Ramona Hennig

Rosa

Jeden Tag das gleiche Spiel.
7.43 Uhr.
Sie robbt langsam ans Küchenfenster. Bleibt kurz, an die Heizung gelehnt, in ihrer Krabbelposition.
 
Dann setzt sie sich ganz langsam auf, legt die Hände aufs Fensterbrett, zieht sich vorsichtig ein kleines Stückchen nach oben, so, dass sie gerade auf die Hauptstrasse hinunter sehen kann. Würde jemand auf der anderen Straßenseite den Kopf heben, man könnte nur ihre Augen und das graue, struppige Haar erkennen.
 
Die Knie tun ihr weh, aber nur wenn sie krabbelt kann sie sicher sein, dass niemand von außen sie beobachten kann. Niemand darf wissen, dass sie da ist.
 
Ihr Name ist Rosa, aber sie findet nicht, dass sie aussieht wie eine Rosa. Sie findet, dass ihr Name viel zu schön, viel zu lieblich ist, um auch nur annähernd ihre Person zu beschreiben. Aber das ist schon lange nicht mehr wichtig.
 
Jeden Tag zur selben Zeit, jeden Tag das selbe Spiel.
 
Gleich müsste SIE in Sichtweit kommen, gleich würde der kleine schwarze Wagen um die Ecke biegen und die Sicht auf die Aufschrift frei geben. Und vielleicht hat Rosa diesmal den Mut SIE anzurufen. Richtig anzurufen, mit Sprechen und Fragen und Antworten und allem was zu einem Telefonat dazu gehört. Vielleicht heute... .
 
Da kommt SIE! Langsam fährt der kleine schwarze Wagen um die Ecke und gleitet unter ihrem Fenster, unter ihrem Blick vorbei. Schnell schreibt Rosa die Telefonnummer ab, die auf dem kleinen schwarzen Wagen in großen gelben Lettern zu lesen ist: „Wir schneiden bei ihnen zu Hause. Bequem und günstig. 779315.“ Das hat sie schon unzählige Male getan, jeden Tag zur gleichen Zeit greift sie zu ihrem Block und schreibt die Nummer ab. Dann ist der Wagen vorbei, biegt um die nächste Ecke und ist verschwunden. Rosa atmet tief durch, vielleicht heute... .
 

 
Es ist 13.39 Uhr. Rosa sitzt wieder in der Küche, diesmal auf einem alten, knarrenden Holzstuhl und starrt das Telefon an. Sie hat es direkt vor sich auf den Tisch gestellt, damit sie es sich ganz genau ansehen kann. Sie findet es wichtig, dass sie genau weiß, wo welche Taste ist. Ihr Puls rast, das Herz scheint auf der Flucht aus ihrem Körper zu sein. Sie ist froh, dass sie sitzt, denn ihr ist unglaublich schwindelig und der Kopf brummt. Rosa schwitzt, die Hände sind nass und unter ihren Achseln scheint sich ein ganzer Sturzbach zu ergießen. Die Zeit verstreicht, sie starrt wie gebannt auf das Telefon. Jeden Tag das gleiche Spiel. Dann nimmt sie den Hörer von der Gabel und gibt die Nummer mit Hilfe der Wählscheibe ein, natürlich auswendig. Was ein Handy ist weiß sie nicht. Es klingelt im Hörer, sie wird wohl nie verstehen, wie das zustande kommt. Es klingelt zweimal, dreimal, viermal... . Sie schaut einer Fliege zu, die über den Küchentisch krabbelt und fragt sich, ob die Fliege glücklich ist.
 
Zuerst bemerkt sie gar nicht, dass sich etwas verändert hat, sie ist in Gedanken noch bei der Fliege.
 
Dann: „Hallo? Hallo, wer ist denn da? Kann ich ihnen helfen?“
 
Rosa erschrickt fast zu Tode! So lange hat sie kein gesprochenes Wort mehr gehört, erinnerte sich, wie schöne eine Stimme sein kann. Sie weiß nicht was sie sagen soll.
 
„Ich kenne Sie“ ist alles was ihr einfällt. Und es stimmt ja auch.
 
Am anderen Ende: „Wer spricht denn da? Können Sie mir ihren Namen nennen?“
 
Rosa: „Ich bin nicht schön.“
 
„Nun, da kann ich ihnen vielleicht behilflich sein. Schneiden, Waschen, Föhnen, Make-up, Maniküre... . Womit kann ich ihnen helfen?“ Die Stimme klingt wie ein Glockenspiel. Rosa lauscht und bekommt eine Gänsehaut.
 
„Ich brauche ihre Hilfe.“ Langsam erinnert sie sich an die Regeln eines Gesprächs. Abwechselnd sprechen, Frage, Antwort, Frage, Antwort... .
 
„Können Sie zu mir kommen? Ich bin nicht schön.“
 
„Natürlich, wir können jetzt gleich einen Termin vereinbaren. Wie passt es ihnen morgen vormittag, 10.30 Uhr?“
 
Rosa überlegt fieberhaft. Das geht zu schnell, es macht ihr Angst.
 
„Ja, ja, ja... .“ stottert sie. Sie schreit innerlich auf. Sag nicht ja! Das Herz rast noch schneller, alles dreht sich. Ihr wird klar, dass das Gespräch bereits beendet ist. Sie kann sich nicht daran erinnern, das Gespräch beendet zu haben! Wie ist das Telefonat ausgegangen? Panik steigt auf und schreckliche Übelkeit macht sich breit. Dann übergibt sich Rosa mitten auf den Küchenfußboden. Es verschafft ihr wenig Erleichterung.
 

 
Rosa kann sich nicht daran erinnern, was sie seit dem Telefonat gestern getan hat. Hat sie gegessen? Hat sie geschlafen?
 
Sie sitzt unter dem Küchenfenster, pünktlich um 7.43 Uhr.
 
Erst jetzt wird sie sich ihrer selbst bewusst. Wie viel Zeit ist vergangen? Ihr Kopf tut weh und sie findet, dass sie streng riecht.
 
Wann kommt Johannes und wäscht sie, kauft ein und lüftet die Zimmer? Gut das Johannes nie mit ihr spricht. Rosa glaubt, weil er Angst vor ihr hat. Sie weiß nicht, dass Johannes taubstumm und das die einzige Möglichkeit für ihn ist, sich bei einer wunderlichen Alten etwas Geld dazu zu verdienen. Der Pflegedienst hat ihn geschickt.
 
Auf dem Küchenboden liegt noch das Erbrochene von gestern und sie kann sich nur zu gut daran erinnern, wie es dahin gekommen ist. Gedankenverloren wischt sie sich mit dem Ärmel ihres Kleides über den Mund.
 
Routiniert zieht sie sich ganz vorsichtig an der Fensterbank hoch, sieht auf die Straße. Erst links, dann rechts, wieder links. Geschäftige Menschen eilen auf den Bürgersteigen ihrem Leben hinterher, Kinder laufen laut tobend in Richtung der Schule und unzählige Autos fahren vorbei. Rote, blaue, große, kleine, neue, alte.
 
Nur der schwarze Wagen kommt nicht. Rosa wird unruhig und sieht auf die Ziffernanzeige eines neumodischen Weckers, den Johannes irgendwann einmal mitgebracht hat. 7.56 Uhr. Sie kommt nicht, sie kommt nicht! Warum kommt sie nicht? Rosa möchte schreien, bringt aber nur ein krächzen zustande. Warum kommt sie nicht? Sie glaubt, ein Troll sitzt auf ihrer Brust. Sie atmet immer schneller, Schwindel überkommt sie. Ich kann nicht atmen, ich kriege keine Luft! Sie sackt neben der Heizung zusammen, schlägt sich leicht den Kopf daran, spürt die Kühle des Metalls an ihrer Stirn. Langsam beruhigt Rosa sich. Vielleicht ist SIE krank oder hat einen anderen Weg genommen?!
 

 
Plötzlich klingelt es an der Haustür. Rosa fährt zusammen als stünde sie unter Strom. Sie hat völlig die Zeit vergessen.
 
Kommt Johannes heute? Dann fällt es ihr wieder ein. SIE steht vor der Tür! Rosa fragt sich, warum sie immer wieder solch wichtige Dinge vergisst. Manchmal fehlen ihr Stunden, manchmal Tage an die sie sich nicht erinnern kann.
 
Sie fühlt sich wie in Watte gepackt. Ihr Herz rast mit dem Puls um die Wette, als ob es etwas zu gewinnen gäbe. Sie kann kaum gerade laufen, stößt mit den Knien gegen ein kleines Schränkchen im Flur. Fast wäre sie gefallen.
 
Dann steht sie vor der geschlossenen Tür, unschlüssig, was sie nun tun soll. Es läutet wieder. Erst jetzt fällt Rosa auf, was für ein schriller und unangenehmer Ton das ist. Es klopft und dann ruft jemand:
 
„Hallo? Sind sie zu Hause? Hallo?“. Rosa überkommt Panik. Fieberhaft sucht sie nach einem Ausweg. Wieder die Stimme:
 
„Hören Sie, wenn Sie heute keine Zeit haben ist das in Ordnung. Nur bitte sagen sie doch endlich etwas.“
 
Rosa läuft der Schweiß in kleinen Perlen über Bauch und Rücken. Das kitzelt sie und sie verliert sich in kindlichem Gekicher.
 
Am anderen ende der Tür: „Rufen sie mich einfach wieder an, wenn es ihnen besser passt. Ich muss los, mein Terminkalender ist voll. Schönen Tag noch.“
 
Rosa überlegt, wer da spricht, die Stimme klingt ärgerlich. Sie hört, wie jemand den Flur hinunter läuft. Jetzt fällt es ihr wieder ein. SIE ist das. SIE steht vor Rosa´s Tür!
 
Ohne nachzudenken reißt Rosa die Tür auf und streckt den Kopf nach draußen. Rechts ist niemand zu sehen. Dann links. Da steht SIE, lächelt Rosa an, sieht aus wie ein Engel. Nein, sie IST ein Engel. Rosa ist sich ganz sicher, dass da ein Engel im Hausflur steht.
 
Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Und ganz plötzlich ist alle Angst verflogen. Rosa weiß nun, was zu tun ist. Sie schiebt ihre massige Gestalt ganz aus der Tür und watschelt auf SIE zu.
 
„Guten Tag. Ich bin Rosa.“
 
„Oh, ich dachte schon ihnen wäre etwas wichtiges dazwischen gekommen. Hallo, mein Name ist Corinna. Sie haben mich angerufen?“
 
Ihre Augen mustern misstrauisch Rosa´s Gestalt. Ach herrje – denkt Corinna – was ist das denn für eine?!
 
„Ja, bitte kommen sie doch herein. Wie unhöflich von mir. Möchten sie etwas trinken? Ich kann ihnen Kaffee machen oder Tee.“ Sie schiebt Corinna mit ihrer massigen Gestalt in ihre Wohnung, schließt die Tür und lehnt sich dagegen.
 
Rosa ist ganz ruhig und beobachtet ihr Gegenüber. Corinna scheint angespannt zu sein. Mit gerümpfter Nase schaut Corinna sich in der Wohnung um. Sie hat kein gutes Gefühl bei der Sache und überlegt, einfach wieder zu gehen. Was kann ihr diese komische alte schon anhaben? Außerdem stinkt es in der Wohnung und die alte stinkt auch ganz schrecklich. Wo ist sie da nur hinein geraten? Die alte steht an die Tür gelehnt da und musterst Corinna aus linkischen Augen.
 
Rosa ist unglaublich glücklich. Der Engel ist in ihrer Wohnung. Der Engel ist so wunderschön, so wunderschön! So lange hat Rosa auf diesen Augenblick gewartet, sich immer wieder vorgestellt, wie es sein würde. Manchmal hat sie natürlich auch vergessen auf was sie eigentlich wartet, aber jetzt, in diesem Augenblick ist ihr Verstand klar wie reinstes Wasser.
 
„Hören sie“ sagt Corinna „wenn ich es mir recht überlege... .“ Sie ringt um Worte
 
„Ich möchte jetzt gehen. Ich fühle mich hier nicht sehr wohl und einen anständigen Platz um ihnen die Haare zu schneiden kann ich auch nicht entdecken. Was halten sie davon, wenn sie einfach irgendwann in den nächsten Tagen in unserer Filiale vorbei schauen?
 
Hier.“
 
Sie holt etwas aus ihrem mitgebrachten Koffer und reichte es Rosa.
 
„Hier haben sie einen Gutschein für einmal waschen, schneiden, föhnen. Kommen sie wann immer sie mögen. Ich muss jetzt los.“ Corinna´s Stimme klingt unsicher.
 
Rosa weicht keinen Zentimeter zur Seite und schaut Corinna unverwandt an. „Bitte lassen sie mich vorbei. Ich habe heute noch andere Termine.“ Corinna wird Angst und Bange. Was will dieses alte, hässliche Weib von ihr? Zielstrebig, mit festem Blick geht sie auf Rosa zu, versucht es noch einmal: „Bitte lassen sie mich vorbei.“
 
Plötzlich kommt Leben in Rosa. Mit einem wilden Aufschrei wirft sie sich auf Corinna und drückt sie mit ihrem ganzen Gewicht zu Boden. Sie reißt dem Engel an den Haaren, sucht gezielt mit ihren schmutzigen Fingernägeln die empfindlichen Stellen wie Augen und Lippen, kratzt dem Engel wie von Sinnen das Gesicht blutig und stößt dabei markerschütternde Schreie aus. Corinna versucht sich zu wehren, tritt und kratzt, hat aber keine Chance gegen dieses fette, alte Weibsstück.
 
Die alte beißt ihr in die Arme, den Hals und den Oberkörper. Dann ein dumpfer Schmerz und alles wird schwarz um Corinna.
 

 
Rosa rappelt sich mühsam auf. Der Engel hat sich sehr heftig gewehrt. Rosa hat Nasenbluten und alles tut ihr weh. Aber das ist nicht wichtig, denn jetzt hat sie den Engel ganz für sich alleine. Und sie wird nicht zulassen, dass der Engel sie jemals wieder verlässt! Oh nein, oh nein... . Sie setzt sich auf den Boden direkt vor ihren Engel.
 
Sie kann alles ganz genau sehen. Feines blondes Haar umrahmt ein wunderschönes Gesicht. Ein kleiner, weicher Flaum steht oberhalb des Engels geschwungener Lippen.
 
Ja, so könnte Rosa für immer da sitzen. Einfach an nichts denken und den Engel betrachten. Sie verliert sich in ihren Träumen, denkt daran, wann sie den Engel zum ersten mal sah und daran, wie sehr sie ihn ab diesem Moment besitzen wollte.
 
Noch immer hält sie den Gegenstand in den Händen, mit dem sie Corinna niedergeschlagen hat, eine alte Spieluhr. Die Uhr fühlt sich nass und klebrig in ihren Händen an, aber das stört Rosa nicht. Einzig der Engel ist wichtig.
 

 
„Guten Abend Fred. Was hast du für mich?“
 
„Hi Tom. Hab hinten ´ne irre Alte drin. Sie soll heute vormittag ´ner Friseuse die Birne eingeschlagen haben. Sah wohl ziemlich übel aus. Mach das Tor auf! Ich will die Alte
 
loswerden. Die brabbelt die ganze Zeit irgendwas von nem Engel. Is kaum auszuhalten.“
 
„Aber klar doch. Bring sie hoch zu Susanna in die geschlossene... .“
 
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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Geschrieben von:
 

 
Ramona Hennig
 
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.09.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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