Michael Masomi

Rückwirkend

Die Fesseln aus Metall klirrten leise, als der Wachmann Jason an der Anklagebank fest kettete. Die kleinen Ösen der Kette baumelten vor seinen Knien, die bestimmt blau waren, aber durch das Orange des Trainingsanzuges nicht zu sehen waren. Im Gerichtssaal saßen mindestens vierhundert Bürger, die alle darauf warteten, wie das Urteil in diesem neuen Beispielverfahren wohl ausgehen würde. Das Leben vieler Menschen hing von diesem Urteil ab. Sein Leben hing von diesem Urteil ab. Der Roboteranwalt nahm surrend neben ihm Platz.
„Hallo Jason!“ begrüßte er den Mann.
„Hallo Anwalt!“ sagte Jason lasch. Jason hasste Roboter. Sie waren keine Menschen, sie waren nur Dinger. Intelligente Dinger, aber dennoch nur Dinger, ohne Leben. Er hatte ein Leben und das stand auf der Kippe.
Ein Raunen ging durch den Saal, als die alte Frau ihn durch den Haupteingang betrat. Sie hatte sich sehr verändert, als Jason sie das letzte Mal sah. Das war vor fünf Jahren. Ihr Haar war jetzt total grau und die Falten hatten mehrere Autobahnen mit kompletten Kreuzen in ihrem Gesicht gebildet. Furchen wäre das richtige Wort dafür. Ihre Augen waren blass und der Mann wettete, dass sie schon heute Morgen in ihren silbernen Flachmann geschaut hatte. Sein Vetter hatte ihm erzählt, dass sie vor zwei Jahren einen leichten Schlaganfall erlitten hatte, der ließ ihr Gesicht etwas schief erscheinen.
Der Roboter stieß Jason sanft in die Rippen. „Machen Sie schon!“
Jason räusperte sich und stand von seinem Platz auf, dabei klirrten seine Ketten, wie die eines Schlossgespenstes. „Mutter, ich...Bitte...So hör doch, das ist doch nicht...“
Die alte Frau guckte ihn bitterböse an und setzte sich auf die Zeugenbank.
„Mutter!?“
Sie starrte düster auf das leere Richterpult vor sich und ignorierte ihn.
„Es hat keinen Zweck!“ sagte er zu sich selbst, als zu der Maschine, die ihn verteidigen sollte.
Schwere Stiefel gingen durch den Raum, dieses Mal waren alle Anwesenden mucksmäuschen Still. Jason drehte sich vorsichtig um und erhaschte einen Blick in das hagere Gesicht des Vollstreckers. Der Mann war um die Fünfzig, hatte Schultern wie ein Gorilla und sein weißes Haar hing schnöde bis in den Nacken. Er trug eine pechschwarze Brille auf seiner Hackennase und eine riesige Narbe zierte die rechte, fast gräulich schlaffe Wange. Er war ein Jäger, der kein Pardon kannte. Seine schwere Strahlenwaffe hing an einem Lederband über seine Schulter. Er stapfte bis neben das Richterpult und schien ins Leere zu starren, wenn man seine Augen hätte erahnen können.
Jason lief es kalt den Rücken herunter. Das konnten sie doch nicht machen, das Gesetz gallt doch nur bei schwer erziehbaren Kids. Er war über 35, seine Mutter wollte einen Präzedenzfall. Kinder sind Kinder, egal wie alt sie seien. Ob ein froschähnlicher Embryo, oder ein fünfzigjähriger Priester. Wenn sie die Eltern nicht ehrten, waren sie alle gleich! So plädierte seine Mutter vor dem obersten Gericht in München. Der dortige Richter übergab den Fall an das ethische Gericht in Hamburg, die Jasons Verhaftung veranlassten. Das war jetzt länger als ein Jahr her.
Die automatische Schiebetür an der linken Seite öffnete sich mit einem Rauschen und der Roboter der Anklage schritt auf seinen Platz. Seit mehr als fünfzig Jahren waren Maschinen die Advokaten des Volkes, da ihre lebenden Kollegen immer wieder von wilden Ehemänner, oder – Frauen, Terroristen, Banditen und sonstigem kriminellen Elementen umgebracht worden und die Kosten für den Staat in die Hohe trieben. Jason sah den kalten, kastenförmigen Androiden an. Er war eins der billigeren Modelle, die nichts menschliches an sich hatten, er hätte auch ein Colaautomat sein können. Es fehlte nur die Werbetafel. Sein Anwalt war da schon besser durchdacht. Damit sie Vertrauen wecken konnten, waren sie alle human, nur wenn man sie anfasste, spürte man, dass es keine Haut sondern Metall war. Ein Zinnmann, lachte Jason, aber ich bin nicht Dorothy und hab auch keine roten Schuhe an, die mich von hier wegbringen.
Die Panzerglasscheibe wurde vor dem Richterpult heruntergefahren und eine Computerstimme erklang: „Erheben Sie sich! Der höchste Richter des Ethikgerichts Richter Professor, Doktor, Doktor der Geistlichkeit Röben, betritt den Saal!“
Ein kleiner, geknickter, alter Mann in einer roten Robe tauchte hinter dem Pult auf. Wurde wie ein Rockstar aus den Katakomben nach oben gefahren und er blickte böse in den Gerichtssaal. Plötzlich sprang aus den Reihen der Besucher ein Mann auf, rannte durch die Massen auf die Glasscheibe zu und öffnete seinen Mantel. Er entblößte ein Dutzend Rohrbomben, die er sich wie einen Gürtel um den Bauch gebunden hatte und schrie: „Abtreibung ist Mord!“
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fuhr eine Glasglocke von oben herab und stülpte sich über den Mann, als dieser den Bombengürtel zündete. Die Explosion verpuffte geräuschlos und die Fleischfetzen liefen an dem glatten Glas herunter.
„So, können wir nach dieser kleinen Showeinlage beginnen?“ fragte Röben, seine Stimme klang, als wären seine Stimmbänder aus Stacheldraht. „Herr Staatsanwalt, was verhandeln wir heute?“
„Wir verhandeln heute den Antrag der Zeugin Möller, über ihr Recht der rückwirkenden Abtreibung. Das oberste Gericht in München verwies Aktenzeichen 2077 an den ehrenwerten Richter Röber um Klärung in der ethischen Frage. Und sollte das Ergebnis im Sinne der Zeugin sein, zur Vollstreckung des Urteils. Dazu steht Oberjagdtmeister Steiner bereit Euer Ehren.“
Röber hustete kurz. „Wie steht die Staatsanwaltschaft dazu?“
Der Logik zufolge müsste das Gericht den Antrag stattgeben. Paragraph 218 Abschnitt D 34 hat den Eltern dieses Landes die alleinige Entscheidungsgewalt über das Leben ihrer selbst geborenen und leiblichen Kinder überschrieben. 2147 hat das Ethikgericht unter der Leitung des ehrenwerten Richters März das Tötungsalter von 18 auf 23 festgelegt, nach dem das Zusatzgesetz über die absolute Verehrung der Eltern im Paragraphen 314 bestimmt wurde. Eltern die mit dem Lebenswandel ihrer Sprösslinge nicht zufrieden waren, bekamen nach Klärung am hiesigen Gericht die Erlaubnis für 218D34 zugesprochen. Die Zeugin Frau Möller hat Beweise, dass der Angeklagte gegen Paragraph 314 verstoßen hat.“ Der Colaautomat ratterte zwei Mal und schwieg dann.
Röben massierte sein spitzes Kinn mit Daumen und Zeigefinger. Blickte mitleidig auf Frau Möller und mit hasserfüllten Augen auf Jason. „314? Ja? Sie denken, Sie müssen Vater und Mutter nicht ehren? Hm?“
Bevor ihn der Roboteranwalt zurück halten konnte, sagte Jason: „Mein Vater ist lange tot! Diese Frau hat ihn in den Tod getrieben!“
„Die Staatsanwaltschaft nimmt dies als Tatbestand auf. §314 erlaubt den Kindern nicht unpfleglich mit ihren Eltern umzugehen. Dies hat Herr Möller vor 399 Bürgern gemacht. Die Staatsanwaltschaft ruft das Gericht auf sich über §218D34 in diesen Fall zu äußern und eine Erweiterung ins Gesetzbuch zu veranlassen.“ Der Roboter piepte noch einmal, dann war er nur noch ein Stück Metall, was sich nicht rührte.
Röber wandte sich an den Anwalt. „Verteidiger was sagen Sie dazu?“
„Euer Ehren, ich möchte diesen Antrag ablehnen, weil es das Leben beleidigt. Sie wissen, dass ich gegen jegliche Art von Abtreibung bin. Die Logik, die mein Kollege anführte, verbietet es, dass Leben einfach so ausgelöscht werden darf. Der Mensch fragt seine Eltern nicht nach der Erlaubnis zu leben. Er wird einfach in die Welt gesetzt ob er will, oder nicht. Paragraph 218 nimmt ihm auch das Recht auf einen ungefragten Tod. Die Gentechnik hat immer mehr Erfolg dabei, das Leben der Menschen zu verlängern. Herr Möller ist 35, seine Mutter 75, ihre Mutter könnte nach heutigem Stand der Dinge noch Leben. Wie lange sollen Eltern das Recht auf Tötung ihres Kindes erhalten?
Nehmen wir an, ein sechzigjähriger Demenzkranker vergisst, wer seine Eltern sind, die weit über Hundert, aber noch fit im Kopf sind, könnten auf die Idee kommen und §218 für sich s in Anspruch nehmen. Wo soll das enden Euer Ehren?“
Jason war überrascht, dass eine Maschine so für das Leben eintrat. Seine Frau hatte ihm die beste Verteidigung besorgt, die sie für ihr Geld bekamen. Die Roboter der Seriennummer 354 Gysi009 waren einem der Mitbegründer der Linkspartei nachempfunden, der selbst jahrelang als Anwalt tätig war, bevor er 2010 zum Kanzler gewählt wurde. Der Androide hob die Lippen von seinen Zähnen aus weiß getünchten Granit und lächelte seinen Mandanten siegessicher an.
„Ihre Ablehnung wird abgelehnt!“ verkündete Röber.
„Die nehmen nie eine Ablehnung an!“ Der Roboteranwalt sackte in sich zusammen. „Faschistenstaat!“
„Das haben wir gehört. Das gibt einen weiteren Punkt, auf Ihrer Lizenz, Kollege!“
Der Richter nahm den Hammer und schlug auf das Pult.
„Es ergeht folgender Beschluss: Das Gesetzbuch wird um einen Zusatz erweitert. Eltern soll es erlaubt werden, egal in welchem Alter sich ihre Kinder befinden, einen Antrag auf 218 zustellen, sollte 314 bestätigt werden. Ab Stichtag Heute, 0900 Uhr nach der förderistischen Zeittafel der Regierung in Deutschland.“
Die Förderisten waren ein Volk aus einer anderen Galaxis, die die Erde als ihr Eigentum ansahen und dementsprechend verwalteten. Sie waren eine Quallenart und konnten auf dem eroberten Planeten nicht leben, so ernannten sie Statthalter aus anderen eroberten Planeten. Zur Zeit war es ein Stammesfürst aus Afghanistan. Der erste Mensch seit fünfzig Jahren, der diesen Posten inne hatte.
„Nun wollen wir uns der Klärung des Falles Möller annehmen, Ihre Anträge?“
„Schuldig im Sinne 314!“ Der Colaautomat.
„Nicht schuldig!“ Der Advokat.
„Hören wir die Zeugin.“ der Richter wies auf Jasons Mutter.
„Mein Sohn hat mich seit fünf Jahren nicht mehr besucht. Er und seine Frau weigern sich mir Enkelkinder zu schenken. Sie treiben jedes Mal ab, wenn seine hübsche Schlampe schwanger ist. Meinen Enkel, der vor sieben Jahren geboren wurde, trieben sie rückwirkend ab, weil seine DNA aussagte, dass er nur als Fischer tauge. Sie hatten angst, dass dies die förderistische Regierung verstimmen könnte. Vor zwei Jahren hatte ich einen Schlaganfall, mein Neffe kümmerte sich die ganze Zeit um mich und mein feiner Herr Sohn kam mich nicht einmal besuchen, selbst als ihn das Krankenhaus zwang, schickte er nur sein Weibchen. Ich möchte daher die rückwirkende Abtreibung beantragen.“
„Du hast mich Wahnsinnig gemacht! Wie Papa!“
„Angeklagter, mäßigen Sie sich!“ schrie Röber.
„Ich habe dich geboren! Ich habe dich gewickelt, ich habe meine Figur an dich verschenkt! Du bist undankbar, verdorben und du hast meinen Lukas umgebracht. Wäre er halt ohne Arbeit durchs Leben gezogen, dass machen doch so viele. Aber euch war er zu viel Arbeit. Ihr wolltet eure Zeit nicht mit dem Erziehen von Kinder vertrödeln. Ich fordere für mich das selbe Recht, wie ihr!“ Der Kopf der alten Frau lief rot an.
„Euer Ehren!“ meldete sich der Advokat. „Ich beantrage die Befangenheit der Zeugin festzustellen. Ich vermute niedrige Beweggründe in ihrem Handeln.“
„Antrag abgelehnt!“
„Euer Ehren!“
„Sie halten den Mund! Sie haben noch zwei Gutscheine, dann sind sie raus! Also wollen Sie die für ihre Kampagne nutzen gegen dieses Gesetz, oder für diesen Fall? Sie wissen, dass Sie verschrottet werden!“
Der Anwalt schwieg.
„Es ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird schuldig gesprochen im Sinne §314. Die rückwirkende Abtreibung wird hiermit genehmigt und ausgeführt.“
Der Vollstrecker rührte sich kurz, die Waffe rutschte von seinen Schultern und landete gekonnt in seinen behandschuhten Händen. Der Blitzstrahl leuchtete auf und traf Jason mit voller Wucht und verdampfte ihn. Der Mann schrie nicht einmal. Der schwarze Mantel des Vollstreckers bauschte sich auf. Kondenswasser spritzte auf den humanen Roboteranwalt und bedeckte dessen Stirn. Die leeren Ketten fielen klirrend zu Boden. Jason Möller war nicht mehr da.
„Die Verhandlung ist geschlossen. Dem deutschen Volke wurde Recht gewehrt!“ verkündete die Computerstimme. Richter Röber versank wieder in dem Boden, aus dem er aufgestiegen war und der Colaautomat trat aus der Seitentüre. Die Glasscheibe wurde hochgefahren und die 399 Menschen verließen den Saal.
Nur der Androide und die Mutter blieben zurück.
„So viel Verschwendung von Leben. Es tut mir Leid um Ihren Sohn, wenn ich weinen könnte, würde ich es tun!“ er schritt an ihr vorbei aus dem Gerichtssaal.
„Ja, er war ein guter Junge!“ Sie schlurfte über den Kachelboden.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.11.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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