Klaus-Peter Behrens

Das Tor zwischen den Welten, Teil 21

 

Je näher sie der Insel kamen, desto abweisender erschien sie ihnen. Wie eine uneinnehmbare Festungsmauer ragten die Klippen steil in den Nachthimmel auf. Dean schätzte ihre Höhe auf rund zweihundert Meter. Wie sie da hoch kommen sollten, war ihm völlig schleierhaft. Doch damit konnte er sich später immer noch beschäftigen. Jetzt galt es zunächst, den kleinen Strand sicher zu erreichen. Das war alles andere als leicht. Gart hätte nicht gedacht, dass er sich einmal nach der ruhigen Überfahrt zu dem Schiffswrack zurücksehnen würde. In der Tat trieb das Boot eher wie ein Korken auf der unruhigen See, und Meister Reno vi´Eren am Steuerruder hatte alle Hände voll zu tun. Auf den Ruderbänken saßen Gart, Dean, Tom und Baumbatz und ruderten sich die Seele aus dem Leib. In den riesigen Händen des Trolls wirkte das Ruder wie ein Zahnstocher, und seine kräftigen Ruderbewegungen führten dazu, dass der Zauberer ständig gegen lenken mußte, um das Boot auf Kurs zu halten.

Im Bug hatten es sich Wirdnix und Myrana "bequem" gemacht. Ihre Aufgabe bestand darin, vor Hindernissen im Wasser zu warnen. Das war in der Tat erforderlich. Etliche Male verfehlten sie nur um Haaresbreite die tückischen Felsen, was Wirdnix nahe an den Herzinfarkt brachte. Doch der Gott des Meeres hatte anscheinend einen guten Tag, oder er war anderweitig beschäftigt, wie auch immer, die Gefährten erreichten trotz Wirdnixs ständigem Gejammer völlig unbeschadet ihr Ziel. "Gute Arbeit", lobte Meister Reno vi´Eren, als das Boot knirschend auf dem Sand aufsetzte.

Endlich waren sie auf der Schwarzen Insel gelandet.

Schnell wurde das Boot auf den Strand hoch gezogen, um zu verhindern, dass es sich selbständig machen würde. Nachdem das erledigt war, hatten sie zum ersten Mal die Muße, ihre nächste Etappe näher in Augenschein zu nehmen. Das war alles andere erbaulich. Dean sank das Herz bei der Vorstellung, die senkrechte Klippe erklimmen zu müssen, in die Hose. So schwer hatte er sich die Befreiungsaktion nicht vorgestellt. "Wenigstens hat der Regen nachgelassen", versuchte er, Optimismus zu verbreiten.

Während sie sich zur Besprechung zusammenfanden, sprach Wirdnix das aus, was alle dachten: "Um da hochzukommen, brauche ich Flügel." Schnaufend setzte er sich auf das dicke Zauberbuch, das er aus dem Boot herbeigeschleppt hatte.

"Ich glaube, da läßt sich was machen", sagte Meister Reno vi´Eren. Wirdnix sah ihn entsetzt an, doch der Zauberer winkte beschwichtigend ab.

"Keine Angst, an Flügel hatte ich nicht gedacht", beruhigte er ihn.

"Aber an Saugnäpfe", flüsterte Gart dem Gnom ins Ohr. Während der erbleichte und erschrocken seine Hände auf verräterische Anzeichen untersuchte, führte Meister Reno vi´Eren aus, was ihm in den Sinn gekommen war. "Weiter hinten gibt es einen schmalen Einschnitt", erklärte er. "Dort müssen wir hinauf."

"Den habe ich gesehen, aber das wird kein Zuckerschlecken werden", wandte Tom ein.

"Wir sind auch nicht hier, um Zucker zu schlecken, sondern um meine Freunde zu befreien", erwiderte Myrana scharf. "Wenn du zu ängstlich bist, kannst du ja hierbleiben."

"Ich leiste ihm auch Gesellschaft", schlug Wirdnix hoffnungsvoll vor.

"Keiner bleibt hier", sagte Meister Reno vi´Eren energisch. "Leider teile ich Toms Befürchtungen. Der Spalt ist sehr schmal und steigt steil an. Ich für meinen Teil komme da nicht hinauf und Wirdnix, Gart und Baumbatz ..."

Er ließ die Worte auf die anderen wirken.

"Und was sollen wir nun machen?", fragte Gart.

"Zaubern", erwiderte Meister Reno vi´Eren fröhlich, scheuchte Wirdnix von dem Buch herunter und begann sogleich, emsig darin zu blättern.

"Nur damit kein Mißverständnis aufkommt, wir fühlen uns in unserer Haut ganz wohl", wandte Dean vorsichtig ein, wurde von Meister Reno vi´Eren aber ignoriert.

"Das könnte klappen", murmelte der vor sich hin. "Wirdnix!"

Der Gnom zuckte erschrocken zusammen.

"Ja", brachte er ängstlich krächzend hervor.

"Trag das und komm mit." Damit drückte Meister Reno vi´Eren ihm das aufgeschlagene Buch in die Hand und marschierte zielstrebig auf den Einschnitt zu. Die anderen folgten neugierig. Aus der Nähe sah das Ganze noch gefährlicher aus. Der Anblick des nassen, fast senkrecht in die Höhe ragenden Spaltes, ließ die Gefährten schaudern. Insbesondere Gart mit seinen kurzen Beinen betrachtete ihn mit Entsetzen.

"Tretet besser zurück", forderte Meister Reno vi´Eren die Freunde auf, die diesem Rat, mit Ausnahme von Wirdnix, der das Zauberbuch halten mußte, gerne nachkamen. Nur Myrana war ungeduldig. "Beeilt Euch. Wenn Euer Zauber nicht wirkt, werde ich notfalls auch allein dort hinaufklettern."

"Dann komme ich mit", sagte Tom bestimmt und erntete dafür einen bewundernden Blick von Myrana, wie Dean eifersüchtig feststellte.

"Ich auch", schloß er sich an, wobei er insgeheim darum betete, dass Meister Reno vi´Eren eine Lösung finden möge, damit ihm das erspart bliebe. Gart und Baumbatz hingegen warteten lieber erst einmal ab, bevor sie sich zu waghalsigen Klettertouren verpflichteten. Für beide würde es ohne magische Hilfe nahezu unmöglich werden, den steilen Einschnitt zu bewältigen. Der eine war zu klein, der andere zu groß und unbeholfen für eine derart schwierige Klettertour. Während sie sich die Folgen eines möglichen Absturzes ausmalten, zitierte Meister Reno vi´Eren in schon bekannter Weise, magische Worte in einer unbekannten Sprache. Langsam begann sich ein Nebel entlang der Spalte zu bilden, der in den unterschiedlichsten Farben leuchtete. Meister Reno vi´Eren setzte einen zufriedenen Gesichtsausdruck auf. Der Nebel leuchtete jetzt kräftiger und erinnerte Tom an eine aufwendige Lightshow. Das Ganze wäre hübsch anzusehen gewesen, hätte dahinter nicht die hohe Erwartungshaltung gestanden. Als sich der Nebel schließlich wieder verzog, staunten die Gefährten nicht schlecht, als sie das Ergebnis zu sehen bekamen. Den Einschnitt wand sich nun eine steile Treppe hoch. Sie war breit genug für einen Mann und stellte harte Ansprüche an die Schwindelfreiheit, gleichwohl war sie eine deutliche Verbesserung.

"Eigentlich sollte es ein Aufzug werden", murmelte Meister Reno vi´Eren enttäuscht, doch den Gefährten genügte die Treppe vollauf. Sogleich machten sie sich zum Aufstieg bereit; denn die Zeit drängte. Über die Marschordnung wurde schnell abgestimmt. Tom, der schon Erfahrung im Bergsteigen hatte und schwindelfrei war, sollte vorangehen, gefolgt von Myrana die als Waldelfin ebenfalls Klettern gewohnt war, wenn auch nicht an steilen Klippen. Der Dritte im Bunde war der treue Baumbatz, dann kam Gart. Das Schlußlicht bildeten Dean, Meister Reno vi´Eren und Wirdnix, da sie über die schlechteste Kondition verfügten. Jede Stufe war ungefähr vierzig Zentimeter hoch, und so würden die Gefährten bereits nach kurzer Zeit ihre protestierenden Muskeln bemerken. Alle, außer Wirdnix, waren mit dieser Einteilung einverstanden.

"Warum bin ich der Letzte in dieser Runde?", beschwerte er sich.

"Weil es am wahrscheinlichsten ist, dass du abstürzt, und dann reißt du niemanden mit in den Abgrund. Ist doch vernünftig, oder?", erklärte ihm Gart nüchtern. Wirdnix konnte diese Ansicht ganz und gar nicht teilen. Auch Meister Reno vi´Eren meldete Zweifel an. "Wenn er runterfällt, verlieren wir auch das Zauberbuch", gab er zu bedenken.

"Guter Hinweis", erwiderte Myrana. "Ich denke, es wäre besser, wenn diesmal Baumbatz das Buch trägt." Alle nickten zustimmend, jedenfalls fast alle.

"Es ist doch immer wieder schön, wenn man merkt, dass sich andere um einen sorgen", sagte Wirdnix ärgerlich, dem Baumbatz das Buch abgenommen hatte. Begleitet von seinen wütenden Flüchen begann der Aufstieg. Gart und Wirdnix hatten es mit ihren kurzen Beinen am schwersten. Der Zwerg verfügte jedoch über unerschöpfliche Kraftreserven, so dass es ihm trotz seiner kurzen Beine gelang, den voraus Kletternden problemlos zu folgen. Ganz anders sah die Sache bei Wirdnix aus. Sein Fluchen konnte selbst der weit vorauskletternde Tom noch gut vernehmen. Als schließlich alle die Klippenhöhe erreicht hatten, fiel der erschöpfte Gnom erst einmal der Länge nach in das spärliche Gras. Auch Dean und Meister Reno vi´Eren kamen nur langsam wieder zu Atem. Die robuste Myrana hingegen war schon ein Stück voraus geeilt, um die Lage zu erkunden. Die Insel war in diesem Bereich spärlich bewachsen. Dürres Gestrüpp und dornige Hecken bildeten im wesentlichen die Vegetation. Soweit man es in der Dunkelheit erkennen konnte, schien aber etwas weiter entfernt eine dünne Ansammlung von Bäumen den Versuch gestartet zu haben, so etwas wie einen Wald zu bilden und bot so zumindest ein wenig Schutz für eine unbemerkte Annäherung.

Als Myrana kurze Zeit später von ihrer Erkundungstour zurückkam, lächelte sie zufrieden. "Der Weg entlang der Klippen ist gut zu schaffen. Ich bin ein Stück voraus gelaufen, habe aber niemanden entdeckt. Anscheinend gibt es hier noch keine Wachen", erklärte sie den Gefährten die Lage.

"Dann mal los", erwiderte Tom fröhlich, dem die Sache Spaß zu machen begann.  Wirdnix betrachtete ihn griesgrämig.

"Du kannst es wohl kaum abwarten, Ärger zu bekommen?", brummte er, wurde jedoch von Baumbatz abrupt in seinen trübseligen Gedanken gestört.

"Dein Buch."

Mit diesen Worten drückte er Wirdnix das schwere Zauberbuch in die Hände, der daraufhin beinahe von der Klippe gefallen wäre. Wütend klemmte er es sich unter den Arm und entfernte sich vorsichtshalber ein paar Schritte vom Abgrund.

"Alle mal herhören", rief Gart. "Ich denke wir gehen am besten wie folgt vor. Myrana, Tom und ich bilden die Vorhut. Dann folgen Dean, Meister Reno vi´Eren und Wirdnix. Den Schluß bildete Baumbatz."

"Wieso soll mein Troll das Schlußlicht sein?", fragte Myrana streitlustig.

"Weil er am größten und schwersten ist und damit den meisten Krach macht. Wenn du ihn vorschickst, kannst du unsere Ankunft genauso gut mit Fackelbeleuchtung und Fanfaren ankündigen", knurrte Gart.

"Ich bin leichtfüßig wie eine Fee", protestierte der enttäuschte Baumbatz.

"Mit Schuhgröße 88?" Skeptisch blickte Tom auf die großen behaarten Füße, die in den obligatorischen Sandalen steckten.

"Ich glaube, Gart hat Recht", schaltete sich Meister Reno vi´Eren vermittelnd ein. "Es kann nicht schaden, wenn wir noch einen schlagkräftigen Trumpf im Ärmel haben, nur für den Fall, dass die Vorhut gefangen genommen werden sollte."

Das leuchtete Myrana ein. Auch die anderen stimmten zu, wenngleich Dean ein wenig eifersüchtig darüber war, dass Tom mit der Elfin vorangehen durfte. Aber er kannte seine Fähigkeiten, und als vernünftiger Mensch mußte er sich eingestehen, dass er keine Erfahrung im Anschleichen hatte und in der Vorhut daher kaum zu gebrauchen war.

Nachdem die Frage der Reihenfolge also geklärt war, brachen die Gefährten in kurzem Abstand zu ihrer abenteuerlichen Rettungsaktion auf.

"Das kann doch nur schief gehen", meckerte Wirdnix, während er hinter Meister Reno vi´Eren und Dean durch die Dunkelheit stolperte.
 
Was mag die Gefährten wohl auf dieser Insel erwarten? Auf jeden Fall jede Menge Ärger, so viel kann ich schon einmal versprechen. Ich hoffe, ich habe Eure Neugier geweckt und würde mich freuen, wenn Ihr mir als Leser weiterhin treu bleibt. Noch immer freue mich über jede Art von Kritik, denn bekanntlich fällt kein Meister vom Himmel, und aus ernst gemeinter Kritik kann man nur lernen. 
 
Euer
Klaus-Peter Behrens 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus-Peter Behrens).
Der Beitrag wurde von Klaus-Peter Behrens auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.11.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Klaus-Peter Behrens als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Der Stieglitz hat ´ne Meise: Gedichte von Jana Hentzschel



Aus dem Wald in die Pfanne ... Tief unterm Büschel Gras versteckt, mit einem Blatt noch abgedeckt, beobachtet ein Pilz im Wald so manch befremdliche Gestalt. Sie schlurfen, ein paar trampeln auch, in Stiefeln und 'nem Korb vorm Bauch, das scharfe Messer in der Hand, den Blick zum Boden stets gewandt. Ein Freudenschrei, ein scharfer Schnitt, so nehmen sie Verwandte mit; und der versteckte Pilz, der weiß, im Tiegel ist es höllisch heiß. So brutzeln aber will er nicht! Da bläst ein Sturm ihm ins Gesicht, es rauscht und wirbelt ringsherum, schon bebt der Wald - ein Baum fiel um. Genau auf seinen Nachbarn drauf. Das ändert seinen Denkverlauf: "Welch übles Ende: Einfach platt! Da mach' ich lieber Menschen satt." Drum reckt er sich aus dem Versteck, er will jetzt plötzlich dringend weg: "Vergesst mich nicht! Ich bin gleich hier und sehr bekömmlich, glaubt es mir."

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fantasy" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus-Peter Behrens

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Kater und sein Magier, 26 von Klaus-Peter Behrens (Fantasy)
Wunschtraum von Edelgunde Eidtner (Fantasy)
Muschi von Norbert Wittke (Freundschaft)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen