Die
Fesseln aus Metall klirrten leise, als der Wachmann Jason an der
Anklagebank fest kettete. Die kleinen Ösen der Kette baumelten
vor seinen Knien, die bestimmt blau waren, aber durch das Orange des
Trainingsanzuges nicht zu sehen waren. Im Gerichtssaal saßen
mindestens vierhundert Bürger, die alle darauf warteten, wie das
Urteil in diesem neuen Beispielverfahren wohl ausgehen würde.
Das Leben vieler Menschen hing von diesem Urteil ab. Sein Leben hing
von diesem Urteil ab. Der Roboteranwalt nahm surrend neben ihm Platz.
„Hallo Jason!“
begrüßte er den Mann.
„Hallo Anwalt!“
sagte Jason lasch. Jason hasste Roboter. Sie waren keine Menschen,
sie waren nur Dinger. Intelligente Dinger, aber dennoch nur Dinger,
ohne Leben. Er hatte ein Leben und das stand auf der Kippe.
Ein
Raunen ging durch den Saal, als die alte Frau ihn durch den
Haupteingang betrat. Sie hatte sich sehr verändert, als Jason
sie das letzte Mal sah. Das war vor fünf Jahren. Ihr Haar war
jetzt total grau und die Falten hatten mehrere Autobahnen mit
kompletten Kreuzen in ihrem Gesicht gebildet. Furchen wäre das
richtige Wort dafür. Ihre Augen waren blass und der Mann
wettete, dass sie schon heute Morgen in ihren silbernen Flachmann
geschaut hatte. Sein Vetter hatte ihm erzählt, dass sie vor zwei
Jahren einen leichten Schlaganfall erlitten hatte, der ließ ihr
Gesicht etwas schief erscheinen.
Der
Roboter stieß Jason sanft in die Rippen. „Machen Sie schon!“
Jason räusperte
sich und stand von seinem Platz auf, dabei klirrten seine Ketten,
wie die eines Schlossgespenstes. „Mutter, ich...Bitte...So hör
doch, das ist doch nicht...“
Die
alte Frau guckte ihn bitterböse an und setzte sich auf die
Zeugenbank.
„Mutter!?“
Sie
starrte düster auf das leere Richterpult vor sich und ignorierte
ihn.
„Es
hat keinen Zweck!“ sagte er zu sich selbst, als zu der Maschine,
die ihn verteidigen sollte.
Schwere Stiefel gingen
durch den Raum, dieses Mal waren alle Anwesenden mucksmäuschen
Still. Jason drehte sich vorsichtig um und erhaschte einen Blick in
das hagere Gesicht des Vollstreckers. Der Mann war um die Fünfzig,
hatte Schultern wie ein Gorilla und sein weißes Haar hing
schnöde bis in den Nacken. Er trug eine pechschwarze Brille auf
seiner Hackennase und eine riesige Narbe zierte die rechte, fast
gräulich schlaffe Wange. Er war ein Jäger, der kein Pardon
kannte. Seine schwere Strahlenwaffe hing an einem Lederband über
seine Schulter. Er stapfte bis neben das Richterpult und schien ins
Leere zu starren, wenn man seine Augen hätte erahnen können.
Jason
lief es kalt den Rücken herunter. Das konnten sie doch nicht
machen, das Gesetz gallt doch nur bei schwer erziehbaren Kids. Er war
über 35, seine Mutter wollte einen Präzedenzfall. Kinder
sind Kinder, egal wie alt sie seien. Ob ein froschähnlicher
Embryo, oder ein fünfzigjähriger Priester. Wenn sie die
Eltern nicht ehrten, waren sie alle gleich! So plädierte seine
Mutter vor dem obersten Gericht in München. Der dortige Richter
übergab den Fall an das ethische Gericht in Hamburg, die Jasons
Verhaftung veranlassten. Das war jetzt länger als ein Jahr her.
Die
automatische Schiebetür an der linken Seite öffnete sich
mit einem Rauschen und der Roboter der Anklage schritt auf seinen
Platz. Seit mehr als fünfzig Jahren waren Maschinen die
Advokaten des Volkes, da ihre lebenden Kollegen immer wieder von
wilden Ehemänner, oder – Frauen, Terroristen, Banditen und
sonstigem kriminellen Elementen umgebracht worden und die Kosten für
den Staat in die Hohe trieben. Jason sah den kalten, kastenförmigen
Androiden an. Er war eins der billigeren Modelle, die nichts
menschliches an sich hatten, er hätte auch ein Colaautomat sein
können. Es fehlte nur die Werbetafel. Sein Anwalt war da schon
besser durchdacht. Damit sie Vertrauen wecken konnten, waren sie alle
human, nur wenn man sie anfasste, spürte man, dass es keine Haut
sondern Metall war. Ein Zinnmann, lachte Jason, aber ich bin nicht
Dorothy und hab auch keine roten Schuhe an, die mich von hier
wegbringen.
Die
Panzerglasscheibe wurde vor dem Richterpult heruntergefahren und eine
Computerstimme erklang: „Erheben Sie sich! Der höchste Richter
des Ethikgerichts Richter Professor, Doktor, Doktor der
Geistlichkeit Röben, betritt den Saal!“
Ein
kleiner, geknickter, alter Mann in einer roten Robe tauchte hinter
dem Pult auf. Wurde wie ein Rockstar aus den Katakomben nach oben
gefahren und er blickte böse in den Gerichtssaal. Plötzlich
sprang aus den Reihen der Besucher ein Mann auf, rannte durch die
Massen auf die Glasscheibe zu und öffnete seinen Mantel. Er
entblößte ein Dutzend Rohrbomben, die er sich wie einen
Gürtel um den Bauch gebunden hatte und schrie: „Abtreibung ist
Mord!“
Wie
ein Blitz aus heiterem Himmel fuhr eine Glasglocke von oben herab und
stülpte sich über den Mann, als dieser den Bombengürtel
zündete. Die Explosion verpuffte geräuschlos und die
Fleischfetzen liefen an dem glatten Glas herunter.
„So,
können wir nach dieser kleinen Showeinlage beginnen?“ fragte
Röben, seine Stimme klang, als wären seine Stimmbänder
aus Stacheldraht. „Herr Staatsanwalt, was verhandeln wir heute?“
„Wir
verhandeln heute den Antrag der Zeugin Möller, über ihr
Recht der rückwirkenden Abtreibung. Das oberste Gericht in
München verwies Aktenzeichen 2077 an den ehrenwerten Richter
Röber um Klärung in der ethischen Frage. Und sollte das
Ergebnis im Sinne der Zeugin sein, zur Vollstreckung des Urteils.
Dazu steht Oberjagdtmeister Steiner bereit Euer Ehren.“
Röber hustete
kurz. „Wie steht die Staatsanwaltschaft dazu?“
Der
Logik zufolge müsste das Gericht den Antrag stattgeben.
Paragraph 218 Abschnitt D 34 hat den Eltern dieses Landes die
alleinige Entscheidungsgewalt über das Leben ihrer selbst
geborenen und leiblichen Kinder überschrieben. 2147 hat das
Ethikgericht unter der Leitung des ehrenwerten Richters März
das Tötungsalter von 18 auf 23 festgelegt, nach dem das
Zusatzgesetz über die absolute Verehrung der Eltern im
Paragraphen 314 bestimmt wurde. Eltern die mit dem Lebenswandel ihrer
Sprösslinge nicht zufrieden waren, bekamen nach Klärung am
hiesigen Gericht die Erlaubnis für 218D34 zugesprochen. Die
Zeugin Frau Möller hat Beweise, dass der Angeklagte gegen
Paragraph 314 verstoßen hat.“ Der Colaautomat ratterte zwei
Mal und schwieg dann.
Röben massierte
sein spitzes Kinn mit Daumen und Zeigefinger. Blickte mitleidig auf
Frau Möller und mit hasserfüllten Augen auf Jason. „314?
Ja? Sie denken, Sie müssen Vater und Mutter nicht ehren? Hm?“
Bevor ihn der
Roboteranwalt zurück halten konnte, sagte Jason: „Mein Vater
ist lange tot! Diese Frau hat ihn in den Tod getrieben!“
„Die
Staatsanwaltschaft nimmt dies als Tatbestand auf. §314 erlaubt
den Kindern nicht unpfleglich mit ihren Eltern umzugehen. Dies hat
Herr Möller vor 399 Bürgern gemacht. Die Staatsanwaltschaft
ruft das Gericht auf sich über §218D34 in diesen Fall zu
äußern und eine Erweiterung ins Gesetzbuch zu
veranlassen.“ Der Roboter piepte noch einmal, dann war er nur noch
ein Stück Metall, was sich nicht rührte.
Röber wandte sich
an den Anwalt. „Verteidiger was sagen Sie dazu?“
„Euer Ehren, ich
möchte diesen Antrag ablehnen, weil es das Leben beleidigt. Sie
wissen, dass ich gegen jegliche Art von Abtreibung bin. Die Logik,
die mein Kollege anführte, verbietet es, dass Leben einfach so
ausgelöscht werden darf. Der Mensch fragt seine Eltern nicht
nach der Erlaubnis zu leben. Er wird einfach in die Welt gesetzt ob
er will, oder nicht. Paragraph 218 nimmt ihm auch das Recht auf einen
ungefragten Tod. Die Gentechnik hat immer mehr Erfolg dabei, das
Leben der Menschen zu verlängern. Herr Möller ist 35, seine
Mutter 75, ihre Mutter könnte nach heutigem Stand der Dinge noch
Leben. Wie lange sollen Eltern das Recht auf Tötung ihres Kindes
erhalten?
Nehmen wir an, ein
sechzigjähriger Demenzkranker vergisst, wer seine Eltern sind,
die weit über Hundert, aber noch fit im Kopf sind, könnten
auf die Idee kommen und §218 für sich s in Anspruch nehmen.
Wo soll das enden Euer Ehren?“
Jason war überrascht,
dass eine Maschine so für das Leben eintrat. Seine Frau hatte
ihm die beste Verteidigung besorgt, die sie für ihr Geld
bekamen. Die Roboter der Seriennummer 354 Gysi009 waren einem der
Mitbegründer der Linkspartei nachempfunden, der selbst jahrelang
als Anwalt tätig war, bevor er 2010 zum Kanzler gewählt
wurde. Der Androide hob die Lippen von seinen Zähnen aus weiß
getünchten Granit und lächelte seinen Mandanten
siegessicher an.
„Ihre Ablehnung wird
abgelehnt!“ verkündete Röber.
„Die
nehmen nie eine Ablehnung an!“ Der Roboteranwalt sackte in sich
zusammen. „Faschistenstaat!“
„Das
haben wir gehört. Das gibt einen weiteren Punkt, auf Ihrer
Lizenz, Kollege!“
Der
Richter nahm den Hammer und schlug auf das Pult.
„Es
ergeht folgender Beschluss: Das Gesetzbuch wird um einen Zusatz
erweitert. Eltern soll es erlaubt werden, egal in welchem Alter sich
ihre Kinder befinden, einen Antrag auf 218 zustellen, sollte 314
bestätigt werden. Ab Stichtag Heute, 0900 Uhr nach der
förderistischen Zeittafel der Regierung in Deutschland.“
Die
Förderisten waren ein Volk aus einer anderen Galaxis, die die
Erde als ihr Eigentum ansahen und dementsprechend verwalteten. Sie
waren eine Quallenart und konnten auf dem eroberten Planeten nicht
leben, so ernannten sie Statthalter aus anderen eroberten Planeten.
Zur Zeit war es ein Stammesfürst aus Afghanistan. Der erste
Mensch seit fünfzig Jahren, der diesen Posten inne hatte.
„Nun
wollen wir uns der Klärung des Falles Möller annehmen, Ihre
Anträge?“
„Schuldig im Sinne
314!“ Der Colaautomat.
„Nicht schuldig!“
Der Advokat.
„Hören wir die
Zeugin.“ der Richter wies auf Jasons Mutter.
„Mein Sohn hat mich
seit fünf Jahren nicht mehr besucht. Er und seine Frau weigern
sich mir Enkelkinder zu schenken. Sie treiben jedes Mal ab, wenn
seine hübsche Schlampe schwanger ist. Meinen Enkel, der vor
sieben Jahren geboren wurde, trieben sie rückwirkend ab, weil
seine DNA aussagte, dass er nur als Fischer tauge. Sie hatten angst,
dass dies die förderistische Regierung verstimmen könnte.
Vor zwei Jahren hatte ich einen Schlaganfall, mein Neffe kümmerte
sich die ganze Zeit um mich und mein feiner Herr Sohn kam mich nicht
einmal besuchen, selbst als ihn das Krankenhaus zwang, schickte er
nur sein Weibchen. Ich möchte daher die rückwirkende
Abtreibung beantragen.“
„Du
hast mich Wahnsinnig gemacht! Wie Papa!“
„Angeklagter,
mäßigen Sie sich!“ schrie Röber.
„Ich
habe dich geboren! Ich habe dich gewickelt, ich habe meine Figur an
dich verschenkt! Du bist undankbar, verdorben und du hast meinen
Lukas umgebracht. Wäre er halt ohne Arbeit durchs Leben gezogen,
dass machen doch so viele. Aber euch war er zu viel Arbeit. Ihr
wolltet eure Zeit nicht mit dem Erziehen von Kinder vertrödeln.
Ich fordere für mich das selbe Recht, wie ihr!“ Der Kopf der
alten Frau lief rot an.
„Euer Ehren!“
meldete sich der Advokat. „Ich beantrage die Befangenheit der
Zeugin festzustellen. Ich vermute niedrige Beweggründe in ihrem
Handeln.“
„Antrag abgelehnt!“
„Euer Ehren!“
„Sie
halten den Mund! Sie haben noch zwei Gutscheine, dann sind sie raus!
Also wollen Sie die für ihre Kampagne nutzen gegen dieses
Gesetz, oder für diesen Fall? Sie wissen, dass Sie verschrottet
werden!“
Der
Anwalt schwieg.
„Es
ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird schuldig gesprochen im
Sinne §314. Die rückwirkende Abtreibung wird hiermit
genehmigt und ausgeführt.“
Der
Vollstrecker rührte sich kurz, die Waffe rutschte von seinen
Schultern und landete gekonnt in seinen behandschuhten Händen.
Der Blitzstrahl leuchtete auf und traf Jason mit voller Wucht und
verdampfte ihn. Der Mann schrie nicht einmal. Der schwarze Mantel
des Vollstreckers bauschte sich auf. Kondenswasser spritzte auf den
humanen Roboteranwalt und bedeckte dessen Stirn. Die leeren Ketten
fielen klirrend zu Boden. Jason Möller war nicht mehr da.
„Die
Verhandlung ist geschlossen. Dem deutschen Volke wurde Recht
gewehrt!“ verkündete die Computerstimme. Richter Röber
versank wieder in dem Boden, aus dem er aufgestiegen war und der
Colaautomat trat aus der Seitentüre. Die Glasscheibe wurde
hochgefahren und die 399 Menschen verließen den Saal.
Nur
der Androide und die Mutter blieben zurück.
„So
viel Verschwendung von Leben. Es tut mir Leid um Ihren Sohn, wenn ich
weinen könnte, würde ich es tun!“ er schritt an ihr
vorbei aus dem Gerichtssaal.
„Ja,
er war ein guter Junge!“ Sie schlurfte über den Kachelboden.