Andreas Rüdig
Überleben im Eis
Interessant, interessant, was das Fernsehen da berichtet. Überleben in
der Kälte? Klingt wirklich überzeugend. Erstaunlich, daß es noch nicht
mehr Menschen tun. Ich werde ein Experiment versuchen. Kann man in
einer Tiefkühltruhe überleben? Mein Exemplar zuhause ist jedenfalls
groß genug für das Experiment. Ich werde die Tiefkühltruhe ausräumen;
die Lebensmittel lagere ich im Kühlschrank. Auf Stickstoff , warme
Socken und andere Hilfsmittel werde ich vorerst verzichten; ich möchte
ungefiltert sehen, wie mein Körper auf die niedrigen Temperaturen
reagiert. Eine Sache werden ich allerdings bedenken müssen: Ich brauche
Sauerstoff zum Atmen. Also werde ich die Tür der Tiefkühltruhe offen
lassen. außerdem ist es bei geschlossener Tür so dunkel. Ich möchte
eine Uhr mit in die Kälte nehmen; da kann ich leichter kontrollieren,
was wann passiert.
Ich bin ja schon ein bißchen neugierig, gespannt und nervös. Im
täglichen Leben ist mir schnell kalt. Ich muß oft mit den Zehen
wackeln, wie sie sehr schnell steiffrieren. Viele Leute erschrecken,
wenn sie meine kalten Finger fühlen. Was wird also in der Tiefkühltruhe
aus mir? Wird sich mein Blut in Eis verwandeln? Werden meine Muskeln
steinhart?
Eine Sache weiß ich ganz genau. Ich möchte ewig leben.
Lebenselixiere gehören der Vergangenheit an. Die Alchemisten wollten
nicht nur wissen, wie man Gold aus Dreck herstellt; sie suchten auch
ein Lebenselixier, das die Unsterblichkeit herbeiführt. Die Kryoniker
von heute haben es gefunden. Es ist die Kälte. Die Kälte ermöglicht mir
Zeitreisen. Ich werden sehen, was in hundert, tausend oder
hunderttausend Jahren sein wird. Ich werden keine komplizierten Geräte
brauchen wie H. G. Wells in seinem berühmten Roman vom Zeitreisenden.
So, jetzt muß ich mich aber in meine Tiefkühltruhe legen. Ich
wußte gar nicht, wie unbequem eine solche Tiefkühltruhe ist. Vielleicht
hätte ich ja ein Kopfkissen oder eine Matratze mitnehmen sollen. Ach
nein, geht ja nicht; das Experiment hätte dann nicht unter reellen
Bedingungen stattgefunden. Also liege ich hier in der unbequemen
Stellung und harre der Dinge, die da kommen. Mir ist langweilig. Ob ich
wohl in der Lage wäre, ein Buch festzuhalten? Schließlich sind meine
Finger kalt und kaum noch beweglich. Langsam und vorsichtig bewege ich
mich. Doch warum geht jetzt das Licht aus? Ach so, es ist nur der
Deckel. Der Deckel! Er bewegte sich gleichfalls und verschließt jetzt
die Tiefkühltruhe. Ob wehe. Ich stelle gerade fest, daß ich die Tür gar
nicht von innen öffnen kann. Panik und Kälte breiten sich in mir aus -
verdammt, was soll ich nur tun?
Glück gehabt kann man da nur sagen. Meine Nachbarn vermißten mich.
Als mein Haus 2 Wochen leer stand, riefen sie die Polizei. Das
Überfallkommando fand mich in der Tiefkühltruhe. Und konnte mich
wiederbeleben. Mein Körper überstand das Kälteexperiment unbeschadet.
Mein Überleben in der Zukunft ist gesichert.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2007.
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