Thomas Vasniszky

Der hoffnungsvolle Romantiker


Beginnen möchte ich meine Geschichte mit den Umständen, unter denen meine Wenigkeit die Bekanntschaft mit Claude, dessen Geschichte ich Ihnen hier darstellen möchte, machte.
 
Unsere erste Begegnung fand am 20. April des Jahres 1748 statt. Ich traf Claude in einer Seitengasse des allzu erbärmlich stinkenden Paris. Er befand sich in einer Spelunke, die zwar nicht so sehr nach dem dünstenden Straßendreck, dafür aber umso mehr nach sämtlichen gängigen Spirituosen stank. Ich verlief mich nur zufällig an diesen Ort. Allerdings muss ich zugeben, dass dieser Ort eine willkommene Abwechslung für mich darbot, weshalb ich mich entschloss, mich doch für eine Weile dort aufzuhalten. Ich setzte mich an den freien Platz zur Rechten Claudes und machte meine Bestellung. Kurz darauf kamen wir ins Gespräch; ich fand Claude auf Anhieb sympathisch. Ich fragte mich, was ein Mann wie er an diesem Ort suchte. Ansonsten befanden sich in der Spelunke nur zwielichtige Gestalten, was mich tief im Inneren beunruhigte, waren doch diese Gestalten zu grausamen Taten fähig, insbesondere in trunkenem Zustand. Je mehr Claude trank, desto mehr erfuhr ich über seine Vergangenheit und sein aktuelles Befinden.
 
Sehr bald begann er, mir sein Herz auszuschütten. Er berichtete mir von seiner Einstellung zu Tod und Verderben, Glück und Misere, Gut und Böse, Leben und Liebe. Claude behauptete, er glaube daran, dass es für jeden Mann in dieser Absteige, ja gar für jeden Mann auf der ganzen Welt, eine passende Frau geben würde. Mit Sicherheit war er nicht der Erste, der das behauptete, jedoch, so schien es mir, der Einzige, der so nachdrücklich mit dieser Lebensweisheit umging.
 
Claude legte einen Schwur auf Herz und Haupt ab, dass er sich nur für seine passende Lebensgefährtin entscheiden würde, und, falls er diese nicht finden sollte, er bis an sein Lebensende überhaupt kein Mädchen zu seiner Frau machen würde.
 
Seine Einstellung beeindruckte mich zutiefst. Ich stimmte ihm in der Theorie zu; die Praxis hielt ich jedoch anders. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon so manches Mädchen gehabt und ich bewunderte Claude, dass er in Paris leben konnte, ohne den Freuden der Straße nachzugeben. Ich hielt mich für relativ standfest und, wie bereits erwähnt, schaffte selbst ich es nicht, mich von den Absteigen, die in rotes Licht getaucht wurden, nicht verlocken zu lassen.
 
Er hingegen versicherte mir, dass er seiner Philosophie treu bleiben würde.
 
Gerne hätte ich mich mit ihm noch stundenlang unterhalten, nur leider war ich gezwungen, die Spelunke, Paris, ja sogar Frankreich noch am selben Tage zu verlassen. Die Geschäfte, wegen derer ich umgehend nach London reisen sollte, zwangen mich zu diesem bedauernden Schritt. Zu meiner Freude tauschten Claude und ich unsere Anschriften, noch bevor ich ging, aus, so dass wir jederzeit in Briefkontakt bleiben konnten, denn allzu bald würde ich nicht nach Paris zurückkehren, obwohl mir die Stadt sehr gefiel.
 

 
Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich den ersten Brief von Claude erhielt. Seine Schrift war wunderschön und die Buchstaben zogen sich in schwarzer Tinte über das Papier hinweg. Zuvor war ich von Angst erfüllt, er und ich, wir könnten beide die Anschriften verlieren, und ich würde nie erfahren, wie sein Leben weiter verlief. In jenem Moment lag jene Angst schon weit zurück und ich erfreute mich an Claudes Worten, die er mir, sehr sorgfältig gewählt, zusandte.
 
Er schrieb, dass es ihm gut ginge, soweit man von gut sprechen konnte, wenn man alleine war. Er war vorher mit der Situation zurecht gekommen und werde in Zukunft auch keine Probleme damit haben. Jedoch sehnte er sich nach „seiner Frau“, für die er alles tun würde, was in seiner Macht stehe und jedes erdenkliche Opfer bringen würde. Die Sehnsucht nach Liebe erdrang immer lauter in seinem Herzen.
 
Ich konnte regelrecht mit Claude mitfühlen. Zu gern wäre ich damals in Paris gewesen und hätte ihm geholfen sein Mädchen zu finden. Unruhigen Gemüts überlegte ich, wie ich Claude helfen konnte. Nächtelang zerbrach ich mir den Kopf. Mein Brief sollte nicht ohne guten Ratschlag in Paris ankommen. So sehr ich mich auch anstrengte, fand ich, zu meinem Entsetzen, doch keine Lösung und so schrieb ich ihm, zu meinem Leidwesen, einen sehr formal gehaltenen Brief.
 

 
Und so vergingen die Jahre, stets gefüllt von unzähligen Briefen, in denen mir Claude vorjammerte, dass er niemanden für sich finden könne. Über jeden seiner Briefe ergoss ich tausende von Tränen, denn ich spürte wie sehr es ihm am Herzen lag, seine Liebe zu schenken. Ich war gerührt von der Ehrlichkeit, die dieser Mann mir entgegen brachte und ab und an war es mir nicht einmal möglich, seine Briefe zu Ende zu lesen, weil ich immer wieder abbrechen musste, so sehr tat es auch mir Weh. Dieser junge Mann hatte dieses Schicksal nicht verdient; dessen war ich sicher.
 
Immer wieder drängte sich in mir die Frage auf, warum das Leben so mit ihm verfahre. So war er doch ein recht filigraner Zeitgenosse, von dem man denken mochte, er hätte nicht das geringste Problem ein Mädchen für sich zu finden. Manchmal glaubte ich einfach, er stelle seine Ansprüche so hoch, dass gar niemand auf der großen, weiten Welt, ihnen entsprechen konnte. Doch, wie so oft in den Angelegenheiten, die Claude betrafen, fand ich keine Antworten auf die Fragen, die so tief in meinem Herzen brannten.
 

 
Eines Tages, es war ein herrlicher Augustnachmittag, erhielt ich einen ganz anders geschriebenen Brief. Dieser war voller Wärme und von großer Herzlichkeit erfüllt. Claude war einem Mädchen begegnet, ihr Name war Annabelle, die, so wie er glaubte, „seine Frau“ war.
 
Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich für meinen Freund freute, als ich diese Zeilen las. Endlich war ihm das Glück hold geworden.
 
Sie war, so schrieb er weiter, eine echte Augenweide, das schönste Geschöpf, welches die Erde je erblickt hatte…An dieser Stelle hätte ich noch unzählige weitere Lobpreisung auf das Mädchen anführen können, jedoch möchte ich fortfahren, Claudes Schicksal in all seinen Facetten zu schildern. Claude traf Annabelle bereits vier Male zum Rendezvous, und jedes Treffen mit ihr schien himmlischer zu sein als das Vorige. Seinen Angaben zufolge duftete sie nach frischen Blumen und sah aus wie ein Engel, der einem göttlichen Paradies entstammte. Er würde mir mit dem nächsten Brief die weiteren Ereignisse unverzüglich mitteilen.
 

 
Ich verweilte in ungläubigem Staunen. Sollte Claude tatsächlich sein Glück gefunden haben? Zunächst war ich skeptisch, mit der Zeit nahm ich aber durchaus an, dass der nächste Brief eine Einladung zu seiner Hochzeit enthielt. Dies ärgerte ich mich, denn ich war mir ziemlich sicher, dass ich London nicht verlassen konnte, falls meine Mutmaßungen der Wirklichkeit entsprachen. Wie gerne wäre ich an seinem großen Tag dabei gewesen!
 
Die nächsten Tage zogen nur langsam an mir vorbei. Ich erwartete jeden Tag, dass ein Brief aus Paris eintreffen würde. Ich war aufgeregt und gespannt Neuigkeiten von Claude zu erfahren. Meine Konzentration bei der Arbeit ging dem Nullpunkt entgegen. Ich verließ nach Feierabend nicht mehr meine Wohnung, in der Hoffnung sein Brief würde noch am selben Tage bei mir ankommen. Der nächste Brief ließ jedoch sehr lange auf sich warten und so machte ich eine sehr anstrengende Phase meines Lebens durch, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass Claude eine ungemein schwierigere Zeit durchmachte.
 
Tatsächlich dauerte es neun Monate, bis ich den nächsten Brief, welches zugleich auch sein letzter sein sollte, erhielt. Nie zuvor hatte ich so lange nichts von ihm gehört und befürchtete schon das Schlimmste. Verständlicherweise war ich sehr nervös, als ich den Brief zum ersten Mal las.
 
Was er da schrieb, konnte ich nicht glauben.
 
Es war ein Abschiedsbrief. Als ich ihn in der Hand hielt, war Claude bereits nicht mehr auf dieser Welt. Diese Tatsache bedrückte mich und deprimierte mich tagelang. Es war mir rätselhaft, wie ein Mensch zu der Tat fähig ist, sich selber das Leben zu nehmen. Der Rest des Briefes nahm mir sämtliche Zweifel an der Wahrheit seiner Aussage und ermöglichte mir  seine Handlung nachzuvollziehen. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er mich in dieser Hinsicht nicht belügen würde.
 

 
Nun aber möchte ich Ihnen nicht länger die Umstände, die zu Claudes Selbstmord geführt haben, vorenthalten. Sein letzter Brief war in krakeliger, für ihn so untypischer Schrift geschrieben, dass man glauben könnte, dieses Schriftbild gehöre nicht zu Claude. Die Ernsthaftigkeit seiner Worte schlossen jedoch aus, dass jemand anderes diesen Brief verfasst hatte.
 
Claude war in Annabelle verliebt, von der er glaubte, sie wäre „seine Frau“. Er verehrte sie als seine Göttin, und sie, so schrieb er, erwiderte seine Gefühle.  Beiden wurde klar, dass sie einander heiraten wollten, weshalb Claude bei Annabelles Vater um die Hand der Tochter anhielt. Der Vater sagte zu und erwähnte ausdrücklich, welch gute Partie Claude doch sei, und dass seine Tochter größtes Glück habe, die  Frau eines solch ehrenhaften Mannes zu werden. Die Beiden versprachen sich einander, in guten und in schlechten Zeiten. An dieser Stelle bat mich Claude um Vergebung, da er mir keine Einladung zusandte, denn seine Frau Annabelle war, ebenso wie er, nicht gerade mit Geld gesegnet, so dass jeder weitere Gast die Kosten nur in die Höhe trieb. Jedenfalls war Claude zu diesem Moment der glücklichste Mann auf Erden und er, so war mir klar, würde seiner Angetrauten jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Seine Worte vermochten nicht zu sagen, was sein Herz empfand, seine Beschreibungen aber sollten das Höchste aller Gefühle ausdrücken.
 
Claude zog bei Annabelle in das Haus des Vaters ein. Annabelles Mutter und Annabelles Schwester Beatrice empfingen den Gatten herzlichst. Nicht im Traum dachte Claude daran, dass irgendetwas seine Welt zerrütten könne. Er versuchte, so gut er konnte,
 
Annabelle ein guter Mann zu sein. Und er schrieb Annabelle sei die wunderbarste Frau, die Paris je gesehen hatte.
 

 
Und dann kam das, was Claude am meisten erschütterte, und letztendlich der Grund für seinen Selbstmord war. Er verliebte sich in ein anderes Mädchen, das, zu allem Übel, ausgerechnet Beatrice hieß und Mitglied der Familie war. Annabelles Schwester, so waren seine Worte, war nicht minder hübsch und klug als seine Gattin. Er hielt es jedoch vorerst für das Beste, seine Gefühle für sich zu behalten und die Zeit die Dinge erledigen zu lassen.
 
Ich konnte seinen Worten kaum Glauben schenken, überzeugte er mich doch von der Ansicht, dass er nicht fähig wäre, jemals ein anderes Mädchen als seine Frau zu begehren.
 
Er konnte selbst nicht damit leben, dass in seiner Brust zwei Herzen schlugen, von denen das Eine langsam anfing, sich zu zersetzen und das Andere von ihm selbst so verhasst war. Sein innerer Zwiespalt demütigte ihn. Es war jedoch nicht seine Absicht die Ordnung der Familie aus der Ruhe zu bringen und so hielt er es für das Beste, eines Morgens fortzugehen, ohne jegliche Antworten zu hinterlassen, die nur noch mehr Fragen aufgeworfen hätten. Anfangs nahm er sich sogar vor nach London zu kommen, um mich zu besuchen, verwarf diesen Gedanken doch recht zügig, denn er wollte nicht, dass ich ihn in dieser Verfassung sah. Kein Ziel erschien ihm anstrebenswert und so wusste er selbst nicht, wohin es ihn am nächsten Tage verschlug. Seinen letzten Brief gab er in Arnheim auf, wo, so schrieb er, die Welt auch kein schöneres Gesicht darbot, als an jedem anderen der Orte, die er zu Lebzeiten besucht hatte.
 

 
Somit endete die Geschichte meines Freundes Claude, der, so nehme ich an, nicht mehr unter den Lebenden verweilt. Mit ihm endete auch der Traum eines Romantikers, der Traum von der einzigen, ewigen Liebe, denn, wenn nicht der junge Mann aus der Spelunke diesen Traum verwirklichen konnte, wem wäre es dann möglich diesen Pfad zu beschreiten? Ich habe mir mein Urteil bereits gebildet, doch hoffe ich, Sie kommen mit sich selbst ins Reine, und können sich auch Ihr Urteil bilden. Es wird sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich diese Geschichte Preis gebe, nicht weil dies die Geschichte eines geliebten Freundes ist, sondern vielmehr, weil dies eine Geschichte derer ist, die daran gescheitert sind ihre wahre Liebe zu finden.
 
Ich bedaure zutiefst Claudes tragisches Schicksal; es erschüttert mich bis ins Mark, dass dies keine Geschichte ist, die man in einer Spelunke in irgendeiner Seitengasse hört, sondern eine wahre Geschichte, die ich mit Leib und Seele miterlebt habe.
 
Meine Wenigkeit ist zu alt um diese Begebenheiten noch lange weiter zu vermitteln und so erhoffe ich mir, nicht dass jemand meine Gedanken wieder aufgreift, sondern selbst in dieser Welt die Romantiker findet, die, obwohl ihre geistigen Vorfahren so gnadenlos scheiterten, sich und ihrer Idee immer noch treu bleiben.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.11.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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