Johannes Seipel

Die Brücke der Erkenntnis

 
Gerd war einem unbestimmten Drang gefolgt, als er nach
 
Jahrzehnten das Flüsschen Hörsel, im Thüringischen, noch einmal
 
besuchte. Das Wasser der Hörsel war wieder klar und hell,
 
schnellte aber immer noch rauschend und mit weißen Krönchen auf
 
den Wellenkämmen durch das flache, steinige Flussbett.


Die Gluthitze des Tages hält zweifellos noch bis in die frühen Nachtstunden an, schätzte Gerd. Ein guter Grund, unter der Straßenbrücke erst einmal zu rasten. Als kleines Kind saß ich hier oft, hing meinen Träumen nach oder weinte ein paar Tränen.

Ja die Mama ... Ist schon lange im Himmel ... War eigentlich nur meine Pflegemutter. Meine richtige Mutter, die Mutti, musste arbeiten. Lebt auch schon lange nicht mehr. Sicher sind die beiden jetzt wunderschöne Engel mit große weißen Flügeln. Schauen vom Himmel auf mich herab und passen auf, dass mir auch künftig nichts Böses geschieht. Und Vater – den hat ‘s gleich in den ersten Kriegstagen erwischt.

An Spätnachmittagen, wie heute, war Mama im Garten. Keine zierliche Frau, eher stämmig. Kam vom Land, aus einem Dorf in Niedersachsen. Mit durchgedrückten Knien jätete sie Unkraut oder pflückte Erdbeeren, schöpfte Wasser mit der Schwengelpumpe, goss Gemüsebeete, Blumen und gab dann noch den Kaninchen in ihrem Stall unter dem Holunderbaum frisches Futter.

Aber wie waren doch ihre Worte gewesen, als ich einmal von einem Freibadbesuch erzählte? Feigling ...! Sie hatte gut reden. Ich konnte doch noch nicht schwimmen. Was sollte ich da im Wasser? Vom dem wusste ich nur eines: Reinfallen, untergehen und ertrinken. Meine Angst vor Wasser war damals so groß wie das Freibad selbst.

Als Mutti mich dann schließlich zu sich nahm, lebten wir in einer anderen Stadt. Da hätte mich die Mama mal sehen sollen. Inzwischen war ich nämlich im Schwimmverein. Sprang vom Fünf-Meter-Brett und war auch Rettungsschwimmer geworden. Könnte heute noch Leben retten. Von wegen Feigling ... Trotzdem, Angst habe ich immer noch. Vorm Wasser ganz bestimmt nicht.

Auch ein späteres Judo-Training konnte mich nicht von Angst befreien. Nicht mal Milderung war zu spüren, obwohl ich schon bald in dieser Sportart sehr erfolgreich war. Wie Kletten kleben Furcht, Bangen, und auch Kleinmut, immer noch an mir. Deshalb bin ich wahrscheinlich auch ein Einzelgänger. Jemand könnte mir ja etwas tun.

Doch Moment mal! Die „Kletten“ sind doch Eigenschaften eines Feiglings. Was bedeutet, dass Mamas Wort „Feigling“ immer noch in mir lebt, trotz vieler sportlicher Erfolge.

Natürlich, so könnte es sein! Mutti ist tot. Das habe ich verstanden. Doch die Mama ...? Auch. Doch nicht wirklich. Wahrscheinlich habe ich mich bisher immer gegen ihr Nichtmehrsein gewehrt und so auch den „Feigling“ am Leben erhalten. Und mit ihm die daran gekoppelte Angst, vor Menschen, Tieren, Armut, Krankheit und Tod, aber auch vor nichts Bestimmten. Doch die Mama lebt ja nicht mehr. Könnte somit auch nie mehr Feigling zu mir sagen.

Da erkannte Gerd plötzlich, dass Mama für ihn nun endlich gestorben war und mit ihr auch der „Feigling“. Und in dem Maß, wie sich diese Erkenntnis in ihm ausbreitete, spurte er, wie ihn seine Ängste verließen.

Fröhlich und erleichtert erhob sich Gerd nun von seinem Platz unter der Brücke, trat aus ihrem Schatten heraus in das späte Licht des Abends. Eine innere Macht musste ihn aus Fürsorgepflicht hierher geführt haben, damit er wenigstens die restlichen Jahre seines Lebens ohne Angst in der Gegenwart und vor der Zukunft leben könne.


© 10-2007 joLepies

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.11.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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