Barbara Wittig

Ein besonderer Tag

Es war Dienstag. Sicher war es nur irgendein Tag, den man irgendwie überleben musste, so wie jeder Tag in ihrem grauen Leben. Die Menschen rannten durch die Strassen, jeder mit eigenen Träumen und Ideen, die aber wohl für immer nur in ihren Köpfen existieren würden. Denn aus Angst Schwächen zu zeigen, würde man diese Gedanken wohl niemals preiseben. Sie alle waren viel zu beschäftigt mit sich und ihren Angelegenheiten, so das niemand mehr die Zeit hatte, zu schauen was wohl mit seinen Mitmenschen sein könnte, um ihm zu helfen.
So fiel auch niemandem die junge Frau auf, die mit einem kleinen Jungen an der Hand daherging. Hätte man sich die Zeit genommen, die beiden genauer anzusehen, so hätte man vielleicht die rotgeweinten matten Augen der Mutter bemerkt. Ihr Gesicht war schmal und ihre blonden Haare wirr. Ihr Mantel war offen und ließ einen Blick auf ihr graues Kostüm zu. Sie war eine Schönheit, doch aus irgendeinem Grund war der Glanz verschwunden und Traurigkeit schwebte wie ein unsichtbares Tuch über ihr. Auch der Junge, er war etwa 5 Jahre alt, hatte ein schmales blasses Gesichtchen und war auch sonst sehr zartgliedrig. Auch er hatte blondes Haar, was sich in kleinen Löckchen ringelte. Aber seine Augen waren wach und neugierig schaute er auf das Getümmel um ihn herum.
Gerade hatte er einen kleinen Vogel entdeckt, der es sich auf dem Rand des Brunnens ganz in der Nähe bequem gemacht hatte, um auszuruhen. „Schau mal, Mutter. Er trinkt und wippt gleichzeitig mit seinem Schwänzchen auf und ab!“ Seine Stimme war ganz glockenklar und seine Augen leuchteten jetzt noch mehr. „Ob der kleine Piepmatz eine lange Reise hinter sich hat? Wo sind denn seine Eltern und wie viele Geschwister hat er wohl?“ Oh, der kleine Mann hatte so viele Fragen, aber seine Mutter war müde und sagte nur: „Ach, Tim, lass doch den Vogel! Komm jetzt, wir sind schon spät.“ Sie nahm ihn auf den Arm, trug ihn, und beschleunigte ihren Schritt ein wenig.
Noch schnell über diese Kreuzung und dann stand sie vor der Tür, neben der ein weißes Schild mit der Aufschrift „Prof. Dr. med. Schwarz, Kinderarzt, alle Kassen“. Ein kurzes Zögern – dann trat sie mit ihrem Kind ein, meldete sich an, gab die Patientenkarte ab und setzte sich ins Wartezimmer. Sie nahm Tim auf den Schoss und schaute sich mit ihm ein Bilderbuch an. Es ging in der Geschichte um einen kleinen Igel, der auf Wanderschaft ging, um die weite Welt zu sehen. Sie las ihm vor, schaute sich die bunten Zeichnungen an. Aber es wollte ihr nicht gelingen. sich auf dieses zu konzentrieren und sich dadurch von ihren Sorgen ablenken lassen,
Die Dauer der Wartezeit in der Praxis variierte von Mal zu Mal. Sie und Tim saßen hier seit 3 Jahren jeden Montag und Freitag. Mal warteten sie 15 oder 20 Minuten, ein anderes Mal 1 Stunde, was dem kleinen Kind natürlich sehr schwer fiel. Heute wurden sie nach kurzer Zeit hineingerufen.
In einem kleinen Raum wartete der Arzt auf sie, ein älterer grauhaariger kleiner Mann. Er hatte einen weißen Vollbart und einen kugelrunden Kopf mit einer Halbglatze. Als die beiden eintraten, lächelte er. „Hallo“, sagte er. „Da ist er ja, mein Lieblingspatient. Na, Tim, alles klar?“ Der Kleine nickte. Er mochte den kleinen Mann, auch wenn er jedes Mal eine Spritze bekam. Aber wenn er in den Finger gepickt wurde, damit sein Blut untersucht werden konnte, das merkte er kaum. Der Doktor erzählte Geschichte und Witze... und tapfer sein wollte Tim ja auch.. Und wenn er dann zur Belohnung ein kleines Spielzeug oder Bonbons bekam, war er auf sich selber sehr stolz.
So war es auch heute. Zuerst musste er seinen Oberkörper freimachen und sein Herz wurde abgehorcht. Er musste ein- und ausatmen, auf einem Bein stehen und in die Nase und in die Ohren schaute der Arzt auch. Dann konnte er sein T-Shirt wieder anziehen und bekam eine Spitze in den Po. Seine Mutter schaute auf ihren Kleinen... sie durfte ihm nicht zeigen, wie traurig sie war, und wie mutlos in manchen Momenten. So, nun wurde Tim noch in den Finger mit einer kleinen Nadel gestochen. Die kleinen Bluttropfen kamen auf verschiedene Glasplättchen, um sie unter dem Mikroskop zu untersuchen.
Dann ging der Junge noch zur Toilette und kam nach einiger Zeit mit einem Töpfchen heraus, dessen Inhalt ebenfalls ins Labor wandelte.
Nun wurden sie gebeten, noch einen Moment zu warten, bis die Tims Ergebnisse ausgewertet waren. Da saßen sie nun, ein großer und ein kleiner Mensch. Sie hielten sich bei den Händen, denn sie wollten sich gegenseitig trösten. Plötzlich sagte Tim: „Mutti, ich werde bestimmt bald wieder ganz gesund. Das doofe Zeug in meinem Blut verschwindet sicher bald.“ Die Mutter schaute ihn an. „Ach, Tim. Woher weißt du denn von deiner Blutkrankheit?“ „Na ja, ich habe gehört, wie du mit Vati abends über mich gesprochen hast.“ Die Mutter schaute Tim nicht an, denn die Tränen schossen ihr in die Augen. „Du, Mutti. Du und Vati kommen doch ohne mich gar nicht zurecht. Wer hilft sonst Vati, wenn er mal wieder an unserem alten Auto herumrepariert oder den Gartenzaun streichen will? Und wer hält dir den großen grünen Sack offen, wenn du mal wieder im Garten bist, Unkraut zupfst und den Rasen mähst? Und was wollt ihr Oma sagen, wenn sie kommt, und ich bin nicht da?“ Sie nahm ihren kleinen Jungen ganz fest in die Arme. „Ja, Tim. Stimmt, wir können nicht ohne dich, mein Schätzchen.“
Da schaute der Arzt ins Wartezimmer hinein und rief Tim und seine Mutter zu sich. Und er lächelte noch mehr als sonst. Als sie sich alle wieder in dem kleinen Raum befanden und die Tür geschlossen war, schaute der Doktor die beiden lange an und dann sagte dann: „Herzlichen Glückwunsch.“ Tim sah seine Mutter an. „Aber, Mami. Ich habe doch gar keinen Geburtstag und du auch nicht.“ „Nein, Tim. Du wirst wieder ganz gesund. Die Medizin, die ich dir jede Woche spritze, hilft dir gegen das Böse in deinem Blut zu kämpfen. Und die schlimmen Zellen, die dort waren, sind fast ganz weg.“ Die Mutter schaute ihn ungläubig an, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sollte es wirklich war sein? All die durchweinten Nächte, die Ängste, ihr Kind, ihr Glück zu verlieren – sollten sie endlich ein Ende haben?
Ja, das Medikament schlug endlich an und Tims Blut baute sich neu auf. Die roten und weißen Blutkörperchen standen wieder im richtigen Verhältnis zueinander, und nun war eine vollständige Heilung absehbar.
Als an diesem Morgen Tim und seine Mutter aus dem Haus des Arztes kamen, war es, als ob sie schwebten. Und es schien, als hätten die kleinen Vögel noch niemals so schön gesungen, wie in diesem Moment, als die beiden nach Hause gingen.

Nun...auch ich bin ein Elter und auch ich habe schon einen solchen Moment der Anspannung und der Erleichterung erlebt...also Selbsterfahrung verarbeitet.Barbara Wittig, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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