Joe R.

"Der König von..."

 
Chicago – Ratten und Kakerlaken – in wirklich schönen Anzügen, das muss ihnen der Neid schon lassen. Mein Name ist Joe. Ich mache euch hier den Erzähler. Und falls sich nun der Eine oder Andere fragen sollte, wer ich überhaupt bin: Ich bin der Trottel, der dort drüben, mit dem Gesicht nach unten, in einer Pfütze liegt. Zwei Kugeln in der Brust - sehr professionell. Hätte ich noch einen Hut, würde ich ihn ziehen, aber wie es scheint, tragen Leute in meiner Lage keine Hüte mehr. Wozu auch?
 
Chicago – Verbrechen lohne sich nicht - wer auch immer das von sich gab, war kein Kind dieser Stadt. Ich übrigens auch nicht. Nein! Verbrechen schon, aber Kind dieser Stadt war ich keines. Angeheuert – ja, man kann mich sozusagen „mieten“. Ich stand – Nein – ich stehe im Telefonbuch. Allerdings nicht in einem von Chicago. Ich betreibe – Nein – ich betrieb einen kleinen Reinigungsservice, der in gewissen Kreisen einen exzellenten Ruf genoss. Vielleicht mal abgesehen von heute, arbeitete ich äußerst diskret, absolut zuverlässig, und sehr schnell.  
 
Chicago – nicht Las Vegas oder New York – aber man kann sich auch in dieser Stadt bestens vergnügen. Vorausgesetzt die Brieftasche ist dick genug. „Bleib’ da keine Sekunde länger als unbedingt nötig!“ sagte meine kleine Assistentin. Klein? Zweifellos – Assistentin? Na ja, es gab schon Nächte, in denen sie mehr tat, als nur Anrufe entgegen zu nehmen. Kleine Gina – Gina? Das klingt so italienisch – Mafia? Zugegeben, es ist nun ein bisschen spät, sich darüber Gedanken zu machen – würde schließlich auch nichts mehr ändern. Hmm...  
 
Chicago also – mit dem Zug um 14 Uhr 20 hinein, und mit dem Zug um 17 Uhr wieder hinaus. Dazwischen zwei Taxifahrten, einige Meter zu Fuß, drei oder vier Kugeln, und ein breites Grinsen nach Erledigung meiner Arbeit – das war der Plan. Kein schlechter Plan. Was hätte schon schief gehen können? Dass der Zug Verspätung hat? Zu lange am Bahnhof gesessen - deswegen dort aufgespürt und abgeknallt worden? Keine Sorge, ich bin – Nein – ich war durchaus in der Lage, mich so zu verhalten, dass man mich nicht entdecken würde.  
 
Chicago – Rom sehen und sterben. Von Chicago war nie die Rede. Allerdings habe ich vor meinem kleinen „Unfall“ auch nicht viel gesehen, von Chicago. Und nun? Wenig spannend, in eine Pfütze zu starren. Die Spitzen einiger Wolkenkratzer, Häuserwände spiegeln sich, ein bisschen Himmel, einige Wolken – interessant war nur eine zerknitterte Seite der heutigen Zeitung, die der Wind mir neben das Gesicht wehte. Schlagzeile: DER KÖNIG VON CHICAGO – darunter das Bild eines alten Bekannten, der offenbar gerade noch rechtzeitig den Aufstieg in die Oberliga geschafft hatte. Welche Ironie...  
 
Zurück zur Geschichte - denn was ist schon ein Erzähler so ganz ohne Geschichte? Der Plan war gut. Der Zug war pünktlich. Kurz nach drei Uhr stand ich vor dem Bahnhof von Chicago – 59. Straße. Bedeckter Himmel - kein schöner Tag. Aber „schön“ konnte man den Anlass meiner kleinen Reise schließlich auch nicht nennen. Alles in Allem also durchaus passend. Die Aktentasche unter den Arm geklemmt, zündete ich mir eine Zigarette an. Es war meine letzte Zigarette – nicht nur in dem Päckchen. Hätte ich es zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, hätte ich sie wohl auch etwas mehr genossen. So kreisten meine Gedanken aber vornehmlich um die Beseitigung eines alten Bekannten, der für meinen Klienten offenbar zu einem Problem geworden war. Ich stieg ins erste Taxi, nannte dem Fahrer das Ziel und erfreute mich am bescheidenen Luxus einer halbwegs gemütlichen Rückbank. Zwei Bilder zog ich aus der Tasche. Bilder, die wirklich nicht nötig gewesen wären, denn ich kannte den Mann gut. Er hatte mir mehr als einen Scheck ausgestellt. Na ja, Geschäft ist nun mal Geschäft.  
 
 Vor dem Eingang des Hotels angekommen, gab ich dem Fahrer sein Geld und stieg aus. Durch eine schwere Drehtür gelangte ich in die Lobby. Rezeption links, Fahrstühle rechts – Gina hatte ihre Arbeit gemacht. Nur aus den Augenwinkeln die Gegebenheiten prüfend, lief ich zielstrebig an einigen Pagen vorbei. 29. Stock – wer sich diese Preislage leisten konnte, dessen Magen knurrte nur noch selten. Und ständig hielt der Aufzug an. Einsteigen, aussteigen – große Koffer, kleine Koffer, keine Koffer. Die Fahrt schien ewig zu dauern. Selbst über die Feuerleitern hätte es nicht wesentlich langsamer gehen können. Als mich dann endlich das erlösende „Bling“ und die sich öffnenden Fahrstuhltüren aus dem aufkeimenden Ungemach befreiten, fiel mein Blick auf vier kräftige Herren, die dort mit finsteren Minen den Flur in beide Richtungen beobachteten. Demonstrativ hob ich meinen linken Arm etwas an und schaute auf die Uhr. Dem folgte ein oskar-reifer „Oh-ich-bin-aber-spät-dran-Gesichtsausdruck“ und mit strammen Schritten verließ ich die Kabine. Ein höfliches aber bestimmtes: „Darf ich mal?“ ermöglichte mir den Kopf in Richtung eines dieser Gorillas, und damit auch in Richtung der Türe zu drehen, ohne mich damit verdächtig zu machen. Angekommen ja, aber wie reinkommen?   Dieses kleine, unbedeutende Detail - also diese vier gar nicht so unbedeutenden Bodyguards - hatte meine Assistentin ganz vergessen zu erwähnen. Zimmer Nummer 2904. Für einen kleinen Moment hatte ich Zweifel, weil Ginas Recherchen bis zu diesem Tag stets ohne auch nur die geringsten Mängel waren. Viel Zeit zum Nachdenken blieb mir allerdings nicht, weil diese Herren mich ganz sicher im Blick behielten, und bei meinem Tempo war das Ende des Flures bald erreicht.  
 
Optionen, Optionen – Im Geiste ging ich meine Möglichkeiten durch. Was ebenfalls nicht lange dauerte. Umdrehen, ziehen, schießen – und wahrscheinlich sterben. Hat man das Überraschungsmoment auf seiner Seite, stellen zwei Mann kaum ein Problem dar. Allerdings war ich hier der einzig wirklich überraschte. Bei Vieren kann es schon heikel werden. Dazu die Ungewissheit, wer anschließend aus Zimmer 2904 herausstürmen würde.  
 
Optionen, Optionen – Die Feuerleitern! Aber dazu hätte ich erst einmal in eines der Zimmer kommen müssen. Feuer? Feueralarm! Nein, es wäre sicher nicht aufgefallen, hätte ich dort oben ein Glas eingeschlagen und den Knopf gedrückt – Schnapsidee! Feuer? Kurz fragte ich mich, ob ein NASCAR-Fahrer, dessen Wagen gerade Feuer gefangen hatte, sich wohl auch wünschte, er hätte auf seine Eltern gehört, und den Job bei der Finanzbehörde angenommen. Zumindest ging es mir so, in diesem Moment.  
 
Optionen, Optionen – Ich brauchte einen Fluchtweg. Trotz der Anspannung, die mit jedem Schritt auf die letzte Tür zu immer größer wurde, bemühte ich mich einen geistigen Strohhalm zu finden, in dem, was Gina mir über das Hotel gesagt hatte. Seitenstraße, Lobby, Aufzug, 24. Stock, 29. Stock, Rauchmelder, Sprinkleranlage, Dach... und da sah ich einen Funken Hoffnung: Die Treppe zum Dach – vom 29. Stock aus. Und diese Treppe lag hinter einer roten Tür. Und diese roten Tür war... ich konzentrierte mich so gut es unter diesen Umständen eben möglich war. Die rote Tür? Genau! Direkt rechts neben dem Fahrstuhl. Als mir das bewusst wurde, hätte ich am liebsten den Kopf gegen die Wand geschlagen. Aber zu spät...  
 
Keine Optionen mehr – Ich war vor der letzten Türe dieser Etage angekommen. Spürte wie meine Hände feucht wurden. Fühlte wie das Blut immer schneller durch meine Halsvenen gepumpt wurde. Ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust. Schweißperlen auf der Stirn. Dass meine Hände langsam zu zittern begannen, konnte ich nur mit allergrößter Mühe einigermaßen überspielen. Ich hob den Arm und klopfte drei Mal – fest, aber nicht zu fest – schnell, aber nicht hektisch – so, wie man eben klopft, wenn man irgendwo einen Termin hat, zu dem man aber etwas zu spät kommt. Neunundzwanzig, Sechzehn – was für eine schicksalhafte  Zahl. Ich klopfte wieder, und wartete, wobei ich ungeduldig auf den Zehen wippte. Dann ein erneuter Blick auf die Armbanduhr, ein Kopfschütteln, eine Geste zum Himmel, und schließlich noch ein letzter Versuch. Drei kaum überhörbare Schläge meiner Fingerknöchel gegen das schwere Holz der Türe von Zimmer 2916. Ebenso unüberhörbar waren leider auch die Schritte hinter mir...  
 
Na, endlich!“ – Nein, das waren nicht meine Worte, als die Türe aufging, oder als ich von hinten ein Messer in den Rücken gerammt bekam, um damit meiner Freude über das Ende dieser quälenden Warterei Ausdruck zu verleihen. Dieses vorwurfsvolle „Na, endlich!“ stammte von einer Blondine – einen Meter zweiundfünfzig groß, üppig, zumindest an den Stellen, wo üppig bei einer Frau durchaus angebracht ist, ein göttlicher Schmollmund, geschminkt wie eine „Professionelle“, waffenscheinpflichtige Fingernägel, schwarze und rote Reizwäsche, die man unter ihrem halbgeöffneten seidenen Bademantel sehen konnte, 10-Zentimeter-Absätze, und die Kraft eines World-Wrestling-Champions. Sie packte mich an der Krawatte und zog mich hinein. Dann schlug sie dem misstrauisch gewordenen Bodyguard die Tür vor der Nase zu. Ich war sprachlos. Nicht, dass ich sonst ein Plaudertäschchen gewesen wäre, aber in diesem Moment war ich wirklich sprachlos. Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, eine Augenbraue hochgezogen, stand sie mir gegenüber. „Los, da hinten ist das Schlafzimmer!“ flüsterte sie mit einem Zwinkern.  
 
Gina?“, sagte ich und sah mich ungläubig in dem Raum um, „Was machst du denn hier?“ – „Nicht hier!“ meinte sie, und schubste mich Richtung Schlafzimmer. Und sie hatte Recht. Erklärungen nicht hier, weil dieser bullige Kerl sein Ohr an die Tür gelegt hatte, um zu lauschen. Wir setzten uns auf das Bett, und sie erzählte mir, dass kurz nachdem ich losgefahren war, um den Job in Kalifornien zu erledigen, ein anonymer Anruf bei ihr einging, demnach diese „Reinigungs-Aktion“ eine Falle sei. Big Thomas hatte längst ausgecheckt, und außer diesen vier Kerlen vor der Suite wartete drinnen noch mal ein halbes Dutzend Bewaffnete auf mich. Eine Falle? Da musste ich ja mindestens Einem mit meiner Arbeit ziemlich auf die Zehen getreten sein.  
 
„Zur Beruhigung.“ – Gina hatte mir einen Whiskey eingeschenkt. Ich nahm das Glas und leerte es in einem Zug. Dann ließ ich mich zurück aufs Bett fallen. Legte meine Fäuste vor die Stirn und versuchte angestrengt den Kreis der Verdächtigen etwas einzuengen. Natürlich hätte ich diese Lage im Grunde Jedem verdanken können, der mir jemals einen Auftrag gab – genauso aber auch Jedem, der etwas mit den Opfern meiner Aufträge zu tun hatte. Kalifornien? Das kam mir schon spanisch vor. Eigentlich war es ein kleiner Fisch, den ich dort zu erledigen hatte – kein Grund einen Profi zu rufen, für so einen Ganoven. Und auch die lange Fahrt – erst hin, dann wieder zurück – zugegeben: mit dem Flugzeug wäre es schneller gegangen, aber ich habe eben meine Prinzipien - und Flugangst. Einen Tag nach meiner Rückkehr musste ich dann bereits hierher, nach Chicago. Beste Gelegenheit und genug Zeit also Etwas gegen mich vorzubereiten...  
 
Aber wer? Das war und blieb die Frage – wem konnte ich im Weg sein? Wer war die eine Leiche, die offenbar eine Leiche zu viel war? Diese Frage konnte so nicht geklärt werden. Wir mussten handeln, und zwar schnell, und wir mussten vor Allem diejenigen in Sicherheit bringen, die mit dem Reinigungsdienst zu tun hatten. Mit noch geschlossenen Augen richtete ich mich also wieder auf und fragte Gina nach dem Telefon. Aber statt einer Antwort hörte ich das Durchladen einer Pistole. Big Thomas stand in der Badezimmertür und richtete seinen Engelmacher auf mich. Aus einem anderen Raum kamen drei Männer, die mich, nicht gerade zimperlich, entwaffneten. Hatte er also Wind davon bekommen? Na ja, Geschäft ist eben Geschäft. Konnte ich gut verstehen. Es würde wohl Jeder so handeln wie Big Thomas und Alles unternehmen, um seinem vermeintlichen Mörder zuvor zu kommen.  
 
Während mir die Hände gefesselt wurden fragte ich ihn neugierig: „Woher hast du davon gewusst?“ – Er grinste. Er grinste breit und breiter und legte den Kopf in den Nacken. Er fing an zu lachen, aus vollem Hals, und seine Männer taten es ihm gleich. Dann kam er langsam zu mir herüber und tätschelte mir zwei Mal auf die Wange. „Joe? Du alter ausgebuffter Profi. Für wie viele Leute habe ich dich eigentlich bezahlt?“ Er machte eine kurze Pause, und als ich ihm, beginnend mit einem „Äh“, darauf antworten wollte, sprach er weiter: „Deine kleine Firma gibt es nicht mehr. Du hättest deine Mitarbeiter vielleicht ein bisschen besser bezahlen sollen! Andererseits wären sie dann jetzt wohl tot, weil es mir einfach zu teuer gewesen wäre, sie zu kaufen. Nachdem also sämtliche Unterlagen vernichtet sind – dank deiner bezaubernden Gina übrigens auch die in deiner Wohnung“, er zwinkerte und setze sich zu mir aufs Bett, „gibt es nur noch einen Einzigen, der für mich in mancherlei Hinsicht belastend werden könnte.“ – und Big Thomas klopfte mir mit dem Lauf seiner Pistole einige Male gegen meinen Kopf. Aber auch an der Tür wurde geklopft. Ich bekam einen Schlag ins Genick, der mich schlafen schickte.   Ich weiß nicht genau was danach passierte. Ich weiß auch nicht wo Gina abgeblieben war – die hatte ich, seitdem ich auf dem Hotelbett die Augen geschlossen hatte, nicht mehr gesehen. Aufgewacht bin ich dann, mit einer Extra-Portion Schädelbrummen, und einer ebenso dicken Portion Hass auf diese kleine Verräterin, in einem stockdunklen Raum. Keller hätte ich geschätzt – für einen Heizungskeller war es aber eindeutig zu kühl. Was sollte das? Warum hatte Big Thomas mich nicht gleich an Ort und Stelle erledigt? Schalldämpfer – Mixer und fein pürieren. Spuren? Wer würde schon in Chicago nach Spuren suchen? Ausgenommen vielleicht, sie kämen mit der Post – und dann wäre das einzige Suchen wohl das Suchen des Briefes unter den Donuts...  
 
Meine Hände waren nicht mehr gefesselt, also drehte ich mich erst einmal um, und versuchte mich langsam aufzurichten. Vorsichtig tastete ich mich in diesem absoluten Schwarz vorwärts – sofern man überhaupt von einem „Vorwärts“ sprechen konnte. Das „Vorwärts“ hatte ein Ende: eine Wand – also immer an der Wand entlang, in der Hoffnung einen Lichtschalter, einen Türgriff, oder ein Fenster zu finden. Totenstille, kühl, scheinbar stand gar nichts in diesem Raum. Nichts, wogegen ich hätte treten können – was ja immerhin auch den Vorteil hatte, dass ich über Nichts stolperte. Meine Hartnäckigkeit wurde belohnt, mit einem Türgriff – und diese Türe war nicht verschlossen. Erleichtert aufatmend verließ ich die Dunkelheit – hinein in gleißendes Licht. Es dauerte einige Zeit bis sich die Augen zumindest halbwegs an die Helligkeit gewohnt hatten.  
 
Keller? Dieser Gedanke war ja voll daneben. Allem Anschein nach war ich auf einem Dach. Möglicherweise das Dach desselben Hotels. Es fiel mir immer noch schwer Genaueres zu erkennen. Aber meine Ohren hatten unter der Dunkelheit nicht gelitten. „Auch schon wach, du Schlafmütze?“ – hatte dieses Weibsstück doch tatsächlich den Schneid, hier auf mich zu warten? Mit Einigem hätte ich gerechnet, aber sicherlich nicht mit dieser Stimme. Ich drehte mich in Richtung ihrer Silhouette, oder was ich dafür hielt, und sprang nach vorne, um sie zu fassen zu kriegen. Aber die Kleine war schnell – und ich in diesem Moment zudem noch gehandicapt. Sie versuchte mich zu beschwichtigen: „Beruhige dich wieder! Immerhin lebst du noch.“ – In der Tat ein kleiner Trost. Ich hielt mich an der Mauer fest, schließlich war es ein Dach, und ich konnte noch nicht deutlich sehen. Nachdem das Alles scheinbar glimpflich abgelaufen war, wollte ich keinen „Freiflug“ riskieren.  
 
Gina redete weiter auf mich ein, entschuldigte sich tausend Mal für Alles, und betonte immer wieder, dass sie doch keine andere Wahl hatte. Ein paar Wochen zuvor hatte sie mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, den Job an den Nagel zu hängen, und irgendwo ganz neu anzufangen. Komisch, dass mir das ausgerechnet in diesem Augenblick wieder einfiel – und es war nun sogar ein Gedanke, an den ich mich hätte gewöhnen können. Eigentlich sollte ich, anstatt in Schuhen dort oben zu stehen, barfuß in einer Leichenhalle liegen, oder in irgendeinem Fluss treiben, oder Teil eines Fundamentes sein.            „Du hast nicht zufällig Zigaretten bei dir?“, fragte ich Gina – Aber diese Frage hätte ich mir sparen können, schließlich wusste ich doch, dass sie nicht rauchte. Langsam konnte ich auch wieder Alles deutlich erkennen. Gina schlug vor, dass wir schleunigst aus der Stadt verschwinden sollten. Ich hatte keine Einwände. Wir gingen wieder hinein, fuhren mit dem Aufzug nach unten und verließen das Gebäude...  
 
Ein Tabakwaren-Laden - genau gegenüber dem Hotel. Rein, Kippen holen, raus, und verschwinden. Ich bat Gina einen Moment zu warten und eilte über die Straße. Im Vorbeigehen sah ich den Zeitungsständer vor dem Laden. Big Thomas hatte es mal wieder auf die erste Seite geschafft. Schlagzeile: „DER KÖNIG VON...“ – mehr konnte ich nicht lesen. Der Rest verschwand hinter anderen Zeitungen. Es war nicht viel los, als ich das Geschäft betrat. Ein Verkäufer und ein Kunde sahen mich schweigend an. „Guten Tag. Ein Päckchen Luckys, bitte! Tut mir leid, ich bin sehr in Eile – muss meinen Zug erwischen.“ – Der Mann hinter dem Tresen blickte über den Rand seiner Brille und meinte dann: „Das glaub’ ich gern’, dass Sie es eilig haben.“ Er warf mir die Zigaretten herüber, mit den Worten: „Geschenk des Hauses, und viel Glück!“ – „Glück?“, fragte ich ihn. „Dass Sie ihren Zug bekommen.“, entgegnete er zwinkernd. Ich war perplex – bedankte mich mit einem Kopfnicken, drehte mich um und teilte mir beim Hinausgehen die Tür mit einem Cop, der gerade den Laden betreten wollte.  
 
Draußen sah ich noch, wie Gina vor dem Hotel in ein Taxi stieg. Aber anstatt auf mich zu warten, ließ sie den Mann losfahren. Was konnte an diesem verrückten Tag eigentlich noch passieren? - „Nehmen Sie die Hände hoch, dass ich sie sehen kann!“, schrie Jemand hinter meinem Rücken. Diesen Satz hatte ich schon sehr lange nicht mehr gehört. Ich hob also meine Arme ein wenig nach oben, drehte mich ganz langsam um, und stammelte: „Officer, das muss eine Verwechslung sein. Ich hab’ mir hier nur Zigaretten geholt.“ – Zwischen dem Cop und mir der Zeitungsständer. Der Mann wirkte angespannter als ich selbst, und ich blickte immerhin in den Lauf seiner Waffe. Als er mit dem Funkgerät an seiner Jacke dann Verstärkung rief, hatte ich den Eindruck, dass er einen kleinen Augenblick nicht hundertprozentig bei der Sache war. Instinktiv trat ich mit voller Wucht gegen das Metallgestell. Es traf den Cop ziemlich hart, und beide gingen zu Boden.  
 
Ich gab Fersengeld. Rannte so schnell ich konnte. Brachte einige Passanten zu Fall. Ein Football-Talentsucher hätte seine wahre Freude daran gehabt. Nach rechts, in die erste Seitenstraße – na ja, es war doch mehr eine Gasse. Und ich muss zugeben: Viel weiter kam ich auch nicht. Zwei Schüsse konnte ich hören. Den ersten noch deutlich, den zweiten schon etwas dumpf. Dann ging ich zu Boden. Blieb mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze liegen. Bis die Szene, wegen der vielen Schaulustigen, für Cops kaum noch zugänglich war, musste gar nicht viel Zeit vergehen. Das ist eben Chicago.
 
Und einige Meter weiter las Jemand aus der aktuellen Zeitung vor: „Der König von Chicago ermordet! Täter war nach Zeugenaussagen dieser Mann: Joe Rascal, ein Auftragsmörder aus…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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