Hermann Josef Vollmer

Mysteriöse Episoden zwischen Himmel und Erde/ 6. Teil

 Das Schuldenbuch vom Kohnstein
 
Von der Turmuhr hörten wir den elfmaligen Schlag der Glocke herüber. Es hatte endlich aufgehört zu schneien. Die in den letzten Stunden gefallene Schneemenge türmte sich in den Wegen und Gassen. Auf dem Rundgang durch die winterliche Stadt rief der Nachtwächter seine Warnungen, die in den Gemäuern widerhallte:
„Hört ihr Leut´ und lasst euch sagen,
die Glocke hat elf geschlagen.
Bewacht das Feuer und das Licht,
so dass euch kein Leid geschieht.“
Herr Hoffmann hatte die Pferde angespannt und als wir durch den Torbogen das Haus verließen, rief uns Anna nach:
„Seid vorsichtig! Kommt gesund und munter wieder. Wir werden auf euch warten!“
„Das machen wir! Macht euch keine Sorgen!“, rief ich zurück. Sie sah uns noch einen Moment nach und schloss dann die Einfahrt. Wir fuhren an der Flohburg vorbei zum Barfüßertor, der wachhabende Soldat grüßte uns, und schon waren wir außerhalb der Stadtmauern. Es dauerte nicht lange und wir gelangten auf den breiten, schneebedeckten Fahrweg in Richtung Krimderode. Die Wolken hatten sich verzogen und die Novembernacht war glasklar, aber eiskalt. Der Vollmond und unzählige Sterne leuchteten am Firmament und erhellten die faszinierende, weiße Winterlandschaft. Außer einen Fuchs, der quer über den Weg lief und einem schreienden Kauz, dessen Rufe wir mehrmals vernehmen konnten, war kein Lebewesen zu hören oder zu sehen. Nur verschiedene Fußspuren im Schnee: vom Rotwild, Wildschweinen, Hasen, Kaninchen und sogar vom Eichhörnchen konnte ich erkennen. Als Schutz vor der Kälte hatten wir unsere Beine in Wolldecken eingewickelt, aber trotzdem froren mir die unteren Extremitäten. Mein Kutscher holte aus einer Ecke des Wagens eine halbgefüllte Flasche hervor, entfernte den Korken mit den Zähnen und reichte sie mir rüber:
„Nimm einen Schluck, dann wird es Dir wärmer.“ 
„Was ist das?“, fragte ich ihn, roch an der Flasche und der Weingeist stieg mir in die Nase.
„Das ist ein bekannter Brandwein aus dieser Gegend. Man nennt ihn Nordhäuser Korn und wird nach altem Rezept gebrannt.“
Ich trank einen Schluck und spürte wie das kratzende, alkoholische Getränk seinen Weg zum Magen nahm.
 „Bah, was ist das ein Sauzeug!“, schüttelte ich mich und gab ihm die Flasche zurück.
„Du bist nichts Gutes gewohnt!“, meinte er und trank sie ohne abzusetzen fast leer.
„Das Destillat dieses wunderbaren Getränkes wird im Eichenholzfass lange Zeit gelagert“, schwärmte er von dem ungenießbaren Zeug. „Es hilft gegen mögliche oder unmögliche Krankheiten, beste Medizin in allen Lagen, und vor allem  gegen die Kälte.“ Dann trank er den Rest, verstaute die Flasche unter dem Kutschbock und gab ein kurzes Aufstoßen von sich. Kurz vor dem nächsten Ort, ich konnte die ersten Häuser schon erkennen, bogen wir nach links, auf einem schmaleren Feldweg und es war eine große Anstrengung für die Pferde den Wagen durch den Schnee zu ziehen. Der Weg wurde immer schmaler und man konnte kaum seine Richtung erkennen. Es wurde mir immer unheimlicher zu Mute und ich zitterte – ob es Angst oder die Kälte war – konnte ich nicht unterscheiden. Ich stieß Herrn Hoffmann an und versuchte zu scherzen:  
„Man, ist das eine gottverlassene Gegend! Hier ist man am Ende der Welt! Fuchs und Reh sagen sich hier gute Nacht. Es ist kein Wunder, dass sich der Satan hier wohl fühlt.“
„Ha, ha, ha…!”, lachte Herr Hoffmann. „Du bist wohl ein kleiner Witzbold! In solcher Situation versuchst Du noch Scherze zu machen.“
Ich grinste ihn an und äußerte mich scherzhaft:
„Wenn uns hier was geschieht, dann werden unsere Verwandten erst von uns hören, wenn die Welt untergegangen ist.“
 Er schüttelte sich vor Lachen und meinte:
„Du muss der Sohn eines Spaßvogels sein!“
„Mein Vater ist Bergmann! Steiger auf Schacht Kronprinz in Essen“, tat ich so, als ob ich erbost wäre.  Herr Hoffmann bemerkte es natürlich und amüsierte sich:
„Und was willst Du werden? – Komiker?“
„Nein!“, widersprach ich ihm ernsthaft. „Ich möchte mein Abitur und den Numerus clausus schaffen!“
„Ha, ha, ha...!“, lachte er. „Abitur für die Nummer des Clowns möchtest Du schaffen...?“
Wir krümmten uns vor Lachen.
„...Da dafür brauchst Du kein Abitur mehr! Du hast grade die Clown-Nummer bestanden.”
Ob es Galgenhumor oder kindlicher Blödsinn war, uns war es egal – hier konnte uns doch keiner hören - meinten wir.
„Brrr!“, rief er den Pferden zu, zog stark an den Zügeln und die Tiere blieben stehen.
„Also, Du Clown! Wir sind da!“, sagte er lachend und kurbelte die Wagenbremse fest. „Wir müssen nur noch ein Stück den Berg hinauflaufen.“
Wir stiegen vom Wagen und standen bis weit über die Knöchel im Schnee. Auf dem, vom Mondlicht erhellten Berg konnten wir jedes Hindernis gut erkennen. Herr Hoffmann atmete schwer und blieb stehen. Auch ich rag nach Luft; es war anstrengend den schneebedeckten Hang zu erklimmen. Herr Hoffmann betrachtet die Umgebung und zeigte auf einem Baum, der nicht weit von uns entfernt war: 
„Da vorne steht er, der junge `Großvater´! Der alte Baum wurde vom Blitz getroffen und brannte ab. Neben ihm wuchs eine neuer, der wieder `Großvater´ genannt wurde.“ Kurz bevor wir die Rotbuche erreicht hatten, hörten wir eine schallende, grauenhafte Stimme:
„Da seid ihr ja! Man konnte euch schon am Fuß des Berges reden hören.“
Es trat eine schwarze Gestalt aus dem Schatten des dunklen Waldes und uns war das Lachen vergangen. Er deutete uns die Richtung an und erklärte:
„Ihr seid gleich am Ziel! Folgt mir noch einige Schritte.“ Ohne ein Wort zu verlieren, liefen wir ihm nach. Er führte uns, hinter dem „Großvater“, ein Stück den Hügel hinunter. Schon bald könnten wir am Berghang eine Höhle erkennen, aus deren Eingang ein heller Lichtschein fiel. Über schmale Stufen gelangten wir in den unterirdischen Raum. Blendende Helligkeit strahlte uns entgegen, als würden unendlich viele Kerzen brennen, doch es war keine einzige vorhanden. Die feinkörnige, sandähnliche Bodenschicht bestand aus reinstem Goldstaub und aus den Felswänden schimmerten uns  kostbare Metalle entgegen. In der Mitte des Raumes, auf einem hölzernen Ständer lag ein altes, verknittertes Buch und daneben lag ein großer Haufen von Goldklumpen, auf die sich der Satan stützte. Ich konnte das Ungeheuer zum ersten Mal genauer betrachten: Dicke Falten bestückten sein fratzenhaftes Gesicht und in seinen Augen loderte das Feuer der Unterwelt. Auf seinem Kopf breitete sich eine zottelige Behaarung aus und rötliche Hörner ragten hervor. Fast sein ganzer Körper war krausbehaart, das rechte Bein wurde durch einen Klumpfuß verunstaltet und ein Schwanz verlängerte sein Hinterteil.
„Tretet doch näher!“, rief er uns zu,“ schlagt das Buch auf, dort wo die Feder zwischen den Seiten liegt, habe ich einen Vertrag vorbereitet. Mit euerem Blut könnt ihr das Dokument unterschreiben.“ 
„Er auch?“, fragte Herr Hoffmann und deutete auf mich.
„Er soll auch unterschreiben“, erwiderte der Höllenfürst mit einem ironischen Lächeln.
„Er ist nicht mein Neffe!“, erklärte Herr Hoffmann. „Er hat nichts mit dem Vertrag zu tun!“
„Ich weiß es mittlerweile, aber trotzdem soll er unterschreiben!“, entgegnete ihm der Teufel.
„Ich möchte erst wissen, was dass für einen Vertrag ist?“, wandte ich ein.
„Es ist ein Schuldschein!“, rief er. „Ihr bestätigt mir darin, dass ihr mir den Wert des Goldes schuldet, den ich euch nach Leistung der Unterschrift geben werde.“
„Wie viel Gold wäre das?“, fragte Herr Hoffmann.
„Soviel, wie ihr beide tragen könnt“, verdeutlichte ihm der Höllenfürst. Herr Hoffmann trat zum Bücherständer, nahm die Feder und schaute sie sich unschlüssig an. 
„Drücke die Federspitze in deine Schlagader am Handgelenk“, erklärte der Teufel, „sie saugt sich mit deinem Blut voll und Du kannst unterschreiben.“
Genau das tat Herr Hoffmann und unterzeichnete den Vertrag, trat zurück und machte mir den Platz frei.
„Jetzt bist Du dran!“, rief der Satan mir zu. Mit einem Unbehagen in der Magengegend ging ich zum Bücherständer, zögerte einen Augenblick und Herr Hoffmann bat den Teufel:
„Lass ab von seiner Unterschrift! Er hat doch kein Interesse an dem Vertrag.“ 
„Mit gefangen – mit gehangen!“, grinste das stinkende Scheusal ihn schelmisch an, fühlte sich wie der sichere Sieger und ich wusste nicht, was ich machen sollte. Herr Hoffmann senkte seinen Kopf und sah mich flehend an:
„Wenn Du unterschreibst, gebe ich Dir meine Tochter zur Frau. Sie wird Dir eine gute Dienerin sein und Dir deine Wünsche von den Augen ablesen. So kann ich meine Schulden bezahlen und vom Rest können wir gut leben und werden nie mehr Geldsorgen haben.“
„Hoffmann!“, schrie ich ihn an. „Haben Sie denn gar kein Ehrgefühl mehr. Wie kann man so tief sinken?“
Er hob sein Haupt, faltete die Hände und kniete sich vor mir auf den goldsandigen Boden:
„Artus, ich bitte dich! Ich habe es doch nicht nur für mich getan! Was sollte ich denn sonst machen?“ Als der Satan sah, dass Herr Hoffmann mit gefalteten Händen vor mir kniete, schaute er weg, hielt die knorrigen Vorderklauen vor seine Augen und schrie:
„Steh auf, steh auf!  Und nehme deine Hände herunter.“
Er tat, was der Höllenfürst wünschte und dann schrie der Satan mich an:
„Du bist Schuld am dem Theater! Wir könnten schon längst fertig sein! Unterschreibe endlich! Ich habe keine Lust, die ganze Nacht hier zu verbringen.“
„Ich möchte den Vertrag erst durchlesen“, rechtfertigte ich mich.
„Ha, ha, ha...!”, lachte er höhnisch. „Keiner weiß, woher Du kommst und wer Du bist. Ein Landstreicher, ein Herumtreiber, ein Gassenhund – ein Nichts bis Du – und willst lesen können.“ Indem er weiter lachte, schaute ich in das aufgeschlagene Buch und begann laut zulesen: 
„Schuldenvertrag: Zwischen Heinz Hoffmann aus Nordhausen sowie seinem Begleiter Artus und dem Höllenfürst Luzifer wird folgender Vertrag geschlossen...“
Das höhnische Gelächter des Satans verstummte und mein Begleiter sah mich erwartungsvoll an.
„...Herr Hoffmann und sein Begleiter Artus verpflichten sich, jeder nach seinem Tode dem Höllenfürsten ihre Seele zuübergeben. Im Gegenzug verpflichtet sich Luzifer, diesen Personen am Tag des Vertragsabschlusses, soviel Goldklumpen zugeben, wie Sie tragen können.“
Als ich mit der Lesung geendet hatte, lag eine spannungsvolle Stille in der Höhle – dann schrie ich den Teufel an:
„Du Höllenhund! Du Satanschwein! Wolltest unsere Seelen erkaufen! Wann hast Du uns das gesagt? – Wann? – Nie! Dass ich lesen kann, damit hast Du nicht gerechnet...“
Ich geriet in solcher Wut, dass ich jegliche Angst vor ihm verlor hatte.
„...Du hast uns belogen und betrogen. Du bis ein gemeiner, hinterlistiger und stinkender Satansbraten!“
Ich griff nach einigen Seiten aus dem Schuldenbuch, war mir sicher, dass die von Herrn Hoffmann dabei war, und riss sie mit einem Ruck aus dem Buch, das zu Boden fiel. Mit wutentbranntem Gesicht kam der Teufel langsam und schwerfällig auf mich zu.
„Hoffmann!“, schrie ich meinem Begleiter zu. „Machen Sie, dass Sie weg kommen!“, und er rannte, was er konnte aus der Höhle. Die zerknitterten Schuldscheine stopfte ich in meine Hosentasche, als der Teufel mich grade ergreifen wollte. Ich hatte Glück! Sprang ihm unter seinen Klauen weg und riss mit beiden Händen mein Hemd auf und streckte ihm mein zehn Zentimeter großes Kreuz entgegen, das ich um den Hals trug. Dann begann ich zu beten:
„Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name...“
Der Satan hielt seine Vorderklauen im Wechsel vor den Augen oder an den Ohren. Doch er musste nicht, was er zu erst machen sollte. Jäh lauter und länger ich betete, desto wütender wurde er, wälzte sich auf dem Boden und war nicht in der Lage, mich anzugreifen.
„...Dein Wille geschehe, wie im Himmel, als auch auf Erden...“,
Ich ging langsam rückwärts zur Tür, bemerkte, wie der Satan immer wütender wurde und rief noch lauter:
„...Unser täglich Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld...“
Der Dämon trommelte mit den Fäusten und trat mit dem Klumpfuß gegen die Wand. Langsam lief ich weiter, stieg die Treppe rückwärts hoch und schrie durch den Eingang:
„...Wir vergeben auch unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung...“
Der Berg bebte, Goldklümpen und Steine fielen in den unterirdischen Raum. Ich stand auf der obersten Stufe und brüllte, so laut ich konnte:
„...sondern erlöse uns von dem Übel...“
Ein fürchterlich lautes Krachen erschallte. Ich entfernte mich einige Meter vom Eingang und traf auf Herrn Hoffmann. Im gleichen Moment stürzte die Höhle in sich zusammen. Wir betrachteten schockiert den schneebedeckten, eingestürzten Hügel. Danach war es still! Wir sahen uns einander an und sprachen das Gebet zu Ende:
„...Denn dein ist das Reich, die Macht und
die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen!“
 
Der Teufel wurde nicht mehr in der Umgebung gesehen, doch der „Großvater“ steht immer noch auf dem Kohnstein!
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.11.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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