Marie Salka

Die Weiße

Endlich der wohlverdiente Urlaub. Nach den letzten Arbeitswochen eine wirkliche Wohltat. So genossen wir den Gedanken an die nächsten vier Wochen im Ferienhaus meiner Eltern inmitten in den Bergen. Dieses Haus war ganz neu gebaut, es bot mehr als genug Platz für uns und wenn man aus dem eigentlichen Kellerfenster sah, das rückwärtig lag, so konnte man einen Abhang betrachten, denn das Haus lag genau in einer kleinen Talsenke. An der Vorderseite des Gebäudes begann bereits der nächste Hügel.  

Noch lagen die Wiesen grün vor uns, doch wir wussten von einer Schneemeldung in den nächsten Tagen. So erstaunte es uns nicht, als wir am nächsten Morgen aus den Fenstern blickten und alles weiß vorfanden. Was für ein Spaß, nun konnten wir die Ski benutzen!

So geschah es auch und erst die abendliche Dunkelheit trieb uns zurück in das Haus meiner Eltern. Wir waren erstaunt, als sie uns mit Sorge empfingen. „Gott sei dank, ihr seid nicht in die Lawine geraten.“ seufzten sie erleichtert. „Wovon redet ihr?“ war meine knappe Antwort. Sogleich erzählte meine Mutter von dem donnernden Getöse, das eine Lawine verursacht hatte, die sich erst kurz vor dem Haus auf dem sehr kurzen flachen Gelände verlaufen hatte. Ich hob die Augenbrauen. „Passiert ist aber nichts?“ wollte ich wissen. Meine Eltern verneinten, es sei wohl noch glimpflich ausgegangen, niemand sei verletzt worden und keine Häuser seien beschädigt worden.

Als ich am nächsten Morgen ganz früh aufwachte, schneite es schon wieder in kleinen, kristallharten Flocken. Ich eilte zum Kellerfenster, da man von dort aus dem Schnee am nächsten war und beinahe die einzelnen Flocken auf der Schneedecke erkennen konnte. Doch ich hielt inne und blickte irritiert in die schweigende Landschaft vor mir, als ich ein Tier aufsteigen sah. Es war alles verschneit und ich konnte seine Konturen nur schwerlich ausmachen, doch es war etwas Weißes, Lebendiges. Als ich die Hintertür, die aus dem Keller ins Freie führte, öffnete, um der seltsamen Begebenheit auf den Grund zu gehen, flatterten zwei helle Schwingen mir um den Kopf und ins Haus hinein. Eine Taube im Winter? Ich staunte nicht schlecht. „Was macht die denn hier?“ murmelte ich zu mir selbst. Ich folgte ihr und sah sie auf dem Lampenschirm an der Decke sitzen, von der aus sie mich neugierig musterte. „Du bist wohl Edgar Allan Poes Rabe, hmm?“ zwinkerte ich ihr zu. „Beobachtest mich jetzt auch und treibst mich in den Wahnsinn?“ Doch die Taube starrte nur.

Sie war tatsächlich schneeweiß, und allein das war schon eine seltsame Tatsache. „Was willst du hier?“ fragte ich die Taube. Doch die antwortete natürlich nicht.

Da mir das Tier in dem eiskalten Schneesturm leid tat, ließ ich es sitzen, wo es war und schritt die Kellertreppe wieder nach oben. Immer noch war kein Mensch wach und ich fühlte mich unbehaglich, obwohl das weiße Tier durchaus eine beruhigende Wirkung auf mich zu haben schien. Doch betrachteten meine Augen das Haus plötzlich auf andere Weise, alles was neu war, erschien ihnen fremd und das Wenige, das alt war, schien modrig. Natürlich, das alles war nur Einbildung, denn in Wirklichkeit roch es bereits nach Vorweihnachtszeit: der Kalender stand kurz vor dem ersten Advent. ‚Täubchen, du verkorkst meine Augen,’ dachte ich bei mir.

Bald wachte auch meine Familie auf und ich vergaß das seltsame Tier völlig. Ich hatte keinen Anlass, in den Keller zu gehen und so legten wir uns entspannt und frühzeitig am Ende des Tages schlafen.

Wie erstaunt war ich, als am nächsten Tag – ich hatte von dem Tier geträumt und mich so an seine Anwesenheit erinnert – die Taube immer noch im Keller saß. Unberührt saß sie auf ihrem Lampenschirm, hatte keinen Dreck hinterlassen, keine Feder verloren und schien immer nur zu starren. Mir wurde doch etwas mulmig zumute, denn ihr Blick kam mir zu durchdringend vor, auch wenn ich dies als lächerlich abtat. „Kleines Täubchen, du bist kein Rabe.“ entgegnete ich ihr, an Poe denkend. „Willst du nicht zurück in die Freiheit?“ Ich öffnete die Tür nach draußen, doch sie saß, wo sie die ganze Zeit gesessen hatte und rührte sich nicht von der Stelle.

„Was ist denn los mit dir?“ rief ich sie an. Doch die Taube starrte nur. Nun, ich hatte keine Lust auf solche Spielchen, also ließ ich sie sitzen und ging nach oben. Meine Mutter war bereits wach, doch trotz ihrer Anwesenheit war mir am helllichten Tage unwohl. Die Räume und ihre Möbel erschienen mir unheimlich. Ich wagte nichts davon meiner Mutter zu erzählen und tat es selbst als Einbildung und Verunsicherung ab, doch wünschte ich, das beklemmende Gefühl möge bald vorüber gehen. Mehrmals sah ich noch nach der Taube im Keller, aber sie rührte sich nicht. Einzig ihre Augen, die sich bewegten, verrieten Leben.

In der dritten Nacht fühlte ich mich von ihrem Blick bereits so verfolgt, dass ich nicht recht schlafen konnte. Es konnte unmöglich so weiter gehen, das Tier musste aus dem Haus, würde es auch in der Kälte eingehen, das war mir egal. Zurück dorthin, wo es herkam.

Ich erhob mich und kramte eine Taschenlampe aus dem Schränkchen im Flur hervor. Alle Räume lagen in gespenstischer Stille, doch meine Angst ließ mich die Anwesenheit eines Fremden spüren, obwohl mir meine Vernunft klar sagte, dass nur wir in dem Haus waren. Wir und das Federvieh.

Ich tappte die Treppe hinab und schaltete das Licht an. Unbewegt saß die Weiße auf ihrer Lampe und fixierte mich mit beiden Augen. „So, meine Kleine,“ flüsterte ich, „es wird Zeit, dich nach draußen zu bugsieren. Was willst du denn auch hier.“

Zum ersten Mal seit ihrer Erscheinung bewegte das Täubchen seinen rechten Flügel. Und als hätte es verstanden, was ich zu ihm gesagt hatte, schwang es sich in weitem Bogen von seinem Lampenschirm herunter. „Danke.“ entgegnete ich ihm.

Sie landete kurz vor mir, doch sah sie mich noch immer durchdringend an. Sie tappte in Richtung Hintertür, doch hielt inne, bis ich ihr folgte. Ich öffnete ihr, aber sie ließ nicht locker, tappte nach draußen in den Schnee, der bis an die Tür wehte und starrte mich so magnetisierend an, dass ich ihr trotz der Kälte folgen musste. Es schien mir seltsam, doch ich hatte das Gefühl, dass der Faden dieser Geschichte noch nicht zu Ende gesponnen war. Der kalte Schnee verursachte mir Gänsehaut, doch es tat mir eher das Tierchen leid, das bis zu seinem Bauch im Schnee stand, durch den es auf seinen Beinchen hindurchwatete. Dort war die Stelle, an der ich es zum ersten Mal gesehen hatte. „Na, gehst du jetzt dahin zurück, wo du hergekommen bist?“ fragte ich das Tier. Es drehte sich um und blickte mich an. Fast menschlich erschien es in dem Augenblick und ich empfand die ganze Situation als sehr beklemmend. Der Schnee erhellte die Szenerie, doch reichte das nicht, um zu begreifen, was die Weiße denn nun wollte. „Was ist denn?“ flüsterte ich und schaltete die Taschenlampe an. Dass etwas nicht stimmte, war sofort zu sehen, denn der Schneehügel, auf dem nun die Taube stand, hatte eine zu ungewöhnliche Form.

Ich wollte es nicht wissen, ich konnte es mir nur denken. „Oh mein Täubchen, deshalb hast du so reagiert! Deshalb hast du nicht locker gelassen und daher das beklemmende Gefühl der Anwesenheit eines Fremden im Haus...“ flüsterte ich.

Ich ließ die Weiße, wo sie war und lief zurück ins Warme, wo ich die Bergwacht alarmierte. Noch in der selben Nacht stand sie vor unserem Haus. Sie musste nicht tief graben, steif gefrorene Glieder kamen zum Vorschein und ein starrer Blick schien mich zu fixieren. Mir kroch ein Schauer über den Rücken, doch die kleine weiße Taube war verschwunden.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.09.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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