wichtig, dass das Ambiente bei einem Zahnarzt stimmt, das die am Leid Beteiligten wenigstens liebevoll miteinander umgingen. Mittlerweile war es August geworden, ich hatte frei, und das Loch im Weihnachtszahn musste endlich geschlossen werden. Ich nannte ihn Weihnachtszahn, da mir das Malheur am Heiligabend beim Verzehr einiger Weichlakritzen passiert war.

Wie stolz ich noch war letztes Jahr. Und jedem hatte ich erzählt: "Du, ich bin jetzt kariesfrei." Dann erwischte es den Weihnachtszahn. Naja, kariesfrei war ich ja trotzdem noch. Da bräuchte ich meiner Meinung nach eigentlich auch keinen Termin zu machen. Andere leben doch auch ganz gut mit einem Loch, dachte ich. Und Löcher sind doch auch was total natürliches, was menschliches, überall in der Natur und in Menschen tun sich schwarze Löcher auf. Trotzdem, der Weihnachtszahn musste nun endlich gemacht werden. Darum hatte ich Dr. Silberstein aus dem Branchenbuch heraus gesucht und den Termin für Montagmorgen gemacht.

Ich dachte zurück an Herrn Dr. Yildirim, einen jungen, aufstrebenden Türken, der, wie ich später dachte, wohl eher einmal Architekt hatte werden wollen. Die atemberaubende Brückenkonstruktion, die er mir installierte, war zweifellos ein architektonisches Meisterwerk, welches seines Gleichen suchte.

Wenn ich ab und zu abends mit meiner Zunge darauf spazieren glitt, war ich immer wieder fasziniert von den vielen verwinkelten Bögen, die er berücksichtigt hatte. Jeder hat seinen eigenen Stil, dachte ich. Es sind halt alles irgendwie Künstler. Manchmal parkte ich die Zunge auf der Brückenmitte nahe eines Pfeilers und ließ sie dann die Aussicht auf den Gaumen genießen. Ich ließ sie fortan sich entspannt niederlegen und lauschte dem leichten Windhauch, den meine Kehle fähig war zu formen. Ich komplettierte diese poetischen Momente in der Regel in der Form, dass ich meine Zunge, wie sie so entspannt da lag, mit Hilfe eines leichten Vibratos meiner Stimmbänder bezirzte, fast gar wie bei Odysseus.

Dabei dachte ich manchmal auch an die hübsche junge Frau Dr. Jungbluth, die mir von meiner Ex-Freundin einmal empfohlen wurde. Sie, also Frau Doktor, sah aus wie ein Fotomodell. Ich konnte mich immer kaum an ihr satt sehen. Die Zähne, die sie mir machte, hielten zwar leider alle nicht sehr lange, aber immerhin war die Frau ein so hübscher Anblick, und das auch noch so direkt vor meinen Augen. Kann man da böse sein ?

Dann dachte ich an Frau Dr. Rosenschön bei mir um die Ecke. Da ist der schmerzliche Weg immerhin nicht so weit, dachte ich. Sie war gerade dabei, einen meiner Zähne anzubohren, als plötzlich das Telefon klingelte und sie einen Anruf, vermutlich von ihrem Freund, bekam. In der einen Hand den Hörer, in der anderen den Bohrer, wurde ich Zeuge eines sehr liebevollen Telefongespräches:
"Wie viele hast du denn noch, Schatzi ?"
"Ach, Puschel, drei oder vier, glaub ich. Hast du schon den Tisch beim Italiener bestellt ?"
"Natürlich, mach aber schnell, ich habe Sehnsucht, mein Purzel."
"Ich freu mich jetzt schon auf dich, Puschel."
"Ich auch, mein Hase."
Am Ende war mir klar. Das musste Liebe sein.
Der Zahn hielt dann leider nur eine Woche. Aber was ist schon ein schnöder Zahn verglichen mit der großen Liebe.

Am Montagmorgen klingelte ich bei Dr. Silberstein und trat in sein Wartezimmer. Links neben der Eingangstür kauerte bereits eine verängstigte Frau in der Ecke, die offensichtlich eine Gelegenheit suchte zu fliehen. Im Hintergrund lief die Nussknackersuite. Just als ich mich auf einen Stuhl setzte, vernahm ich einen kurzen Schrei.

Was der arme Kerl wohl gerade durchmacht, beruhigte ich mich. So schlimm wird’s bei mir bestimmt nicht werden.

Ich schaute an die gegenüberliegende Wand und entdeckte ein paar rote Flecken, die wie Blutspritzer aussahen. Anfangs skeptisch, realisierte ich dann jedoch, dass es sich nur um ein abstraktes Gemälde handelte. Diese Zahnärzte, schmunzelte ich. Schelme sind sie. Ich schaute auf den Tisch, in der Hoffnung etwas Ablenkendes zum Lesen zu finden. Zwischen den Magazinen lag ein Buch mit der Aufschrift "Sternstunden der Weltliteratur".

Ich fing an etwas zu lesen:

"Die gelbliche Haut verdeckte nur notdürftig das Spiel der Muskeln und das Pulsieren der Adern. Das Haupthaar war freilich von schimmernder Schwärze und wallte überreich herab. Auch die Zähne erglänzten so weiß, wie die Perlen. Doch standen solch Vortrefflichkeiten im schaurigsten Kontraste zu den wässrigen Augen, welche nahezu von derselben Farbe schienen wie die schmutzig weißen Höhlen, darin sie gebettet waren, sowie zu dem runzeligen Antlitz und den schwarzen, aller Modellierung entbehrenden Lippen."

Plötzlich stand Dr. Silberstein wissend lächelnd vor mir, schaute mich aus großen schwarzen Augen an. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, der merkwürdig gelb aussah. Auf einmal fiel mir ein Auge heraus und aus meinem Mund floss es schleimig.

Mit einem Schrei schreckte ich hoch aus meinem Bett, rief noch am selben Morgen an, den Termin um weitere zwei Wochen zu verschieben.

In meinen Kurzgeschichten, die in Friedrichshain-Kreuzberg angesiedelt sind, erspürt mein Protagonist Peter Spätkauf die Hauptstadtstimmung und bewegt sich dabei von einer peinlichen Situation in die nächste. Mutig stellt er sich den Herausforderungen, die da kommen und agiert dabei naiv bis dämlich. Am Ende lässt er sich jedoch nie ganz aus der Bahn werfen.Eckert Hebel, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Über den Tag hinaus zu schauen, heißt für mich, neben dem Alltag, dem normalen Alltäglichen hinaus, Zeit zu finden, um das notwendige Leben mit Gefühlen, Träumen, Hoffnungen, Sehnsüchten, Lieben, das mit Lachen und Lächeln zu beobachten und zu beschreiben. Der Mensch braucht nicht nur Brot allein, er kann ohne seine Träume, Gefühle nicht existieren. Er muss aus Freude und aus Leid weinen können, aber auch aus vollem Herzen lachen können. Jeder sollte neben dem Zwang zur Sicherung der Existenz auch das Recht haben auf romantische Momente in seinem Leben.

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