Ein gelber Morgenstreif am Horizont. Endlich, nach dieser langen, durchwachten Bahnfahrt von Berlin nach Kempten. Mit müden Händen flocht ich meinen aufgelösten Zopf. Die Ringe unter den Augen hoben nicht gerade mein Selbstbewusstsein.
Erschöpft stellte ich den Koffer ab, studierte den Fahrplan.
„Suchen Sie Anschluss?“ fragte der Stationsvorsteher freundlich.
„Danke.“
Erst einmal das Gepäck im Schließfach verstauen, eine Zeitung kaufen und in der ruhigen, kleinen Gaststätte frühstücken. Sonnenlicht sickerte durchs Fenster.
Unauffällig beobachtete ich die Menschen, wie sie die Halle durchquerten, um Gerhard rechtzeitig zu auszumachen.
Halb zehn. Ich brach langsam zum Bahnsteig auf, ging hin und her, musterte die Reisenden, die Wartenden. Er befand sich nicht unter ihnen.
Sollte er verschlafen haben oder verhindert sein, stand mir ein langer Nachmittag bevor. Ich wollte auf jeden Fall seine Stadt besichtigen, eingehender, als bei dem Einkaufsbummel vor sechs Wochen.
Plötzlich stand er vor mir, elegant, ich in abgetragenen Jeans, ein Kontrastprogramm.
Seinen Wagen hatte ich auch schon lange nicht mehr von innen erblickt. Zu einem Frühstück konnte er mich nicht mehr einladen, dafür zu einem Kännchen Kaffee in einer Konditorei. Meine Müdigkeit war verflogen. Ich konnte mich voll auf ihn konzentrieren.
Ich erzählte ihm von meiner langen Reise, der Silvesterfete und der geräumigen Diskothek „Riverboat“ in Berlin.
Unterwegs zeigte er mir die Gegend, in der er wohnte, eine Häuserreihe, von sanftem Dunst verschleiert.
Die Landschaft schien wie gemalt. Jede Kontur scharf im klaren Licht, der Schnee blendend in der Sonne. Ich ließ diese Stimmung auf mich wirken.
Für ein zweistündiges Rendezvous hatte ich diese lange Fahrt auf mich genommen, obwohl ich eine viel kürzere Strecke für mein Endziel Freiburg hätte wählen können.
Ich lächelte ein wenig über mich, aber Gefühle spielten eben eine wichtige Rolle.
„Du hast von mir noch nichts zu Weihnachten bekommen.“ Er zog eine kleine, dunkelrote Schatulle hervor, darin ein Silberring mit fünf winzigen Granaten.
Er sagte nicht viel dazu, ich auch nicht, aber ich fand das einfach rührend. Eine Welle der Zuneigung durchströmte mich. Ich schloss ihn noch mehr in mein Herz, nicht wegen des Geschenkes, sondern aus Freude über das Wiedersehen.
Der Tag, die Stimmung, unsere Begegnung, alles passte so harmonisch zusammen.
Wir sprachen nicht viel, umarmten uns, kuschelten uns nur aneinander, erlebten unser Beisammensein.
Bald nahte der Abschied, er musste zum Dienst. Bis mein Anschlusszug fuhr, durchstreifte ich noch die verschneite, sonnenglitzernde Stadt, sie wirkte freundlich, warm, hell. Sonne und Schnee stimmten mich glücklich. Leichtfüßig wanderte ich ein Stück in die glänzende Weite zu einem Wäldchen unter dem blauen Winterhimmel.
Als ich im Zug saß, schaute ich aus dem Fenster und gewahrte am Stellwerk einen dunkelhaarigen, bärtigen Mann, dem ich winkte. Ein unsichtbares Band von Gedanken und Gefühlen spannte sich durch Zeit und Entfernung und die glückliche Erinnerung reiste mit.
© Inge Hornisch
Eine lebendige Erinnerung an den sonnigen 03. Januar 1982