Dieter Hartkopf

Der Lauschangriff

Der Lauschangriff
 
An einem Weihnachtsabend Anfang der sechziger Jahre hatte nach langem Warten endlich das Glöckchen geklingelt, um meiner Schwester und mir zu bedeuten, dass wir nun das Wohnzimmer betreten durften, in dem uns der festlich geschmückte Tannenbaum mit seinen bunten Lichtern entgegen strahlte.
 
Während wir artig unsere Weihnachtslieder sangen, huschten meine Blicke in aufgeregter Erwartung neugierig umher, um herauszufinden, ob mein sehnlichster Weihnachtswunsch in Erfüllung gegangen war. Meine Mutter hatte nämlich, als sie meinen Wunschzettel gelesen hatte, die trockene Bemerkung gemacht, dass sie gar nicht verstehen könne, was ein Zehnjähriger mit so einem „Ding“ überhaupt anfangen wolle. Und somit hatte ich die ganze Sache eigentlich schon abgehakt.
 
Doch während der zweiten Strophe von „Leise rieselt der Schnee“ hatte ich es entdeckt: Das „Ding“, wie meine Mutter es bezeichnet hatte, war wegen seiner Größe nicht in Geschenkpapier eingepackt worden und lugte, kaum zu erkennen, zwischen den untersten Zweigen des Tannenbaumes hervor.
 
Mein Herz jubilierte, als ich es schließlich feierlich überreicht bekam: Ein funkelnagelneues, überdimensionales Tonbandgerät, das ich von nun an mein Eigen nennen durfte. Die beiden riesigen Spulen des „Dings“ spiegelten die Kerzen des Weihnachtsbaumes wider und ein Mikrophon war zu meiner überschwänglichen Begeisterung ebenfalls vorhanden.
 
Zunächst ging auch alles gut. Aber nachdem ich die Aufnahme des gemeinsam gesungenen Weihnachtsliedes „Stille Nacht, heilige Nacht“ zum wiederholten Mal hatte abbrechen müssen, weil meine Schwester gehustet hatte, wurde ich ärgerlich, zumal ich mir sicher war, dass sie ihre Hustenanfälle nur vorgetäuscht hatte, um mich zu ärgern!
 
Schließlich trällerte ich, von allen im Stich gelassen, ganz alleine in das Mikrophon, und es wäre mit Sicherheit auch eine vortreffliche Aufnahme geworden, wenn die anderen etwas mehr Rücksicht genommen und sich nicht fortwährend laut unterhalten hätten. Nachdem ich dann aufgrund der miserablen Bedingungen, die mit Sicherheit von keinem Künstler auf der Welt akzeptiert worden wären, zunächst höflich, dann aber in bestimmtem Tonfall um absolute Ruhe gebeten hatte, fiel meinen Eltern plötzlich ein, dass es an der Zeit sei, den gemütlichen Abend zu beenden und ins Bett zu gehen. Widerwillig schlich ich von dannen.
 
Dafür gingen sie dann am nächsten Nachmittag sehr behutsam mit mir um, indem sie nur auf Zehenspitzen durch die Wohnung schlichen, während ich mit dem Mikrophon vor dem Fernseher hockte und Weihnachtslieder aufnahm. Doch ein Erfolgserlebnis war mir auch diesmal nicht gegönnt, denn plötzlich schrillte die Wohnungsklingel und laute Rufe des Willkommens machten meine schöne Aufnahme zunichte. Diese Tatsache an sich war schon schlimm genug, aber dass ausgerechnet Tante Gretel, die jetzt ein paar Tage bei uns bleiben würde, das Verhängnis ausgelöst hatte, machte mich rasend!
 
Tante Gretel war etwa fünfundsiebzig Jahre alt, sehr klein, überaus intelligent und konnte die Art von Kindern meines Schlages nicht ausstehen. Ob es daran lag, dass ich ihr bei ihrem letzten Besuch die Brillengläser in einer nächtlichen Eingebung mit Margarine eingeschmiert hatte, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls war sie mir gegenüber stets zurückhaltend und reserviert. Und das musste bestraft werden, zumal mir die Sache mit den eingeschmierten Brillengläsern erheblichen Ärger eingebracht hatte!
 
Einen entsprechenden Plan hatte ich schnell geschmiedet, und voller Vorfreude konnte ich es kaum erwarten, ihn in die Tat umzusetzen.
 
In der Nacht, als alle schliefen, schleppte ich mein Tonbandgerät auf den Flur und schloss es dort an einer Steckdose an. Diese befand sich zu meinem Glück genau neben dem Zimmer, in dem Tante Gretel während ihres Besuches untergebracht war.
 
Vorsichtig öffnete ich nun die Tür einen Spalt breit und hielt das Mikrophon in das Innere von Tante Gretels Schlafgemach. Ich musste mich arg zusammen nehmen, damit ich keinen Lachkrampf bekam, denn Tante Gretels Schnarchen übertraf all meine Erwartungen. Nachdem ich dann ungefähr fünf Minuten lang Tante Gretels Schnarchexzesse für alle Ewigkeiten auf Band festgehalten hatte, schlich ich zurück in mein Zimmer und legte mich glücklich schlafen.
 
Am zweiten Weihnachtsfeiertag saßen alle nach dem Kaffeetrinken gemütlich im Wohnzimmer beisammen. Da schlug ich vor, dass wir gemeinsam mein neu erfundenes Spiel spielen könnten, und meine neugierige Schwester wollte dann natürlich auch gleich wissen, was es damit auf sich habe.
 
Ich tat sehr geheimnisvoll und nachdem alle eingewilligt hatten, mitzuspielen (von Tante Gretel war nur ein trockenes „ähä“ zu vernehmen gewesen), schleppte ich mein Tonband herbei und erklärte die Spielregeln:
 
„Ich werde euch jetzt verschiedene Geräusche vorspielen, die ich selbst aufgenommen habe, und ihr müsst erraten, was sie im Einzelnen darstellen. Wer es zuerst weiß, bekommt einen Punkt und wer am Schluss die meisten Punkte hat, hat gewonnen – so einfach ist das!“
 
Und dann ging es los: Das Gebrumm meines Teddybären wurde sofort von meiner Mutter erkannt und meine Schwester punktete mit „Kesselpfeifen“ und „Schuhe bürsten“. Nach einiger Zeit legte mein Vater mit „Staubsaugergeräusch“ nach (obwohl er meines Wissens noch nie ein Gerät dieser Bauart in der Hand gehabt hatte), während meine Schwester freudestrahlend gleich im Anschluss ihren nächsten Punkt ergatterte, indem sie unsere Klospülung treffsicher erkannte. Lediglich Tante Gretel hatte noch keinen Punkt eingeheimst, und immer, wenn ich annahm, sie wolle etwas sagen, bekam ich lediglich ihr berühmtes „Ähä“ zu hören.
 
Jetzt war endlich meine große Stunde gekommen!
 
Ich drehte den Lautstärkenregler meines Tonbandgerätes voll auf, drückte dann auf die Wiedergabetaste und augenblicklich explodierte Tante Gretels Schnarchen mit einer derartigen Intensität in unserem Wohnzimmer, dass das arme Tantchen sich so erschreckte, dass sie fast vom Sessel geplumpst wäre. Mit weit aufgerissenen Augen gab sie nur ein verzweifeltes „Ähä“ von sich, das aber in dem unermesslichen Geräuschpegel fast untergegangen wäre.
 
Die Aufnahme an sich dauerte ungefähr fünf Minuten, die ich auch voll auskosten wollte, aber schon nach wenigen Sekunden hatte mein Vater die Stopptaste des Tonbandgerätes gedrückt und stellte mich zornig zur Rede.
 
Ich hatte den Ernst der Lage wohl nicht ganz erkannt, denn prustend vor Lachen erklärte ich nun allen, wie die Aufnahme in der letzten Nacht entstanden war.
 
Das ging natürlich gewaltig in die Hose! Während meine Schwester mühsam ihr aufkeimendes Lachen unterdrückte und Tante Gretel kreidebleich ein empörtes „Ähä“ nach dem anderen ausstieß, wurde ich von meinen Eltern gehörig in die Mangel genommen. Begriffe wie Enttäuschung, Unverschämtheit, Anstand, Respekt und Menschenwürde flogen mir dermaßen um die Ohren, dass mir Hören und Sehen verging!
 
Die Bestrafung folgte natürlich auf dem Fuß: Ich konnte heulen, jammern und klagen so viel ich wollte, „das Ding“ wurde mir unweigerlich für eine ganze Woche entzogen! Zu meinem Leidwesen musste ich mich dann auch noch bei Tante Gretel entschuldigen, die meine Bemühungen – wie nicht anders zu erwarten - mit einem beleidigten, schnippischen „Ähä“ zur Kenntnis nahm.
 
So hatte also mein wunderschönes Weihnachtsgeschenk eine beachtliche familiäre Krise ausgelöst und mein Verhältnis zu Tante Gretel weiter belastet. Heute muss ich natürlich zugeben, dass ich Tante Gretels Reaktion und auch die meiner Eltern sehr gut nachvollziehen kann, obwohl ein bisschen mehr Humor der Sache durchaus gut zu Gesicht gestanden hätte!
 
Trotz des geglückten Lauschangriffs auf Tante Gretel habe ich später nicht bei irgendeinem Geheimdienst angeheuert. Stattdessen bin ich Finanzbeamter geworden, wobei manche Leute sicherlich die Auffassung vertreten, dass Geheimagenten und Finanzbeamte sich gar nicht so wesentlich voneinander unterscheiden!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.09.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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