Ihre
Anmut, die Grazie. Sie waren so schön wie Juwelen, leicht wie Federn,
geschmückt, entstiegen der Träume selbst.
Ihr
Duft, die Schlingen ihrer langen, seidigen Haare, das leichte Lächeln, die
Schwerelosigkeit ihrer Worte bargen einen ganz eigentümlichen Zauber, der mich
zu verwirren vermochte, so einfach wie nichts sonst. Und sie sonnten sich in
meiner Aufmerksamkeit, in meiner Nähe. Sie zierten sich mit mir gleichsam ihres
Schmuckes.
Eigenartig,
dass ausgerechnet diese Frauen meine Erinnerung zu erobern suchten, besuchte
ich doch diesen Ort meiner inneren Einsamkeit.
Wolken
zogen vor das leuchtende Antlitz des Mondes und verwischten die lange
verlorenen Bilder der Bälle.
Jahrhunderte
lagen diese Erinnerungen in mir verborgen, still, schweigend und begraben. Ich
entsann mich nicht einmal mehr ihrer Namen und schon gar nicht mehr ihrer
Gesichter. Dennoch blieben sie präsent. Ihre Schönheit und Leere hielt ich
gebannt in Farben auf Leinwand, aber zugleich verabscheute ich es, sie
anzusehen. Nichts von ihren Zügen haftete in meinem Geist. Gar nichts verblieb,
außer eines schalen Nachgeschmackes von Vergessen.
Alles
verdrängte ich über die Jahre, die ich lebte. Es trat zurück in dem Kampf
meines Daseins und der Realität, die so brechend hart über mich hernieder ging.
Nun
stand ich hier, im Schatten der Ruinen, badete in den transparenten
irisierenden Erinnerungen einer gläsern
fernen, fremden Vergangenheit, im Mondlicht, dass durch die Wolken und die
leeren Fensterhöhlen auf mich herabfiel.
Alles
was ich einst war wiederstand dem Bild dessen was das Dasein aus mir gemacht
hatte.
Warum
weckte dieser Ort solch seichte Vergnügen in mir, war hier doch etwas
geschehen, was alles verändert und meine Seele verbannt hatte?
Nun
zerbrach das Bild endgültig. Zurück blieb nichts als eine verbrannte
Außenmauer, die traurige Ruine eines Palais, dessen Glanz vor Jahrzehnten Opfer
des letzten großen Krieges wurden, endgültig ausradiert aus dem Bewusstsein der
Menschen, in einem dichten Feuerhagel, der die Nacht zum blutig glühenden Tag
machte.
Von
diesem gottverlassenen Ort wusste kaum ein Mensch, lag er doch verborgen hinter
dichtem, verfilztem Gestrüpp, fern jeder Stadt.
Diese
Ruinen wurden zu meinem stummen Schrei, dem Mausoleum meiner Vergangenheit.
Dankbar
für die Vergessenheit und auch die Gottlosigkeit dieses Ortes kehrte ich immer
wieder hier hin zurück.
Schließlich
war es ein Versteck für ein Geschöpf wie mich, einen verbündeten des Todes und
der Nacht.
Und
wieder erinnerte ich mich an Daphne DuMauriers Roman Rebecca, in dem die
Protagonistin zu Anfang, im Prolog des Buches sagt:
Das Mondlicht kann der Einbildung merkwürdige Streiche
spielen, auch der Einbildung eines Träumers. Wie ich da still, mit verhaltenem
Atem stand, hätte ich schwören können, das Haus sei nicht bloß eine leere
Schale, sondern belebt und beseelt, wie es früher gelebt hatte.
Die Fenster waren hell erleuchtet, die Vorhänge bauschten sich leise im
Nachtwind, und dort, in der Bibliothek, stand gewiss noch die Tür halb offen,
die wir zu schließen vergessen hatten, und mein Taschentuch lag auf dem Tisch
neben der Vase mit den Herbstrosen.
Ich
konnte es ihr so gut nachempfinden, wie gut nur.
Nach
und nach verlor sich mein Blick im Dunkel des Gartens, der verborgenen, leeren
Räume ohne Boden und ohne Türen. Schimmel und Fäulnis fanden dort ihr Heim und
lösten dort die Überreste nicht verbrannter Tapeten aus Seide, die niemand mehr
als solche zu erkennen vermochte, an. Auch die prächtigen Wandgemälde waren
nicht mehr als eine verkohlte Masse pockennarbigen Steins.
Ohne
es verhindern zu können überkam mich eine dunkle Woge von einsamer Trauer und
dem schmerzhaftem Heimweh an die Tage bevor der Verfall einziger Herr wurde.
Meine
Füße bewegten sich leicht, federnd, erdgebunden, wie ein normaler Mensch über
Gras zu schreiten gewohnt ist, gefangen in meinem Traum einer Zeit, die lang
zurück lag.
Weder
Stein noch Strauch verursachten ein Geräusch unter meinen Stiefeln. Lautlos
wandelte ich mit den Schatten, vergessen und unsichtbar in dem silbrigen
Mondlicht, selbst ein Teil der Nacht, ein Kind des Blutes. Mein Herz aber
schrie, litt unter den Traumfetzen dessen, was ich einst war.
Mit
jedem Schritt näherte ich mich mehr dem irrealen Bild der Vergangenheit und
ergab mich in ihre Klauen, erfasste dass die unerreichbar fernen Dinge meiner
Jugend, meines Menschseins näher rückten und mich mit ihren Spinnenfingern
einwoben.
Hatte
ich nicht einmal behauptet, mein Herz sei nichts als Glas, kalt und glatt,
unfähig zu einer menschlichen Regung?
Es
war eine Lüge, mir wohl bewusst, schon wegen jenen Erinnerungen, die mich an
diese Haus banden, diese dunklen Mauern, das Mondlicht, was nicht existierendes
Leben vorgaukelte, wenn es durch die hohlen, leeren Fenster fiel.
Wandelte
ich über die Galerie, durch die Hallen und Zimmer, die Flure und Stufen,
beobachteten mich Tausende leuchtender Augen; die Sterne, kalt und klar.
Stufen,
Treppen, die ins Nichts führten, in die Leere, den Tod.
Allein
der Gedanke an den Tod, die unzähligen Definitionen dessen, was es bedeutete zu
sterben, bekamen einen neune Hauch, eine Art fremden Aromas für mich, wandelte
ich in meinem Hause umher.
Ich
war tot, gestorben in diesem Haus, zu den Füßen eines steinernen Engels, der
auf der Umfriedung des Wasserbassins im Inneren des Hauses, des Atriums, saß.
Wie
durch ein Wunder hatte ausgerechnet dieser Engel allen Verfall und alles Leid
dieses Hauses überstanden. Lebte er durch mein Blut? War es mein Leben was ihm
seine unsägliche Schönheit verlieh und ihn noch immer so rein und unversehrt
aussehen ließ, als wäre er gerade eben erst geschaffen worden?
Wie
oft in meinem Leben hatte er mir schon Gesellschaft geleistet, saß ich neben
ihm, malte, zeichnete, oder vertraute ihm meine tiefsten Gedanken und
Geheimnisse an.
War
er doch Vertrauter und Freund, Bruder in aller Schönheit und Liebe zur
Perfektion, heimlicher Geliebter und alles glühende Verlangen in meinem Herzen.
Dennoch blieben seine blicklosen Augen so kalt und fremd, starb ich doch vor
ihm, allein, zu seinen Füßen. Ohne eine Regung seiner Finger, seiner kalten,
perfekten Lippen verging ich.
Natürlich
hatten mich meine Schritte an das Bassin geführt, und sicher nicht
unbeabsichtigt. Schließlich rief mich eben dieser Engel immer wieder, selbst
wenn ich schlief. Ich konnte ihm nicht entkommen. Unmöglich den Blick dieser
weißen, marmornen Augen zu entkommen, dem schönen, ungewöhnlichen Gesicht, der
Perfektion, der ich so gerne huldigte, mit jedem Strich, mit jedem Bild. Er
rief mich und verlangte nach mir wie mein Geliebter, der sich vereinsamt
fühlte, vernachlässigt und dennoch sicher, dass ich immer wieder zu ihm zurück
kehren würde, kam ich doch nicht ohne dieses zauberhafte Geschöpf aus.
Aber
mehr als seine Schönheit zwang mich mein Tod zu seinen Füßen hier her.
Er
war der einzige, der mein Geheimnis teilte. Er und mein Mörder.
War
er mein Untergang, die Tatsache dass ich ihm untreu wurde in meiner Liebe zu
seiner Schönheit und die Hände nach seinem dunklen, lebendigen Spiegelbild
ausstreckte, diesem perfekte Wesen, dessen Haut genauso kühl und hart, seine
Reinheit und sein Stolz ungebrochen und unantastbar waren?
Neben
dieser Statue, die mich meine Kindheit und Jugend begleitet und sie mir versüßt
hatte, sah ich ihn zu ersten Mal. Er war das lebendig-bronzen-dunkle Spiegelbild
des Marmorengels. Die gleichen ebenmäßigen Gesichtszüge, der selbe
außergewöhnliche Schwung der dichten, dunklen Brauen, die vollen, milde
lächelnden Lippen und der exotische, androgyne Zug des Gesichtes sahen mir
einst entgegen. Allein die kühn geschwungene Nase und das spöttische Blitzen
klarer, wacher, dunkler Samtaugen unterschieden ihn von dem Marmorengel.
Lange,
dunkle Locken umspielten sein Gesicht, fielen lang über seinen Rücken und die
Brust und verwoben sich in leichtem Spiel mit den goldenen Mustern seiner
brokatenen Weste.
Alles
an ihm schien Licht und Sonne, Lachen und Zauber zu sein. Er war mir fremd und
vertraut, eine exotische Kostbarkeit, wie aus einem orientalischen Märchen.
Anders als die Osmanen, anders als ein Mohr oder ein Chinese. Ihnen allen
fehlte diese außergewöhnliche goldene Wärme, dieses unmöglich zu beschreibende
Flair. Unbeschreiblich schön war er, der Hauch dessen was fremd und vertraut
war, reizvoll und bekannt.
Dunkelbraune
Mandelaugen sahen mich an, blickten tief in mein Herz und zugleich wusste ich,
dass er meine Seele berührte. Ohne ein Wort versprachen sich unsere Lippen
Liebe, eine verbotene Liebe, stumm, brennend und verlangend.
Männer
dürften nicht zueinander finden. Niemals. Dennoch versanken wir in unserer Sehnsucht
füreinander. Wir teilten stumm jede Minute, jede Sekunde miteinander, eng
umschlungen, verlangend und begierig. Unsere Leiber waren Lust und die Liebe zur Kunst verband unsere
Seelen. Vergessen war mein kalter Engel aus Marmor, wenigstens bis zu dem
Moment, in dem sich die Sonne bedeckte und ein brennender Stern von glühendem
Schmerz in der Finsternis wurde, meine Liebe zu Angst und schließlich zu
Abscheu wurde.
Sollte
ich je geglaubt haben, ihn nicht mehr zu lieben, so wäre es eine Lüge. Ich liebte
ihn, gleich was ich versuchte mir einzureden! Ich verehrte meinen wunderschönen
Geliebten, verlangte sogar nach seiner Grausamkeit, seinen bösen Spielen, der
Drohung mich zu zerstören. Ich wollte sein Geschöpf werden, willenlos dem
folgen, was er verlangte und darin aufgehen was seine Träume waren. Die Nacht
wurde mein Tag und er mein Licht.
Sein
Blut berauschte mich. Er betrank sich an mir, nahm sich alles was ihm beliebte,
machte mich zu seinem Gefangenen in meinem Haus. Und auch wenn ich noch so sehr
Flüche über sein Haupt ergoss, ihn verdammte für seine Brutalitäten, wollte ich
immer mehr von ihm, sehnte mich nach seinen Spielen.
„Hättest
du mich gerettet, wäre ich dir dann treu geblieben?“ fragte ich die Statue
leise und strich dem wunderschönen Engel über Wangen und Lippen.
Der
Marmorengel schwieg und sah mich aus seinen blicklosen Augen an.
Sein
Reiz existierte noch immer für mich. Ich liebte dieses Geschöpf. Er war mein
Ruhepol.
Aber
antworten würde er mir wohl nie...
„Kaum,“
antwortete eine sanfte, tiefe, lustschwere Stimme. Die Worte klangen in dem
Timbre des dunkelsten Basses den ich je hören durfte, sehnsüchtig, berauscht.
Offenbar war seine Zunge schwer von dem Blut, mit dem er sich betrank.
Ja,
ich konnte den Gestank des erkaltenden Blutes bis zu mir wahrnehmen. Er musste
viel davon in sich haben. Normal roch er selten so intensiv danach.
Er
lachte leise. Der Laut war einem Grollen näher, bedrohlich, wie eine Vorahnung
auf den endgültigen Tot. Ich schauderte unter diesem Geräusch. Er, die dunkle
Seite des Engels, ein Geschöpf was eher der Verführer Luzifer Morgenstern
glich. Schöner als das Licht des Morgens, aber enttäuscht und verbittert.
Obgleich
ich sein Gesicht nicht sah, ihn nur mehr spürte, wie eine Hauch, der meine Haut
berührte, meinen Nacken streichelte, körperlich und süß, intensiv und begierig,
seine Anwesenheit roch, schwer wie ein Parfum, ein warmes Aphrodisiakum, bannte
er mich. Leise wob er seine Zauber mit einer samtenen Stimme, dem Timbre, was
mich bis ins Mark erschütterte und liebkoste. Er verlangte nach mir, sehnte
sich nach mir, wie ich mich nach ihm verzehrte. Ich konnte nicht ohne ihn sein.
Niemals!
War
er es nicht, der mich quälte, fesselte, auspeitschte, erniedrigte, mich jagte,
nur zu seiner eigenen Freude und Lust, mich wie ein hilfloses, verängstigtes
Wild fing, sein grausames Spiel mit mir trieb, nur um meine Fesseln zu lockern,
mich wieder loszulassen, zu befreien, und mir neue Freiheit zu gewähren...
Und
letztlich begann die Jagd erneut, immer wieder aufs Neue.
Seit fast 300 Jahren schon spielten wir dieses
Spiel... Und er wurde es nicht müde mich einzuschüchtern, mir meine Würde zu
nehmen, meinen Stolz, aber auch für Stunden meinen Hass.
Und
er gewann wieder über mich. Wie so oft. Er, der persische Prinz, Herrscher über
untergegangene Reiche.
Ich
konnte mich nur geschlagen geben. Er zwang mich nieder, ohne überhaupt die
Schatten zu verlassen.
Matt
senkte ich den Kopf.
„Warum
hier?“ fragte ich leise.
„Unser
Spiel, es verlangte nach Fortsetzung und Vollendung. Nur hier, an diesem Ort
finde ich wahre Befriedigung, Konstantin,“ hauchte seine Stimme neben meinem
Ohr, streifte es leicht, warm, feucht und lebendig, lebend von geliehenem
Leben. Meine, durch den Festiger harten, langen, schwarzen Locken berührten
mein Ohr und wanden sich um meine Ohrringe, kitzelten die Haut leicht. Ein
Vampir empfand so viel mehr, so viel stärker, intensiver als ein Mensch. Allein
dieser Lufthauch reichte, mich beben zu lassen. Ich sog zitternd die Luft durch
die Zähne und schlug die Augen nieder.
„Ich
will dich zu Tode jagen, hetzen bis du verendest und dich wieder aufrichten,
dich pflegen, deine Wunden verarzten, dich heilen, besitzen und wieder
jagen...“
„Warum,“
flüsterte ich und verfluchte das leise, fast unmerkliche Beben in meiner Stimme.
Meine Seele befand sich in der Schwebe, in einem Zustand vollständiger
Unsicherheit.
Ich,
Kim Wiegand, einer der kältesten und verschlossensten Vampire wurde von diesem
Ort und diesem Mann bezwungen und sah mich in dem Bann, der Unfähigkeit meine Gedanken
zu ordnen.
Bei
weitem fand ich in meiner Stimme nicht meine Stärke wieder, aber sicher auch
keine Verzweiflung.
Langsam
klärte sich ein kleiner Teil meines Bewusstseins.
Der
Gedanke war banal, primitiv im Sinne dessen was wir waren. Ich wollte mich
nicht ergeben, nicht jetzt, nicht ihm. Ein einzelner Sieg über ihn konnte mir
meinen Stolz wieder geben. Ich gehörte nicht völlig ihm, hatte mich nicht ganz
aufgegeben.
„Willst
du eine Antwort darauf?“ fragte er leise, verwundert, als läge seine Absicht klar
auf der Hand.
Oft
hatte er mir klar gemacht, dass er mich liebte und seine Liebe die Gewalt über
Leben und Tod meiner Person sei.
Einerseits
begriff ich ihn. Es war diese dunkle Lust in mir, die ihn mir begreiflich
machte. Und wieder drückte er meinen Geist in die Wogen meiner eigenen Lust
hinab, zwang mich in die Knie. Oh Gott, ich war ein Schwächling!
Ich
konnte seine Haut riechen! Oh Gott! Mir wurde schwindelig und schlecht ob des
Duftes nach Blut. Hunger bohrte tief in mir, fast noch mehr als das aber sehnte
ich mich nach ihm, nach seinem Kuss, seiner Liebe, fürchtete in der Sekunde
weder seinen Schlägen noch seine Erniedrigungen, gierte nach einem zärtlichen
Wort und seinem Leben.
Ich
konnte ihn kaum ertragen, so sehr reizte er mich, aber ich wollte ihn auch nie
mehr loslassen. Würde ich je den Tag erleben, in dem ich das Spiel zwischen uns
gewann und ihn länger als eine Nacht für mich versklaven konnte, dann wollte
ich ihm meinen Wunsch aufzwingen. Meinen einzigen Wunsch. Ihn, für immer an
meiner Seite.
Aber
er gewann nahezu jedes mal und brach meinen Willen erneut.
Etwas
an diesem Spiel aber war anders. Diesmal hörte er mir zu. Er antwortete meinen
Fragen, auch wenn er Gegenfragen stellte.
„Ja,
bitte...“ flüsterte ich. „Warum hier. Warum suchst du so sehr danach mich hier,
unter den Augen der Geister meiner Ahnen und Nachkommen zu erniedrigen?!“
Eigentlich
war die Frage reine Rhetorik. Sie bedurfte keiner Antwort. Aber sie brannte mir
schon so lange auf der Seele, seit dem ersten Tag und wollte ausgesprochen
werden.
„Das
ist nichts als der Höhepunkt,“ lächelte er. Langsam trat er um mich herum und
blieb vor mir stehen.
Wie
schön er war. Seine hüftlangen dunklen Locken lagen in weichen Schlingen über
seinen Schultern und der Blick warmer, brauner Mandelaugen, in denen sich das
Wissen der Welt und das Licht tausender Sonnen bannte, strich über meine
Gestalt.
Sein
Blut war das tausender und abertausender persischer Prinzen und Könige. Er, der
Urvater eines Reiches, mächtig und uralt, war ein Ungeheuer in seiner
gediegenen Langeweile. Letztlich hatte er schon als er mich fand alles gesehen
und erlebt, durchlebt und genossen. Kein Leid und keine Lust waren ihm Fremd.
Er war ein Grab des Wissens und der Weisheit.
Das
was er ausstrahlte, seine Würde, seine Macht, waren mir körperlich spürbar und
vertraut. Und wieder begann ich mich in seinem Wesen zu verlieren.
Er
streckte seine schlanke, bronzehäutige Hand nach mir aus und strich mir über
meine Wange. Wie warm seine Haut doch war, wie menschlich und verzückend
wirklich, so fern jeden dunklen Daseins, jenseits des Lebens und des Lichtes.
Vertraut
schmiegte ich mich in die Berührung und senkte den Blick.
„Konstantin,
Kim, wenn ich dir sagte, es sei meine Freude dich zu hetzen, so wäre es nur die
halbe Wahrheit.“
Überrascht
blickte ich auf. Mit allem hätte ich gerechnet, nicht aber mit einer Antwort
wie dieser. Er offenbarte mir zum ersten mal in seinem Leben einen Teil seiner
eigenen, so gut gehüteten Seele.
„Sieh
mich nicht wie ein kleines Kind an, Kim, nicht so verletzt und fragend.“ Trauer
schlich sich in seine reinen, schönen Züge, das Lächeln, dass ich so liebte.
„Ich
kann dir nur nah sein wenn ich dich jage.“
„Gibt
es immer noch den Wunsch deines Vaters nach meinem Blut?“ fragte ich leise.
Seine
Hand sank herab und er trat zurück, setzte sich auf den Rand des Bassins. Lange
Finger gruben in der Tasche des teuren Cashmeer Mantels nach seinen Zigaretten.
Nach
einigen Sekunden zog er ein goldenes Etui heraus und öffnete es.
Es
war teuer, wie alles was er besaß. Luxus begleitete ihn scheinbar immer,
zeichnete ihn als überheblich und nobel aus.
Er,
das klar verdeutlichte Paradoxon meines Lebens.
„Hier,
ich nehme an, du rauchst immer noch so viel wie damals, Kim.“
Resignation
und Müdigkeit hörte ich aus seiner Stimme heraus, eine solch tief sitzende,
alte, verborgene Trauer, die endgültig an die Oberfläche schwemmte.
Ich
zögerte einen Augenblick. Er zog die Hand nicht zurück.
Dann
nahm ich eine der teuren Zigaretten, die er so gerne rauchte.
Aber
ich drehte sie nur unschlüssig in den Fingern. Tatsächlich fühlte ich mich
schlecht, wie ein hilfloser, kleiner Junge, der einen Schritt zu weit gegangen
war und etwas gesehen hatte, was er nicht nur nicht sehen sollte, allerdings
auch nicht wollte.
„Du
kannst sie gerne auch rauchen,“ spöttelte er. „Ich will mit dir reden, dich
nicht vergiften.“
Befremdet
sah ich ihn an.
So
gelöst und menschlich kannte ich ihn wirklich nicht.
Ich
steckte die Zigarette in den Mundwinkel und grub in der Tasche meines
Ledermantels nach einem meiner Einwegfeuerzeuge.
Er
zündete sich seine Zigarette an und warf mir sein Feuerzeug zu.
Ich
fing es auf und setzte mich nun neben ihn auf den Rand des Beckens.
„Das
alles hört sich nach einer Aussprache an, Saurva. Nach etwas sehr negativem.
Was versuchst du mir so - ungezwungen - beizubringen?“ Schaler Spott mischte sich in meine Stimme.
Ich
wollte ihm deutlich machen, dass ich die Situation lächerlich fand und es mich
eher abstieß als anzog, wie er mich behandelte. War ich ein kleines Kind oder
sein Geliebter, sein Spielzeug? Aber er ignorierte es, registrierte gar nicht
meinen Unterton.
„Dein
Blut wollen,“ nahm er den Gesprächsfaden wieder auf, ohne auf meine Spitze
einzugehen, „... ist vermutlich untertrieben. Du bist anders als die Vampire zu
denen ich gehöre. Und vermutlich war es ein großer Fehler dich zu einem von uns
zu machen.“
Ich
entzündete die Zigarette und sog daran, inhalierte tief den aromatisierten
Rauch. Meine Finger zitterten und meine Nerven waren bis zum zerreißen
gespannt. Wollte er mir damit sagen, dass es ein Fehler war, mich zu einem
seiner Art zu machen? Was empfand er wirklich für mich? Wollte er mich
loswerden?
Vermutlich
spiegelte mein Gesicht etwas von meiner Überraschung und meiner Angst wieder.
„Ich
bin nicht anders als du,“ murmelte ich. „Du bist mein Schöpfer.“
„Doch.
In dir war schon das Erbe einer langen Reihe von außergewöhnlichen Männern und
Frauen. Angefangen damit dass Generationen von Hexen durch die Jahrhunderte
dein magisches Blut begründeten und du kein reiner Mensch bist, viele deiner
Vorfahren hellsichtig waren oder Geister sahen, bist du selbst aus einem
natürlichen Geschlecht von Vampiren, einer Art, die bei Tage leben könnte...
Verfluchte. Aber mein Blut zwingt dich in die Nacht, Kim. Nur mein Blut. Du
bist der Beginn eines ganz neuen Vampirgeschlechtes. Das stört ihn. Etwas wie
dich darf es nicht geben. Deshalb jage ich dich. Aber ich will dich nicht
töten. Ich kann und will es nicht. Mir liegt viel an dir. Und ich kann dich
auch nur so beschützen. So bin ich dir nah.“
So
schön und sanft seine Worte für mich klangen, so sehr sie mich verwirrten und
Schmerz auszudrücken wussten, so wenig traute ich ihm.
Seiner
Liebe war ich mir also sicher. Aber leider verriet er mich wieder und wieder...
Wie oft schon brachte er mich nah an den Rand des Todes, legte mir dabei unser
beider Leben in die Hände, bürdete mir die Verantwortung für sein und mein
Bestehen auf. Ich scheute seine Freundlichkeit. Aber das tat ich immer.
Und
diesmal sprach er zudem in Rätseln. Ich war nichts besonderes, wenigstens nicht
zu Lebzeiten, lediglich ein kleiner, unbedeutender Maler, dessen Bilder
allenfalls noch in einigen privaten Galerien hingen oder an den Wänden von
Personen, die ich nicht einmal kannte.
Offenbar
wurde ihm das Zweifeln in meinem Gesicht nur zu deutlich.
Er
lächelte leicht.
„Glaubst
du mir nicht?“ fragte er leise, sanft, wobei er seine Zigarette elegant
zwischen seinen feingliedrigen Fingern drehte und betrachtete, als sei sie ein
besonders gelungenes Schmuckstück.
Bevor
ich ihm antworten und mein Misstrauen in abfälligen Spott kleiden konnte,
wiegte er den Kopf und flüsterte: „Du bist jenseits des Menschlichen. Du warst
nie ein Mensch, mein schöner Konstantin...“
„Kim
ist mein Name!“ fiel ich ihm ins Wort. Mein Schrecken verbarg sich, zumindest
im Moment noch, hinter vorgespielter Aggression. Allein dass ich ihn
unterbrach, gab mir einige Sekunden Zeit zu verdrängen was er sagte, darüber
nachzudenken, oder genauer, es zu lassen. Mein Bewusstsein versuchte
offensichtlich immer, sich auf diese Art zu schützen. „Kim. Ich bin Kim
Wiegand, niemand sonst. Die Zeit hat sich geändert und ich bin nicht mehr
dieses Landei, das blauäugig dem ersten hübschen Kerl verfällt. Akzeptiere das,
Saurva.“
Wie
wenig es sich für einen Vampir ziemte sich so unsinnig albern aufzuführen wurde
mir einen Herzschlag später bewusst. War die Kälte nur eine Maske, mit der ich
meine beiden Neffen zum Narren halten konnte, die zwar in vollem Wissen über
meine Art bei mir lebten, aber mich als Person fürchteten?
Er
sah mich aus dem Augenwinkel an und lächelte. „Wie du meinst, mein Schöner.“ Er
nahm die Zigarette zwischen die Lippen und sog daran. Offenbar war der Zug sehr
tief und er behielt ihn lang in den Lungen, bevor er den blauen Rauch wieder
ausstieß. Ich konnte ihn nur stumm beobachten, Fassungslos über die Ruhe und
der Frieden in seinem Gesicht, die ihm den Hauch des Vergeistigten, die
Reinheit und diese Ebenmäßige die Schönheit verliehen. Warum ausgerechten hatte
er mich gewählt? Ich war ein unbedeutendes Wesen gegenüber ihm, einem Geschöpf
was weit über 9.000 Jahre gelebt hatte, sterblich und schwach, und ihm nicht
annähernd ebenbürtig.
„Du
wirst noch sehen, was ich meine, Kim. In dir schlummert Macht, unsägliche
Macht. Allein Dein Erbe, dein Blut, machen dich zu etwas besonderem. Du
könntest uns alle vernichten.“ Er lächelte matt. „Du und Deine Neffen, ihr seit
weit mächtiger als wir.“
„Unsinn!“
zischte ich und trat die halb gerauchte Zigarette unter meinem Stiefel aus.
Insgeheim tat es mir um den guten Tabak leid, aber ich wollte ihm
demonstrieren, wie wenig mir Dinge, die von ihm kamen, bedeuteten.
„Nicht
gerade subtil,“ kommentierte Saurva meine Aktion beiläufig. Er nahm sein
Zigarettenetui aus der Manteltasche und steckte es mir zu. „Ich weiß, wie gerne
du sie rauchst. Und dein Job bringt dir kaum genug für billige Zigaretten. Also
behalte sie.“
Im
ersten Moment kochte in mir der Zorn über seine verächtliche Haltung hoch, aber
zugleich wusste ich, dass er recht hatte und ich mir nur wenig leisten konnte.
Außerdem steckte hinter seinem Handeln immer ein Sinn. Immer. Nie tat er etwas
ohne Hintergedanken.
Ich
senkte den Blick und schluckte die scharfe Entgegnung, die mir auf der Zunge
brannte, hinunter.
Er
wartete. Offensichtlich glaubte er, ich würde seine Worte doch kommentieren
wollen. Langsam hob er eine Braue, sagte aber dazu nichts. Ich konnte spüren,
wie seine Anerkennung mir gegenüber stieg.
An
sich sehnte ich mich danach nur still an seiner Seite zu sitzen, meinen Kopf
gegen seine Schulter zu lehnen und die Augen zu schließen. Ich wollte nichts
als seine Nähe spüren.
Aber
er tat mir nicht den Gefallen.
Leise
redete er weiter.
„Ich
bin mehr als ein Vampir und der Sohn des Urvaters aller Vampire... Und du bist
mein Gegenstück...“
Ich
begriff ihn nicht. Wenn das stimmte, lieferte er sich mir aus. Wie konnte er
sich so sicher sein, das ich nichts gegen ihn unternahm? Ich würde natürlich
jetzt versuchen mehr über ihn herauszufinden, dank der Massenmedien und des
Internets oder der traditionellen Bibliothek sollte sich das nicht als ein
Problem darstellen. Er musst sich doch abgesichert haben gegen mich.
„Warum
verrätst du mir all das, wenn du mich fürchtest, Saurva? Das ist paradox, mein
Freund.“
Er
lächelte nur leise.
„Vielleicht
sehne ich mich ja nach dem Ende, Kim...“ hauchte er nur. Vielleicht will ich,
dass du meine Erlösung bist.“
Ich
verzog spöttisch die Lippen. „Nie und nimmer, Saurva. Das ist zu abgedroschen.
Hör auf wie ein Suizid gefährdeter Vampir zu klingen, der im Selbstmitleid
ertrinkt. Das ist allein Anne Rice’ Lestat vorbehalten.“
Saurva
begann zu lachen, ausgelassen und laut, als habe ich einen guten Scherz
gemacht, etwas das ich ohnehin nie konnte. Dennoch hatte ich das Gefühl er
würde sich tatsächlich hervorragend über meine Worte amüsieren. Vermutlich
wurde man auch als Vampir ein wenig wunderlich, kam man in die Jahre. Eine
Vorstellung die mir nicht so recht schmeckte. Ich hatte eigentlich vor recht
alt zu werden und dann nicht als Fall für eine geschlossene Anstalt zu enden.
Langsam
begann mein Geist wieder in gewohnter Weise zu arbeiten. Der Zauber verflog und
zurück blieb nur die Liebe zu dem persischen Vampir.
Ja,
ihn liebte ich von ganzem Herzen.
Dann
begann ich zu schmunzeln und schüttelte den Kopf. „Wir sind ganz schön seltsam
geworden, nicht wahr?“ fragte ich ihn und betrachtete ihn aus den Augenwinkeln.
Sein
Blick traf mich, immer noch fröhlich. Dann nickte er. Plötzlich wurde er wieder
ernst.
„Lass
uns einige Schritte laufen, Kim,“ bat er mich leise und stand auf, seine
Zigarette immer noch im Mundwinkel.
Meine
Brauen zogen sich zusammen. Ich spürte den Titanring unangenehm darin, stand
dann aber still auf und folgte ihm durch die leeren Gänge, immer unter den
kalten, klaren Augen der Sterne.
Saurva
schwieg. Er schlenderte neben mir her.
Es
kam mir fast vor, als wolle er sich alles hier noch einmal ansehen, bevor er
für immer ging. Allein die Art wie er sich umsah und alles in sich aufnahm -
fast in sich aufsog - vermittelte mir, dass er hier nie wieder an diesen Ort
zurückkehren würde. Warum? Weil er mich vorhatte hier zu töten, endgültig den
Befehl seines Vaters auszuführen? Kaum, was hätte diese bizarre Ansprache sonst
für einen Sinn gehabt? Oder steckte dahinter mehr? Auch würde er nicht auf den
Gedanken kommen mir etwas von sich zu verraten, wenn es eine neue Nacht für
mich geben sollte.
Ihm
konnte man nicht trauen. Er, der Teufel in Gestalt eines Engels.
„Willst du allem hier ein Ende setzen?“
fragte ich dennoch.
Er
schwieg, sah mich nicht an.
„Ich
will nicht sterben,“ flüsterte ich nur. „Du musst mich schon zu Tode hetzen,
wenn du mich vernichten willst.“
Diesmal
riss er sich von dem Anblick der Ruine los und lächelte eigenartig traurig.
„Vernichten?“ fragte er. „Vielleicht will ich zerstören, aber nicht so. Das
liegt mir fern, Kim. Ich kann nicht vernichten, was mein ist und was ich
geschworen habe für immer zu halten. Du wirst mein sein, daran ändert sich
nichts. Dafür will ich alles hinter uns lassen, was eine Verbindung zwischen
uns beiden war. Ich will alles löschen, was auf dich hinweisen kann. Dich neu
erschaffen, schöner und größer als je vorher.“
Langsam
wendete er den Kopf und starrte in den Nachthimmel hinauf, in den Mond, über
den sich rötliche Schleier zogen. „Blutmond,“ flüsterte er. „Ich habe mich
entscheiden, Kim. Ich habe mich für dich und die Menschen entschieden. Aber du
wirst noch sehr unter mir leiden müssen, denn um dich zu beschützen muss ich
dich an den Rand des Wahnsinns und des Todes bringen. Und ich bin mir nicht
sicher, ob deine Liebe zu mir das aushalten wird. Davor habe ich Angst.“
Seine
letzten Worte klangen so ehrlich und sorgenvoll, offenbarten mir einen weiteren
Bruchteil seiner Seele. Ich spürte wie mein Herz danach schrie ihm alles zu
glauben, verzaubert von ihm.
„Ich
werde dich zerbrechen. Aber dann bist du endlich sicher.“
„Warum
- ich weiß, dass ich dich das immer frage, Saurva - aber ich begreife nichts,
weil ich nichts von dir weiß.“ Verzweiflung schlich sich in meine Stimme.
„Wenn
du weißt, wer und was du bist, welche Bedeutung du hast, dann weißt du auch,
dass du mich nie gebraucht hättest um ewig zu leben, schon weil du unsterblich
warst - mein Gegenteil, Khshathra Vairiya. Mach’ mit dieser Information, was du
willst.“
Ich
senkte den Blick. „Meinst du es denn ernst mit mir?“
Er
nickte sachte.
Es
beruhigte mich nicht sonderlich, denn ich spürte, dass er mir dennoch wehtun
würde. Und sicher war ich mir auch nicht ob der Tod nicht die schönere,
friedvollere Lösung war. Aber das war Saurva, die einzige Liebe, die ich je
hatte.
Langsam
ging ich neben ihm her, unsicher, was er noch mit mir vorhaben könnte.
Anspannung machte sich in mir breit, als er das Atrium umrundet hatte und
langsam mit mir zu dem einstigen Wintergarten schritt, der Rückseite des
Hauses. Dort erstreckte sich ein Teil des Parks, aber es fanden sich auch die
Leichenfelder meiner Familie an diesem Ort. Es war der Platz der blicklosen
Geister, der Erinnerungen.
Die
bösen Vorahnungen bestätigten sich, als er direkt zu dem kleinen,
mauerumfriedeten Totenacker schritt.
Was
bezweckte er damit?
„Dein
Platz war nie hier, keiner von euch hätte je diese Welt betreten sollen...
sowenig wie wir. Wir sind der Ursprung allen Übels dieser Welt, Kim.“
Er
warf die Zigarette von sich und schob vorsichtig die verrostete
schmiedeeisernen Türe auf. Die Angel ächzten und protestierten. Kleine Splitter
korrodierten Metalls platzten ab und rieselten zu Boden.
„Komm...“
Ich
sah ihn an, zögerte seiner Aufforderung nachzukommen. Sein Blick war
entschlossen, sanft, aber dennoch zwingend. Ich wollte nicht dorthin, nicht
ihnen allen gegenübertreten. Schon gar nicht meinem früheren ich. Hier
erwarteten mich meine Vorväter und ihre Anschuldigungen hallte noch aus
Erinnerungen in meinem Kopf.
Aber
mein Blick versank in dunklen, fast hypnotische Augen, ertrank darin hilflos.
Und alle Gegenwehr erlosch.
„Saurva...“
hauchte ich in schwachem Aufbegehren.
Schweigend
wartete er.
Mein
Wille brach endgültig unter seinem herrischen Auge. Mit gesenktem Kopf trat ich
auf den Totenacker.
Obgleich
ich es nicht wirklich empfand, fror ich innerlich. Ich schämte mich für all das
was ich war, was ich meiner Familie antat.
Er
geleitete mich bis zu einem mir nur zu bekannten Grabstein. Ich musste ihn
nicht aufsehen um zu wissen, was darauf stand.
Konstantin
Immanuel Maximilian Wiegand, geboren 1716, gestorben 1745
„Warum
führst du mich hierher, Saurva?“ wisperte ich schwach.
„Um
Abschied von ihnen zu nehmen, Kim,“ antwortete er leise und schob mir etwas in
die Hand. Dann neigte er sich zu mir und gab mir einen sanften, behutsamen
Kuss, viel sanfter als er es sonst zu tun pflegte.
Ich
schloss die Augen und öffnete leicht die Lippen, um ihm Einlass zu gewähren. Es
war ein so süßer, langer, tiefer und inniger Kuss.
Für
einen Moment spürte ich ihn noch... dann verwehte er, als sei er ein Geist.
Fort!
Tränen
rannen über meine Wangen. Ich wollte ihn nicht verlieren!
Langsam
öffnete ich die Augen und blickte hinauf, in die Sterne und den unnatürlich
großen, roten Mond.
Sie
waren so kalt und fern wie Saurva.
Als
ich wieder hinab sah, war ich umgeben von den Geistern meiner Familie. Schatten
von ihnen, Jahrhunderte alt, düster, eine Hauch einer verlorenen Zeit. Unter
ihnen waren Menschen, aber auch geflügelte Geschöpfe... und einer der Engel
schien mein Ebenbild zu sein... Ich kannte ihn von den Bildern in unserer
Ahnengalerie. Er war es, der den steinernen Engel auf dem Wasserbassin
erschaffen hatte... Nach wessen Modell? Saurvas?
Wie
lang jagte er schon in unserer Familie? Wer war er?
Ein
persischer Prinz oder doch mehr?
Dies
hier war zumindest ein Abschied, ein trauriger Abschied von all denen die vor
und nach mir kamen.
Ich
hob den Brief in meiner Hand. Es war ein amtliches Schreiben, ein Brief mit dem
Landessiegel Niedersachsens. Der Adressat war Saurva. Ich zog das Schreiben
heraus und überflog die Zeilen in dem schwachen Licht.
Es
entglitt meinen Händen und sank zu Boden. Ich schloss die Augen. Ja, ich hatte
alles verloren. Sogar meine Heimat. Für immer.
Nachdenklich
setzte ich mich auf die Umfassung meines Grabsteines und blickte zu den
Geistern um mich. Sie alle waren versammelt, lediglich Till und Tim, meine
Neffen, fehlten. Langsam vergrub ich mein Gesicht in den Händen und begann alle
Möglichkeiten durchzugehen diesen Ort zu retten Er nahm mir alles, auch mein
Sanktum, meinen Rückzugsort.
Es
gab nichts, was ich noch tun konnte. Er hatte mir nicht mehr als wenige Stunden
gelassen. Die Vergangenheit töten und die Verbindung zu ihm zerstören, diese
Aufgabe nahm er sehr ernst. Und zum ersten mal seit dem Tag an dem ich erfahren
hatte, dass es Till und Tim gab, den letzten Verwandten, die ich noch hatte,
nahm ich die Gefahr wahr, die Saurva auch für meine beiden Jungen war. Einen
von ihnen hatte er schon einmal durch das Tal des Todes gejagt und Till damit
zerbrochen.
Ich
wurde der Gefühle für die beiden Jungen, nun jungen Männer, gewahr.
Jetzt
wollte ich bei ihnen sein, sie beschützen und für sie kämpfen; und vielleicht
in ihrer Nähe vergessen, was im Morgengrauen geschehen würde, die Baumaschinen,
die kamen um all das hier für immer
auszulöschen.
Der
Moment des Erwachens, den ich mir so lange ersehnte, war nun endlich gekommen.
Gleich wie sehr ich Saurva liebte, so war nun die zeit des Widerstandes
gekommen.
Saurva
hatte recht. Er würde mich brechen müssen, wenn ich ihm gehören sollte. Aber in
mir existierte immer noch das Feuer gegen ihn vorzugehen, hatte er mir doch
alle Macht dazu in die Hände gegeben!
Und
ich würde es tun, das schwor ich mir und all denen, die um mich standen und dem
Licht des roten Mondes.
In
dem Licht dieses Mondes fand ich die schlafenden Zwillingsbrüder, die sich
aneinander klammerten, immer noch voll Angst je wieder voneinander getrennt zu
werden.
Sie
lagen in dem großen Bett, träumten von einem Leben ohne mich, darin war ich mir
sicher.
Langsam
ließ ich mich neben Tim, der sanften liebenswerten Tim, der nie ein böses Wort
gegen meinen Zynismus und meine unbegründete Wut auf ihn entgegnete, nieder und
legte behutsam meine kalte Hand auf seine Schulter. Ich wollte ihn wecken,
obgleich mir Tills spontanes Wesen mehr gefiel, seine Faszination für mich.
Der
schwarzhaarige junge Mann hob sachte die Lider und blinzelte verschlafen. Seine
Haut war noch heiß von der Nähe seines Bruders. Ich wusste, dass sie einander
in tiefer und lustvoller Liebe zugetan waren.
„Kim...“
murmelte er undeutlich, allerdings auch deutlich verwirrt. Durch die Stimme
Tims geweckt, gähnte nun auch Till und zwang seine Lider auf.
Offensichtlich
musste ich ein Bild der Verzweiflung und des Leides sein, denn wortlos richtete
sich Tim auf und umarmte mich fest. Das warme, freundliche Licht in seinem
Blick war immer noch das des sechzehnjährigen Jungen, der damals bei mir
einzog. Nichts hatte er mir übel genommen. Er, der menschliche. Der Duft seines
warmen Leibes, seines Lebens erinnerten mich an Konstantin Immanuel Maximilian
Wiegand, an mich, der Mann der ich einst war. Till und Tim. Ich umklammerte
beide mit aller Kraft und vergrub meinen Kopf in ihren Haaren.
Sie
waren mein Grund zu kämpfen, mehr denn je wusste ich es und wiederholte meinen
Schwur, den ich unter den toten Blicken meiner Ahnen abgegeben hatte erneut,
stumm, im Licht des Blutmondes.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Tanja Meurer).
Der Beitrag wurde von Tanja Meurer auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.11.2007.
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