Karl Wiener

Freunde

 
               Er hieß Hans. Seine Eltern waren nicht reich, aber er lebte glücklich, denn er hatte Freunde. Gemeinsam trieben sie mancherlei Unfug, am liebsten jedoch spielten sie zusammen Fußball. Eines Tages schlenderte Hans am Fluß entlang und entdeckte einen Stein von außergewöhnlich schöner Farbe und Form. Er hob ihn auf und betrachtete ihn nachdenklich. Wozu könnte man einen solchen Stein wohl gebrauchen? Nach reiflichem Überlegen befand er, dieser Stein sei ein guter Wetzstein für sein Taschenmesser. Er steckte ihn in ein und lief frohgemut heim                         
               Unterwegs begegnete ihm derjenige seiner Freunde, dem der Fußball gehörte, mit dem sich die Jungen oft gemeinsam die Zeit vertrieben. Ihm zeigte Hans seinen Schatz. Und da dem der Stein gefiel, kam Hans eine Idee. Mit vielen Worten erklärte er den besonderen Wert des Steines und überredete seinen Freund, den Fußball gegen den Stein einzutauschen. Der war schließlich einverstanden, zumal Hans ihn glauben machte, daß die Freunde auch weiterhin gemeinsam mit dem Ball spielen würden. Zuhause angekommen betrachtete Hans seinen neuen Besitz voller Stolz. Der Ball gefiel ihm so gut, daß er ihn für sich allein haben wollte, und er verbarg ihn in der hintersten Ecke seines Spielzeugschranks.
               Die Freunde waren sehr enttäuscht, als sie erfuhren, daß das gemeinsame Fußballspiel ein Ende haben sollte. Doch so sehr sie auch darum baten, Hans hütete seinen Besitz und ließ die anderen nicht daran teilhaben. Betrübt standen die Jungen beisammen und beratschlagten, was zu tun sei. Schließlich entschloß sich einer der Freunde schweren Herzens, sich von seinem Roller zu trennen, den ihm seine Eltern zum Geburtstag geschenkt hatten. Er bot ihm Hans zum Tausch gegen den Ball an. Diesem Angebot konnte Hans nicht widerstehen. Er holte den Ball aus seinem Schrank hervor und fuhr frohgemut mit dem Roller davon.
               Am Spiel der Freunde beteiligte sich Hans nicht mehr. Er sauste mit dem Roller unentwegt um den Spielplatz. An einer besonders gefährlichen Stelle begegnete ihm ein Junge auf einem Fahrrad. Der war wohl zu schnell gefahren, denn er rutschte aus und fiel in den Staub. Jammernd betrachtete er seine wunden Knie. „Nimm doch den Roller und gib mir das Fahrrad. Mit dem Roller bist du vor solchem Unheil sicher“, riet Hans dem verletzten Radfahrer. In seinem Schmerz vertraute der diesen Worten und willigte in den Handel ein.
               Nun hatte es Hans weit gebracht. Aus einem Stein hatte er einen Ball gemacht, den Ball hatte er in einen Roller verwandelt und den Roller schließlich gegen ein Fahrrad eingetauscht. Er war sehr stolz auf seinen Erfolg. Mit dem Fahrrad fuhr er nun seine Runden. Und weil er nicht ungeschickt war, hatte er bald gelernt, freihändig zu fahren. Er saß aufrecht im Sattel und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ein anderer Junge, der ein viel schöneres Fahrrad sein Eigen nannte, sah das voller Bewunderung. „Wie machst du das nur? Ohne zu lenken kommst du doch an dein Ziel“, fragte er neugierig. Hans fühlte sich geschmeichelt und antwortete listig: „Das ist ganz einfach, mein Fahrrad ist eben ein Kunstrad“. Das beeindruckte den Jungen. Er wollte auch ein Fahrrad besitzen, mit dem man freihändig fahren konnte. Nach langem Hin und Her ließ sich Hans schließlich dazu herbei, sein Fahrrad gegen das des anderen einzutauschen, unter der Bedingung, daß ihm dieser noch sein Taschengeld dazugab.
        So mehrte Hans seinen Besitz, doch all seine Freunde hatte er verloren. Keiner wollte mehr mit ihm spielen. Zunächst ließ ihn das kalt. Er glaubte, daß ihm die anderen nur seinen Besitz neideten. Doch bald fühlte er sich einsam. Für das Geld, das er seinem letzten Opfer abgefordert hatte, kaufte er sich Bonbons und Schokolade, um sich zu trösten. Andere Jungen hatten ihn beobachtet. Sie gesellten sich zu ihm und gaben vor, seine neuen Freunde zu sein. Mit denen teilte er bereitwillig seine Süßigkeiten, denn er hatte begriffen, daß das Leben ohne Freunde recht trübselig ist. Als aber die Süßigkeiten zu Ende gingen, wendete sich die neuen Freunde einer nach dem anderen von ihm ab. Um sich schließlich wenigstens einen Freund zu erhalten, schenkte er sein Fahrrad dem letzten, der kam, um zu sehen, ob nicht doch noch etwas zu holen sei.
         Traurig saß Hans am Flussufer und blickte nachdenklich auf das Wasser, das glucksend vor seinen Füßen vorüber zog. Er sehnte sich nach seinen alten Freunden. Was hatte er nur falsch gemacht? In der Nähe des Ufers gewahrte er einen Stein. Die lange Reise im Flussbett hatte diesen kugelrund geschliffen. Farbige Streifen durchzogen seine Oberfläche. Hans hob den Stein auf und betrachtete ihn eingehend. Er war noch schöner als jener, mit dem das Unglück seinen Anfang genommen hatte. Was gäbe Hans um einen einzigen Freund. Er bemerkte nicht, daß ihn ein Junge von der Wiese her beobachtete. Der trug einen Ball unter dem Arm und wußte nichts Rechtes mit sich anzufangen. Er winkte Hans zu und forderte ihn auf, mit ihm zu spielen. Dieser ließ sich nicht lange bitten. Er schenkte dem Jungen seinen Stein und war glücklich, einen neuen Gefährten gefunden zu haben, mit dem er Fußball spielen konnte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.09.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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