Klaus-D. Heid

Die Pointe

„Guten Morgen, Marie...!“ murmelte ich kaum hörbar, während meine Hände sich wieder einmal am viel zu heißen Wasser aus dem Wasserhahn, verbrannten. Marie, die mein ‚Guten Morgen’ ebenso wenig wahrgenommen hatte wie meinen Schmerzensschrei, ging mit zugekniffenen Augen an mir vorbei. Ich wusste, dass sie erst ansprechbar sein würde, wenn sie ihr morgendliches Duschen hinter sich gebracht hatte. Vorher konnte wahrscheinlich das Haus zusammen fallen, ein Krieg ausbrechen oder ein Massenmörder in unseren vier Wänden wüten, ohne dass sie Notiz davon nahm.

Marie und ich leben seit einem Jahr zusammen. Wir lieben uns. Na ja... wir lieben uns eben so, dass wir nicht ernsthaft über Liebesalternativen nachdenken. Man könnte auch sagen, dass Marie und ich eine ‚bestmögliche Variante kommunikativer Paarung’ kreiert haben, in der nicht das Maximum erwartet, sondern das Optimum beibehalten wird.

Nach etwa drei Minuten unter eiskaltem Wasser ließ der Schmerz an meinen Händen langsam nach. Ich lauschte dem Plätschern des Wassers, das Marie jenes Wohlgefühl becherte, das sie zum Wachwerden unbedingt brauchte. Die Zahnpasta, die ich auf meine Zahnbürste quetschte, würde natürlich meine Zähne ruinieren. Es war eine dieser Zahnpasten, die blendend weiße, aber löchrige und schmelzlose Zähne produzierte, wenn man sie nur lange genug nutzte. Natürlich nahm Marie niemals meine Zahnpasta. Marie war viel zu gesundheitsbewusst, um sich meinem Beispiel ruinöser Schönheitspflege anzuschließen. Marie benutzte Zahnseide. Sie gurgelte nach dem Zähneputzen mit einer Tinktur, die angeblich helfen sollte, den ‚Vitaminhaushalt des Gaumens’ zu perfektionieren. Logisch, dass ich Marie in diesem Glauben ließ, solange sie mir nicht tägliche Vorträge zu meinem ungesunden Lebenswandel hielt.

Das Plätschern in der Duschkabine verstummte. Meine Zähne waren wieder weiß und auch mein Atem erinnerte kaum noch an den Gin des Vortags. Die Tür der Duschkabine öffnete sich.

„Guten Morgen, Klaus... auch schon wach, du Schlafmütze...?“

Sie hatte mich nicht mal wahrgenommen, als sie mir im Bad begegnete. Erst jetzt, frisch gewaschen und fit für den Tag, registrierte sie meine Anwesenheit. Danke, Marie, dass ich nun existiere. Wie wär’s mit einem ‚Guten Morgen-Kuss’? Ach so. Ja. Du küsst nie, bevor Du Dir die Zähne geputzt hast. Braves Mädchen. Du küsst auch nie, bevor Du Dir die Haare frisiert, die Beine rasiert und das Gesicht beschmiert hast. Klare Regeln, Marie. Trotzdem hätte ich jetzt gerne ein winziges Küsschen...

Was nicht geht, geht nicht. Mit den kleinen Eigenarten Maries musste ich nun mal leben. Ich lebte ja auch damit, dass sie mich jetzt gleich aus dem Bad warf, weil sie niemals in meiner Gegenwart pinkelte. Etepetete, meine kleine Marie. Als ich sie gestern – blau wie eine Haubitze – nach Hause brauchte, war sie allerdings weniger zimperlich. Es würde mich mindestens drei Stunden meiner kostbaren Zeit kosten, die Überbleibsel von Maries Mageninhalten zu beseitigen, die gleichmäßig auf Sitz und Armaturenbrett meines Wagens verteilt waren.

„Du..., Klaus...? Ich müsste mal...!“

Übersetzt hieß dies: ‚Verpiss Dich, Kerl! Hau ab!’. Ich wusste es. Nachdem ich auf meine Frage, ob Marie denn einen dicken Kopf nach dem gestrigen Gelage hätte, keine Antwort bekam, verdünnisierte ich mich stillschweigend. Ich dachte mir mein Teil. Sie müssen nämlich wissen, dass Maries einziges, wirklich absolut einziges und exzessives Problem darin bestand, dass sie beim Alkoholkonsum keinerlei Grenzen kannte. Ich will damit nicht andeuten, dass Marie eine Säuferin ist. Ich will lediglich veranschaulichen, dass Marie – in Gesellschaft guter Freunde – stets jene Grenze überschritt, die ‚normale’ Menschen als Selbstverständlichkeit betrachten. Glücklicherweise kommen diese ausgelassenen Exzesse nicht allzu häufig vor.

Die Klospülung. Das Signal, nach zaghaftem Klopfen an der Badtür, Einlass zu begehren. Auch ich hatte nämlich vor, meiner stressgeplagten Haut etwas Duschspaß zu gönnen.

Irgendwann waren wir fertig. Endlich. Irgendwann meinte Marie, dass sie sich genug geputzt, geschminkt und frisiert hatte. Irgendwann wurde es ja auch Zeit, sich dem Beginn eines neuen Tages zu widmen, der selbstverständlich mit Kaffee und Croissants beginnen musste. Zumindest bei mir. Marie bevorzugte zum Frühstück lieber Tee und ein Früchtemüsli. Im Gegensatz zu mir las sie auch keine Zeitung am Frühstückstisch. Im Gegensatz zu mir suchte Marie beim Frühstücken das Gespräch. Sie meinen, dass es okay ist, wenn man morgens miteinander plauscht? Finde ich auch. Ich finde es jedoch wenig sinnvoll, dass Maries ‚Morgenplausch’ nichts mit mir zu tun hatte. Marie plauschte nämlich allmorgendlich mit ihrer Freundin Sabine. Etwa 30 Minuten ertrug ich Maries fröhliches Geplapper und Geschnatter, während ich versuchte, mich auf die Zeitung zu konzentrieren.

„Ist ja toll...! Sag bloß...! Ist das wahr...? Echt...? Und sonst so...?“

Ein belangloser Satz nach dem anderen rauschte durch die Telefonleitung. Gäbe es Lauschangriffe durch ‚Big Brother’, hätte sich der Lauscher längst erschossen, weil er so viel Langeweile nicht mehr ertragen konnte. Ich gebe auch offen und unumwunden zu, dass auch mir dieser Gedanke bereits durch den Kopf geisterte. Mittlerweile allerdings lebe ich damit, beim Frühstücken ‚die Ohren zuzuschließen’. Irgendwie klappt es, denn seit einiger Zeit fällt mir das Geräusch beim Umblättern der Zeitungsseiten mehr auf, als Maries Brabbelorgien.

Marie drückte auf das rote Symbol des Mobiltelefons. Ihr Gespräch war beendet. Ich legte die Zeitung zur Seite auf den Boden, um sie nicht auf den reichlich vorhandenen Croissantkrümeln zu platzieren. Das morgendliche Prozedere war beendet. Nach einem Jahr des Zusammenlebens mit Marie wusste ich, was nun kam:

„Sag mal, Klaus... bist Du wegen irgendetwas sauer auf mich? Ist’s wegen gestern? Wegen dem Wagen? Nun komm schon, Klaus... stell Dich nicht so an. Ich helfe Dir ja auch beim Sauermachen...!“

Marie kam nicht einmal auf die Idee, ‚ihre’ Hinterlassenschaft total alleine zu entsorgen. Wie selbstverständlich ging sie davon aus, mir eine gute Tat zu erweisen, indem sie mir half. Das ist Marie, wie ich sie kenne und manchmal schätze. Was das Schätzen angeht, stand sie jedoch noch ein bisschen mehr in meiner Schuld.

„Klaus? Liebling? Wieder lieb? Na komm schon – und hol Dir einen Kuss ab...!“

Sie bemerken den kleinen und feinen Unterschied? Sie sagte nicht „Warte, ich komme und küsse Dich...!“ – sondern sie ging auch hier davon aus, dass sie bequem sitzen blieb, während ich aufstehen sollte, um mir meinen Kuss abzuholen. Und ich? Ich viel zu weicher Mann, mit dem man’s ja machen konnte? Ich? Ich stehe auch noch auf, um mir zu holen, was sie mir jovial in ihrer Gnade darreichte! Bin ich nun ein Idiot oder bin ich’s nicht? Ich bin’s. Und noch schlimmer ist, dass ich ein Idiot bin, weil ich Marie aus einem ganz anderen Grund betrüge...

Wie lange Sabine und ich schon ein Verhältnis haben? So ganz genau kann ich das eigentlich nicht sagen. Anfangs war’s eher ein harmloser Flirt mit harmlosen Blickkontakten, wenn Marie gerade mal in die andere Richtung sah. Dann aber traf ich Sabine zufällig in der Stadt, ausgerechnet, als sie ein Geschenk für Maries 31. Geburtstag kaufen wollte. Es kam, wie nun mal kam. Sabine bat mich, ihr ein paar Tipps zu geben. Sie wusste beim besten Willen nicht, was sie Marie kaufen sollte. Ich schlug ihr vor, in ein Café zu gehen, um dort eine gemeinsame ‚Geschenkstrategie’ auszuhecken. Nun ja. Wir plauderten über dieses und jenes. Wir plauderten so intensiv, dass wir uns überrascht ansahen, weil’s offenbar unendlichen Gesprächsstoff zwischen uns gab. Wir plauderten solange, bis Sabine mich mit großen unschuldigen Augen ansah und fragte:

„Willst Du’s auch...?“

Natürlich musste ich nicht erst fragen, was sie meinte. Ich wusste es. Ich wusste es so sicher, dass ich spontan aufstand, die Rechnung zahlte, Sabine an die Hand nahm – und sie zu meinem Wagen führte. Eine Viertelstunde später lagen wir in Sabines Bett. Drei Stunden später klingelte Sabines Telefon. Sie sah auf dem Display Maries Nummer. Sabine nahm das Gespräch nicht an. Sie wollte jetzt nicht da sein. Nicht für Marie. Sie wollte für mich da sein und brauchte dafür kein Telefon.

„Wir haben jetzt ein Problem...!“ sagte sie zu mir, während ihre Hand durch mein zerzaustes Haar fuhr. „Du weißt doch, dass wir nun ein echtes Problem haben, oder...?“

An diesem bewussten Abend verspätete ich mich um sieben Stunden. Logisch, dass Marie wütend war, da wir eigentlich einen gemeinsamen Kinoabend geplant hatten. Aus dem Kino war also nichts geworden. Schmollend warf Marie mir Blicke zu, die locker einen riesigen Elefanten getötet hätten. Mich töteten die Blick nicht, da ich ganz schnell schuldbewusst meinen Blick senkte. Ich faselte, glaube ich, irgendetwas von einem ‚sehr guten alten Freund, den ich zufällig und nach vielen Jahren’ in der Stadt getroffen hatte. Ich log also, dass sie die Balken bogen. Und ich log so gut, dass Marie mir offenbar jedes Wort meiner Räubergeschichte glaubte. Glücklicherweise schmollte sie sich im Schlafzimmer aus und konnte so meine tomatenroten Ohren nicht sehen, da ich mich ins Bad verzogen hatte.

Von da an traf ich mich regelmäßig mit Sabine zu etwa 3-stündigen Schäferstündchen. Sabine bestand darauf, dass Marie NIEMALS etwas erfahren durfte. SIE bestand darauf. Normalerweise sind’s doch die Männer, die solche Geheimnisse vor ihren Frauen verbergen wollen. Zugegebenermaßen wäre es auch mir furchtbar peinlich gewesen, wenn Marie etwas gemerkt hätte. Natürlich wäre unsere Beziehung auf der Stelle beendet. Ich hingegen war ganz sicher, dass ich mit einer Trennung klarkommen konnte. Besser vielleicht, als Marie – und besser auch, als Sabine.
Aber wir trennten uns nicht. Sabine und ich schliefen weiterhin miteinander. Marie war die egoistische und süße Frau, die sie immer schon war. Ich, ich war weiterhin der brave Freund Maries, der artig das Bad verließ, wenn Marie pinkeln musste. Sabine blieb die beste Freundin Maries.

Eigentlich lief alles bei uns ab, wie’s in vielen ‚modernen Beziehungen’ dieser Zeit ablief. Man lief nebenher. Man lief aneinander vorbei. Man lief sich in die Arme – und man lief vor sich selbst weg.

Sabine weiß es noch nicht.

Ich habe mir vorgenommen, Sabine heute Nachmittag anzurufen. Da ich weiß, dass sie heute wieder auf mich wartet, ist die Gelegenheit gut. Sie liegt garantiert schon im Bett, wenn ihr Telefon klingelt. Sie wird schon ungeduldig sein, weil ich noch nicht da bin. Wenn sie dann das Gespräch annimmt, werde ich ihr mitteilen, dass sie nicht länger warten muss.

Bevor ich jedoch Sabine anrufe, werde ich mich von Marie verabschieden. Keine Angst; ich werde ihr nichts von Sabine und mir erzählen, weil ich weiß, wie gut sich die Beiden verstehen. Sabines und mein Ausrutscher soll nicht der Grund dafür sein, dass sich die Freundinnen gegenseitig die Haare ausreißen. Wenn Sabine allerdings Marie selbst beichtet, was geschehen ist, ist das ihre Sache. Und Marie? Wie ich’s anstellen werde? Nun ja. Ich werde ihr sagen, dass ich das Gefühl habe, wir hätten uns zu sehr auseinander gelebt. Sie kennen diese Floskeln doch, oder? Dann werde ich ihr sagen, dass ich am nächsten Morgen bereits weg sein werde. Wenn sie will, werde ich auch schon am Abend meine Sachen zusammenpacken, um entgültig aus ihrem Leben zu verschwinden.

Sie erwarten nun die große Pointe? Sie überlegen, was denn nun der Hammer an meiner Geschichte ist? Irgendetwas fehlt? Ich habe Sie so lange mit dem Lesen der Geschichte aufgehalten, dass Sie ein ‚Recht auf Pointe’ haben?

Tut mir leid. Es gibt keine Pointe. Ich habe lediglich ein Stück Leben beschrieben, wie’s im leben ablaufen könnte. Klar, vielleicht gibt’s heute noch richtig Zoff zwischen mir und Marie. Vielleicht auch zwischen Marie und Sabine? Zwischen Sabine und mir? Kann alles sein. Aber bitte verstehen Sie, dass ich nun wirklich nicht alles aus meinem Leben vor Ihnen ausbreiten möchte, auch, wenn Sie schon eine Menge davon mitbekommen haben. Alles, was Sie erfahren haben, waren Episoden. Episoden, die es in meinem Leben niemals gab. Aber es waren auch Episoden, die es hätte geben können, oder?

So ist das Leben. Voller Überraschungen – und dann doch so langweilig wie eine Episode meines Lebens. Wenn Sie übrigens mehr wissen wollen, sollten Sie sich einmal in Ihrem Leben umsehen. Da ist’s nicht anders! Vielleicht ist’s nicht so, wie bei mir. Vielleicht ist’s fröhlicher, lustiger, trauriger, ehrlicher, verlogener oder einfallsloser. Wie’s denn auch ist, irgendwie wird’s bestimmt sein.

Ich danke für die Aufmerksamkeit, liebe Leserinnen und Leser. Spinnen Sie die Geschichte von mir, Sabine und Marie ruhig weiter. Es war nur ‚meine’ Geschichte, solange Sie in ihr gelesen haben. Ich jedenfalls bin jetzt weg. Ich bin gleich bei meiner Frau und meinen Kindern.

Hat mir Spaß gemacht, für Sie zu schreiben.

Tschüß

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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