In
einer Welt ohne Tiere...
„Scheint
das Grab dir tief und dumpf sein Druck, à la vot, so nimm noch
einen Schluck und noch einen hinterher und noch zweie, dreie mehr,
dann stirbst du nicht so schwer.“, dröhnte es aus dreißig,
vierzig Kehlen, dass die Petroleumlampen an der massiven Gewölbedecke
klirrten. Um die groben Tische hatten sich jene gesammelt, die die
vom Tabaksqualm getrübte, feuchtheiße Atmosphäre der
Schenke jener schneidenden Kälte draußen vorzogen. Auch
der säuerlich-beissende Geruch änderte daran nichts.
Hauptsächlich waren es Ratten, die sich auf den Bänken und
Hockern im Saal und an der Bar drängten, hier und da war jedoch
auch der ein oder andere Eber, Waschbär oder Marder zu sehen. In
einer Ecke hatten sich sogar drei alte, schmierige Braunbären
eingefunden. Die allgemeine Stimmung war gut, schließlich war
das Bier, das in einfachen Holzkrügen über die Tische
wanderte für jeden erschwinglich.
Die
Gestalt jedoch die am Ende der Bar, direkt neben dem Ofen kauerte und
dennoch zu frieren schien wurde, auch wenn sie sich offensichtlich
nicht davor schämte mit allen anderen um die Wette zu grölen,
immer wieder mit argwöhnischen Blicken bedacht. Zum Ersten war
der Mann hier fremd. Keiner kannte ihn aus den Fabriken und niemand
konnte sich vorstellen, dass er hier wohnte. Zweitens waren die
abgewetzten, grauen Lumpen, in die er sich hüllte eindeutig eine
Uniform. Genau konnte man es nicht mehr erkennen, aber mit etwas
Fantasie waren rote Aufschläge zu sehen, die auf die
Inländischen Stabilitätsstreitkräfte hindeuteten –
die Bluthunde der Oberschicht. Natürlich musste das noch gar
nichts heißen. Alte Uniformen waren enorm billige
Kleidungsstücke, so dass man oft Leute herumlaufen sah, die noch
nie auch nur eine Waffe berührt hatten, sich aber nichts anderes
leisten konnten. Allerdings galt es doch als üblich in so einem
Fall die Aufschläge abzureissen oder zu schwärzen.
Drittens
war der Unbekannte ein Fleischfresser. Eine hundeartige Schnauze,
jedoch gedrungener als bei jeder Art dieser Familie, mittelgroße,
abgerundete Ohren und das typische ocker und braun gefleckte,
struppige Fell. Eine Hyäne. Eine der niedrigeren Kasten dieser
Schicht, aber trotz alledem ein offizieller Fleischfresser.
Selbstverständlich konnte man hier am Stadtrand oft solche
sehen, schließlich gab es festen Grenzen zwischen den Kasten
fast nur auf dem Papier... Aber ein Fremder, ein Soldat? Da war es
besser auf der Hut zu sein.
Wahrscheinlich
hätte es nicht lange gedauert, bis man den Neuankömmling
vor die Tür gezerrt hätte um ihm dort zu zeigen, wie man
mit Leuten wie ihm normalerweise umsprang. Es war jedoch weniger die
Tatsache, dass ein Gewehr neben dem vermeintlichen Soldaten am Tresen
lehnte, als jene Beobachtung, dass er auch sein viertes Bier nicht
sofort bezahlt hatte, die das Publikum zögern ließ.
Der
Mann nahm einen weiteren tiefen Schluck aus dem Krug und knallte ihn
dann mit der Öffnung nach unten auf die Bar. Seine Finger, die
nur noch mit jämmerlichen Büscheln Fell bewachsen waren,
trommelten vergnügt auf das Gefäß. Ein breites
Grinsen, zu dem in diesem Ausmaß nur eine Hyäne fähig
sein konnte, auf dem noch relativ jugendlichen, von unzähligen
kleiner Kratznarben gezeichnetem Gesicht, winkte er den Wirt zu sich
heran.
„Was
hilft's, wenn du vor Wut ausspuckst, der Tod ist keiner Münze
Feil. Von jedem Schlückchen das du schluckst, trinkt schon der
Wurm sein Teil“,
der Gesang derer, die an der Theke saßen war merklich leiser
geworden, denn jeder wollte hören, ob der Fremde nicht ein paar
interessante Worte mit dem Wirt zu wechseln hatte. „Ob
niedres Pack ob hohe Herr'n, am Ende sind wir Brüder doch. Es
leuchtet uns der Abendstern ins gleiche finstre Loch.“
Jener, ein rundlicher,
bereits ergrauter Marder, hatte ebenfalls ein gutmütiges Lächeln
aufgesetzt und beugte sich zu dem Gast herüber, während er
versuchte die ausgebrochene Holzdaube eines Kruges in ihren Eisenring
zurückzuschieben.
„Was gibt’s Thaler?“,
brüllte er über den Lärm hinweg. „Noch eins?“
„Nein.“, antwortete
der Fremde. „Ich möcht' eigentlich noch steh'n können.
Das Zeug ist zwar wässrig, aber irgendwie stark.“
Wieder wurde es eine Idee
leiser. Die Leute an der Theke hatten aufgehört zu singen und
starrten jetzt gespannt auf die Szene. Im restlichen Teil der Kneipe
hatte man natürlich nichts mitbekommen. Für so eine
Bemerkung bekam man vom alten Ludwig normalerweise zumindest einen
Biss und musste hinnehmen, dass man ihm ab und zu ins Bier spuckte.
Aber der Alte lachte nur
auf. „Wässrig? Vergisses! Und vertragen hast du auch nie was,
schon früher nicht.“
„Mensch, da war ich
zwölf und meine Mutter hat dir damals 'nen Zahn ausgeschlagen,
weil du mir Bier gegeben hast.“, brummte Thaler, der Soldat, etwas
peinlich berührt.
Die Gäste verloren
sofort das Interesse. Kindergeschichten, so was gab es hier öfter.
Ja, viele der Gäste hatten selbst noch beim Wirt lesen gelernt,
bevor er seine Schule schließen hatte müssen. Aber niemand
der Anwesenden konnte sich an eine Hyäne erinnern.
„Bwaah!“ Ludwig stieß
einen abfälligen Schrei aus. „Hör' mir bloß mit der
alten Hexe auf. Sag, willst du was essen?“
Thaler winkte ab. „Ich
will dir nicht so zur Last fallen. Ich such' mir später draußen
was.“
„So ein Quatsch!“,
donnerte der Wirt. „Zumindest ein paar Suppenknochen, die hier 'eh
keiner beißen kann, wirst du ja wohl annehmen.“ Damit
verschwand er durch die Hintertür.
Der junge Thaler schob
abwesend den umgedrehten Krug hin und her. Er hätte doch noch
ein weiteres Bier nehmen sollen. Wann bot man ihm so etwas schon
einmal an, ohne etwas dafür zu verlangen? Zur Hölle, er war
eine Hyäne, er sollte sehen, was er bekam. Aber woher sollte er
schon das richtige Verhalten seiner Art lernen sollen? Blödsinnige
archaische Hirngespinste, so etwas wie artgerechtes Verhalten gab es
nicht.
Ludwig kam zurück,
in den Pfoten hielt er eine schwere, irdene Schüssel, die mit
großen Knochen gefüllt war. Er ließ sie scheppernd
vor Thaler auf den Tisch fallen.
„Lass's dir schmecken,
Edgar. Die Dinger sind zwar schon ausgekocht, aber es dürfte
noch 'ne Menge Mark drin sein. Ich muss mich erstmal um die Gäste
kümmern.“
„Danke“, brummte der
Soldat.
Er schob sich das Ende
eines schmierigen Beinknochens zwischen die Zähne, biss es ohne
sichtbare Mühe ab, kaute, saugte genüsslich das Innere
heraus und begann dann auch den Rest der festen Hülle zu
verschlingen. Er hatte kein Problem damit so etwas zu Essen. Es war
ihm sogar lieber als das seltsame, oft noch warme, rohe Fleisch, dass
man ihm auf dem Schlachtfeld vorgesetzt hatte. Natürlich hatten
diese Knochen auch keinen viel anderen Ursprung, aber er zog es vor
etwas weiter von der Materie weg zu sein. Irgendein Philosoph hatte
einmal behauptet, dass man verhungern würde, wenn man einmal zu
genau über das Essen nachdachte. Woran dieser Mann gestorben
war, konnte er aber nicht sagen. In diesem Punkt waren die
Pflanzenfresser dem Rest der Bevölkerung überlegen, aber
tauschen hätte doch niemand mit ihnen wollen. Ihr einziges Recht
wurde durch Fangquoten abgesteckt.
Nun, eigentlich war es
für die Allesfresser genauso, aber nur wenige von ihnen eigneten
sich für die gehobenen Schichten überhaupt als Beute, so
dass sie kaum befürchten mussten irgendwie verarbeitet zu
werden. Jedenfalls nicht direkt. Indirekt hieß es in den
Vorstädten oft fressen oder gefressen werden, dabei blieb einem
jedoch immer eine faire Chance und wenn es nur jene war, sich
absichtlich mit Hautkrankheiten anzustecken.
„Sag mal, was is'
eigentlich aus ihr geworden?“, fragte Tahler, lautstark kauend.
„Hm?“ Ludwig schaute
irritiert von seinem Zapfhahn auf. „Aus wem? Deiner Mutter?“
„Ja.“
„Du, da hab ich keine
Ahnung.“ Der Wirt streckte den Rücken durch und kratzte sich
am Hinterkopf. „Sie ist weggegangen, bevor ich das alte Viertel
verlassen hab'. Vielleicht hat sie sich einen neuen Mann gesucht.
Vielleicht ist sie tot. Vielleicht hat sie Karriere gemacht und eine
Genehmigung für die Innenstadt bekommen. Willst du sie suchen?“
„Ich glaub' nicht, dass
es sich lohnt.“, meinte der junge Mann. „Wegen ihr bin ich
weggegangen, also was soll's schon? Wahrscheinlich würd' sie
mich halb tot schlagen.“
„Schon möglich.
Was hast du jetzt eigentlich vor? Bist du raus aus der Stabilität?“,
fragte der Barmann.
„Hmhm.“ Thaler
nickte. „Entlassen. Ich weiß' nicht recht, was ich jetzt
soll. Ich hab' vielleicht gedacht, du...“
Ludwig streckte im
abwehrend beide Handflächen entgegen. „Kannst du vergessen.
Hier durchfüttern kann ich dich nicht. Ich hab auch keine Arbeit
übrig.“
Edgar ließ den
Blick auf den Tisch sinken. „Hab' ich fast gedacht.“, murmelte
er. „Hast du vielleicht 'ne Ahnung, was ich sonst machen kann?“
„Arbeit wächst
nicht auf Bäumen.“, sinnierte der Alte. „Hier in den
Fabriken wird dich Keiner einstellen, schon allein wegen deiner
Herkunft. Und eine Ausbildung hast du ja auch nicht.“
„Doch!“, warf der
Jüngere triumphierend ein. „Drei Jahre hat man mich fürs
Chemische Sicherungskorps gedrillt, aber mit dem verdammten Aufstand
hat man dann doch eher Infanterie gebraucht.“
„Also keine Ausbildung,
sag ich doch.“, folgerte der Wirt ohne die vorwurfsvollen Blicke
des ehemaligen Soldaten zu beachten. „Du könntest es bei 'nem
Sicherheitsdienst versuchen. Vielleicht beim Kühldepot, die
haben dauernd Bedarf... allerdings würd' ich das lassen, wenn
ich du wäre. Das is' zur Zeit richtig gefährlich.“
„Das wär' ja
nichts neues. Eigentlich hab ich gehofft, dass ich was harmloses
krieg', aber vielleicht komm ich so in was besseres rein.“
Einen kurzen Moment lang
sah der Schankwirt betrübt aus, seine Gesichtszüge wurden
aber sofort wieder. „Was besseres bekommst du so auf jeden Fall.
Na, dann versuch's, wenn du dich umbringen willst. Nochmal.“, rief
er ermunternd und klopfte seinem Gegenüber so wuchtig auf die
Schulter, dass diesem ein Knochen aus dem Maul fiel. „Für
heute kannst du in der Bierkammer schlafen, falls dich der Lärm
nicht stört. Ich komme heute sowieso nicht von der Bar weg, du
kannst also meinen Strohsack haben.“
Das Gespräch verlief
noch einige Zeit, bruchstückhaft und über den Lärm der
Kneipe hinweg. Man sprach von der alten Zeit, die keine acht Jahre
her war, von der Nahrungsausgabe in der Ludwig damals gearbeitet
hatte, von den stabileren politischen Verhältnissen und von
allem anderen ebenso.
„Hast du meinen Vater
mal wieder gesehen, Ludwig?“, frage Thaler leise.
„Wo denkst du denn
hin?“, tadelte der Wirt. „Der wird nicht wieder auftauchen,
nachdem er bei deiner Mutter keine Chance mehr hat. Was würdest
du denn machen?“
„Hmm, das Selbe
wahrscheinlich.“
„Naja, jetzt bist du
aus dem Dienst raus und kannst selbst etwas schnuppern.“
Thaler grinste, bevor
sich seine Miene wieder verfinsterte. „Gibt es hier denn Hyänen?“
„Eher weniger, aber du
wirst ja wohl nicht in dem Viertel hier bleiben.“, empörte
sich der alte Mentor. „Wenn du ein wenig Geld verdient hast, lassen
die dich sicher in die Innenstadt. Als Fleischfresser gehörst du
da doch hin.“
„Aber ich war da bei
meiner Ausbildung, es hat mir überhaupt nicht gefallen.“, warf
Thaler ein.
„Aber in einer anderen
Stadt, oder?“, stellte Ludwig die Gegenfrage. „Städte sind
nicht die gleichen, keine ist genau so wie die andere. Das ist doch
auch bei uns so. Fleischfresser ist nicht gleich Fleischfresser, es
gibt da löbliche Ausnahmen. Aber bei uns Allesfressern ist das
am deutlichsten: Einige meiner Gäste sind Verbrecher, einige
Taugenichtse, wenige Halsabschneider, ein oder zwei Strauchdiebe und
der Rest ist angeblich arbeitslos. Eine buntere Mischung kann man
sich kaum vorstellen.“
Thaler wollte schon
widersprechen, bemerkte aber gerade noch rechtzeitig, dass dies ein
Witz gewesen war. Allerdings stellte er sich dann die Frage, ob die
Sache mit den Städten ernst gemeint war, denn durch das
abdriften in Ironie ließ ihn irgendwie daran zweifeln. Waren
die Städte nun genauso „unterschiedlich“ wie seine
Kundschaft?
„Ich schaffe das doch
sowieso nicht.“ Edgar schüttelte den Kopf. „Man braucht 'nen
hohen Rang oder Sippschaft um in der Innenstadt wohnen zu dürfen.
Aus der Armee bin ich raus und dass ich keine respektable Familie
hab, hab ich wohl meiner Mutter und ihrem Temperament zu verdanken.“
Der Alte rückte
näher zu ihm heran und dämpfte seine Stimme ein wenig. „Du
hast doch selbst die Aufstände gesehen? Wie wild die geworden
sind! Junge, die Kühldepots zu bewachen ist gefährlicher
als im Feld zu kämpfen, um nochmal darauf zurückzukommen.
Ich hab' gehört die Überlebensrate ist zwei Nächte!
Wenn du den Mumm dazu hast und einige Wochen durchhältst, dann
bist du in Nullkommanichts Feldwebel in der Randpolizei und von da
aus kann's nur noch nach oben gehen. Da erlauben die dir schon an den
äußersten Rand der Innenstadt zu ziehen.“
Tahler erhob sich ein
wenig von seinem Hocker um besser hören zu können. Er war
Feuer und Flamme, am liebsten wäre er sofort losgerannt um sich
zu bewerben. „Woher willst du denn das wissen?“, fragte er mit
gespielter Skepsis, seine vor Aufregung bebende Stimme verriet ihn
jedoch sofort.
„Ha!“, rief Ludwig
triumphierend, wurde dann aber noch leiser, noch verschwörerischer.
„Aus erster Hand: Feldwebel Nadja Hammerschmied, die hat's auch so
gemacht.“ Er grinste von einem Ohr zum anderen, was aufgrund des
langen Steinmarderkopfes besonders beeindruckend aussah.
„Ah, verstehe schon.“,
begann der ehemalige Soldat lächelnd, bis ihm ein anderer
Gedanke in den Sinn kam. „Aber, sag mal: Seit wann können
Allesfresser so weit aufsteigen? Ich mein, gefährlich ja, aber
so aussichtslos... ich mein, nichts gegen dich... aber Steinmarder
als Feld...“ Er stotterte und verstummte schließlich
schüchtern.
„Is' ein Vielfraß.“,
lispelte Ludwig aus seinem immernoch festen Grinsen hervor.
„Wa...oh!“. Thaler
blieb der Mund offen stehen. „Das geht doch nicht!“
„Hast du eine Ahnung,
was alles geht.“, schnaubte der Wirt abfällig. „Ich hab'
genug Nachkommen, da kann ich mir in meinem Alter schon ein Bisschen
Spaß gönnen. Und mit ihr, heh, die ist mehr als wild. Ich
könnte dir sagen...“
„Schon gut, ich glaub's
dir.“, kreischte der Junge schnell. Eine Beziehung über Arten
hinweg, war etwas, wovon er bisher nur aus dem Kriegsgeschehen, in
Form von Vergewaltigungen gehört hatte. Offiziell gab es so
etwas jedoch nicht, nicht einmal eine Strafe war dafür
vorgesehen, aber wenn auch nur ein solches Gerücht auftauchte,
konnte der Betreffende eine steile Karriere im Normalfall vergessen,
wenn er nicht vorhatte einen beträchtlichen Betrag an
Schweigegeldern auszugeben. Dass so etwas auf freiwilliger Basis
existierte, darüber wollte er gar nicht nachdenken. Natürlich
hieß es, dass das Temperament gestreifter Hyänenweibchen
erträglicher sei, aber nein, daran wollte er gar nicht denken.
„Naja, also sollt' ich es auf jeden Fall versuchen. Da sollt' ich
wohl früh raus, ich hau mich also mal auf's Ohr.“, fuhr er
dann, etwas abwesend, fort.
„Dann geb' ich dir
vorher noch was Stärkeres. Sonst bringst du bei dem Lärm
kein Auge zu.“ Der Schankwirt stellte einen Tonbecher auf die Theke
und goss etwas klare Flüssigkeit aus einer grünen
Plastikflasche hinein. Sofort schoss Edgar ein beißender Geruch
in die empfindliche Nase, dass ihm das Wasser aus den Augen lief.
„Um Gottes Willen!“,
presste er hervor. „Was zur Hölle is' denn das für'n
Deibelszeug?“
„Spiritus.“, sagte
Ludwig knapp. „Trink!“
Edgar zögerte kurz,
rang sich dann aber doch dazu durch den Becher zu ergreifen.
Irgendwie hatte er das Gefühl sein Todesurteil zu unterzeichnen.
„Na, zum Wohl!“, murmelte er ohne große Begeisterung, bevor
er den Spiritus in einem Zug in seine Kehle goss.
Das Gebräu traf ihn
wie ein Dampfhammer. Ein Löffel brennendes Napalm konnte nicht
anders schmecken, man hatte ihn aber wahrscheinlich schneller hinter
sich. Sein Geschmack und sein Geruchssinn schienen sich aufzulösen,
seine Zunge hing ihm Taub aus dem Maul, die Augen tränten so,
dass er sich blind glaubte. Allerdings stellte sich ein warmes Gefühl
in seinem Bauch ein, während sich der Schankraum um ihn sanft zu
drehen begann. Alle Sorgen und die Aufregung über den folgenden
Tag zerflossen und gaben der verdienten Müdigkeit einen Platz in
seinem Hirn. Seine Augendeckel wurden ihm so schwer, dass er sich
kaum noch auf dem Sitz halten konnte.
Unverständlich
murmelte er etwas von wegen, dass er nun schlafen gehen würde,
sammelte seine Waffe und die bleischwere, lederne Kugeltasche, die er
abgelegt hatte, vom Boden auf und drängte sich hinter die Bar.
Die Bierkammer war nicht mehr als ein Schrank in dem einige Fässer
und Gährflaschen standen. Auf ihnen war ein Strohsack, der als
Bettstatt diente, ausgebreitet.
Edgar kletterte hinauf
und rollte sich zusammen. Es nicht kühl genug, um in Kleidung zu
schlafen, aber der Platz reichte zum ausziehen nicht. Durch die
Ritzen in der recht provisorischen Holztür drangen Licht, Hitze
und Lärm in das Kämmerlein, so dass man meinte in einer
Stahlhütte zu sein. Einige zeit lang starrte der junge Mann auf
die gemächlich hin und her schwankende Decke. Ein Angenehmes
Gefühl. Die vielen Stimmen draußen verwuschen zu einem
Rauschen, das Licht trübte zu einer sachten rosaroten Stimmung.
So musste es am Meer aussehen. Die dampfige Glut des Kanonenofens und
der vielen Körper war in Wirklichkeit die reine, fruchtbare
Luft, die in den Tropen des Abends um die Palmen strich. Dort hatte
er hin gewollt, als er in die Armee eintrat, aber leider waren die
Konflikte aus diesen ersehnten Gefilden zu ihm gekommen, bevor er
ihnen entgegenlaufen hatte können.
Nun war er also wieder
hier, nicht ganz dort, wo er angefangen hatte, aber doch seiner alten
Heimat sehr nahe. Es war eine bittere Umarmung gewesen in die ihn die
elenden Straßen geschlossen hatten, als die Vorstadt wieder
betreten hatte. Viele Orte seiner Kindheit hatten ihn getroffen wie
ein Schlag ins Gesicht. Er hatte es nicht gewagt, zu sehen, ob die
Hütte, in welcher er aufgewachsen war, noch stand. Eine
Befreiung war es gewesen, als er festgestellt hatte, dass Ludwig in
ein anderes Viertel gezogen war. Auch damals war er bereits
Schankwirt und Lehrer gewesen. Viel hatte er nicht gewusst, das
konnte Edgar sagen, nachdem er auch nur einen Teil der echten Welt
gesehen hatte, aber er war schlau und für lesen und schreiben
hatte es immer gereicht. Freunde hatte Edgar niemals viele gehabt,
die meisten waren ohnehin mit ihm zum Heer gegangen. Ein oder zwei
waren im Feld geblieben. Einer hatte einen Offizier getötet und
war erschlagen worden. Der Rest war geblieben, nachdem man ihn
entlassen hatte.
Vielleicht war es ganz
gut so. Unter dem jungen Löwen hätte er es nie weit
gebracht. Man hatte ja nur einen Grund gesucht um ihn abzusägen.
Wenigstens hatte er ihnen einen echten gegeben.