Geronimo, der Vater, war der Direktor der
Drachenschule, seine Frau Leonie eine begabte Klavier-spielerin, die Filmmusik
schrieb und – so gut sie es einrichten konnte – jungen Drachen Musikunterricht
erteilte. Sie hatten eine Tochter und einen Sohn, die mit 188 und 194 Jahren
Alter schon fast als Jugendliche durchgingen und ab und zu begannen, ein
kleines bisschen Feuer zu speien. Aber nur, wenn sie sehr wütend oder überaus
glücklich waren.
Die kleine Familie lebte friedfertig und harmonisch,
bis eines Tages ein eigenartiger Zauberer nach Tasmanien kam. Insidias war ein
hinterhältiger, dürrer Mann, groß gewachsen und doch mit gebücktem Gang, einem
dünnen grauen Bart und verschlagenen wässrigen Augen. Niemand wusste genau,
woher er gekommen war, doch er strahlte eine seltsame Macht aus und war in der
Lage, die Drachen zu überzeugen, ihm Obdach und Nahrung zu gewähren, ohne sich
sonderlich anzustrengen. So tingelte er herum, und da ihm Glück und Einigkeit
unter den Drachen ein Dorn im Auge war, säte er Unfrieden in vielen Familien
und Gruppen. Wenn er glaubte, genug erreicht zu haben, verschwand er wieder und
wandte sich dann neuen Zielen zu.
Irgendwann kam er an das Haus der Familie
Dragonheart. Er beobachtete ihr Zusammenleben, und immer, wenn er heimlich
zusah, wie die Drachenmutter mit ihren Kindern vor dem Ofen saß und ihnen
Geschichten erzählte, wenn die Drachen einander lächelnd umarmten oder ausgelassen
und vergnügt im Gras hinter dem Haus
herumtollten, zog sich sein schwarzes Herz schmerzhaft vor Neid zusammen.
Harmonie war für Insidias unerträglich, und so
beschloss er mit einem diabolischen Grinsen, dem fröhlichen Familienleben ein
Ende zu bereiten.
Als die Drachenfamilie auf ihrer Terrasse vor dem
steinernen Kamin saß und Vater Geronimo mit seinem Drachenfeuer kleine, scharfe
Würstchen grillte, streckte er heimlich aus dem Gebüsch seine dürren, knochigen
Finger heraus und sprach grollend einen mächtigen Zauberspruch.
Ein leichtes Beben zog durch den Erdboden, doch die
Drachen fanden das nicht ungewöhnlich, sie glaubten, es sei der Vulkan, der
sich wieder einmal ein bisschen schüttelte.
„Wer möchte die erste Wurst?“ fragte Geronimo, doch
er erhielt keine Antwort. Seine Frau hatte verstanden „hania wasni wekendi?“
und sah ihn verstört an. Die Blicke der Kinder wirkten nicht minder
verunsichert. Geronimo legte die Würste nach und nach auf die steinernen Teller
und reichte sie seiner Familie, doch er verstand nicht, warum ihm niemand
antwortete.
Siria, die Tochter, fragte leise „Papa, hast Du auch
ein Brot für mich?“, doch er verstand nur „lelej mea mimia leja.“, und kratzte
sich nachdenklich über die Schuppen seines langen Drachenschwanzes.
Der Abend wurde dunkler, irgendwann gingen die
Drachen verwirrt ins Haus zurück, ordneten ihre Dinge schweigend und legten
sich schlafen.
Der Zauberer Insidias hatte ihre Sprache verzaubert,
doch das konnten die Drachen nicht ahnen.
Doch jeder von ihnen hatte an diesem Tag mit
Erschrecken bemerkt: Keiner versteht mich mehr.
Sie begreifen nicht, was ich sage.
So verging der Tag, der nächste und der übernächste,
und das Lachen im Hause der Dragonhearts war verklungen. Schweigen umgab sie,
jeder sah den anderen voller Angst und Misstrauen an, und es gab keine lieben Gesten,
kein Lob, keine liebevollen Worte oder Umarmungen mehr. Die Drachen waren
traurig, und sie wurden mit jedem Tag trauriger und einsamer. Insidias jedoch
hockte am Tage immer wieder im Gebüsch hinter dem Haus, grinste triumphierend
und rieb sich voller Schadenfreude die Hände. „So soll es sein“, dachte er
kichernd, „wo Misstrauen ist, da gibt es keine Einigkeit. Nur so kann ich
mächtiger und mächtiger werden.“
Einige Tage später kam es zu einem neuen Unglück.
Siria und ihr Bruder Nanio gingen schweigend nebeneinander her von der
Drachenschule nach Hause, als plötzlich vom Vulkan her einige Steine ins Rollen
kamen. Schneller und schneller rollten sie ins Tal, es polterte plötzlich laut
hinter den Drachenkindern, und bevor sie davonrennen konnten, hatten die Steine
sie eingeholt. Nanio konnte mit einem schnellen Satz zur Seite springen, doch
Siria wurde von einem der Felsbrocken getroffen und fiel bewusstlos zu Boden.
Erschrocken musste Nanio erkennen, dass er selbst hier nicht helfen konnte,
denn Siria war unter den Steinen eingeklemmt und brauchte Hilfe.
So rannte er hastig nach Hause, so schnell ihn seine
krummen Drachenbeine trugen, sein Herz schlug bis zum Hals und pumpte das
grüne, dicke Drachenblut laut pochend durch seinen Körper.
„Mama, Papa“, rief er lauf, „Hilfe... Siria braucht
Hilfe... sie ist gefallen!“ Mit diesen Worten fiel der gehetzte Junge auf den
Boden vor dem Haus, doch seine Mutter hörte nur „Ngolo niani mekendema! Sitii
legeni beabita te te!!!“ Oje, dachte sie
sorgenvoll, der Junge ist durchgedreht, alle in unserer Familie sind
durchgedreht! Was soll ich nur tun?
Der Drachenvater stand in einigen Metern Entfernung,
er war sehr unruhig, doch er hatte keine Ahnung, was zu tun war.
Da richtete sich Nanio auf, und all seine
Verzweiflung stand in seinem kleinen Gesicht geschrieben.
Er nahm den Kopf seiner Mutter in beide Hände und
drehte ihn so zu sich selbst, dass sie ihm direkt in die Augen sah.
„Mama!“, sagte er flehend und sah sie eindringlich
an, „wenn Du meine Worte nicht verstehst, dann müssen wir mit dem Herzen
reden!“
Die Drachenmutter nickte, große, heiße Tränen
kullerten aus ihren Augenwinkeln und sie packte ihren Sohn fest bei den
Schultern.
„Ich brauche Euch“, sagte er langsam und klar, „Wir
müssen Siria helfen, jetzt gleich! Kommt mit. Bitte!“
Die Ohren verstanden immer noch kein Wort, doch
plötzlich begriffen Geronimio und Leonie ganz genau, was ihr Sohn ihnen mitteilen
wollte. Sie griffen nach den nötigsten Dingen und hasteten so schnell sie
konnten hinter Nanio her zu dem Platz, den dem Siria unter den Steinen
verschüttet lag. Hastig machten sie sich daran, das Mädchen zu befreien.
Während sie arbeiteten, kamen von allen Seiten Drachen hinzu, aus anderen
Häusern und aus anderen Familien.
Gemeinsam holten sie das kleine Drachenmädchen aus
dem Geröllhaufen heraus und versorgten ihre Wunden. Zum Glück waren die
Verletzungen nicht allzu schlimm, und die Drachenfamilie atmete auf.
Schweigend trugen sie Siria in ihr Drachenhaus,
setzten sich gemeinsam um den steinernen Ofen und sahen sich an. Lange wagte
keiner zu reden, denn alle fürchteten, sie würden einander immer noch nicht
verstehen können.
Der erste, der sich traute, war der kleine
Drachenjunge Nanio.
Er blickte alle nacheinander an und sagte dann leise
„Mama, Papa... vielleicht hört ihr mich, aber ihr wisst nicht, was ich euch
sagen will. Das kann vorkommen. Aber es gibt eine Sprache, die wir alle
verstehen, wenn wir uns nur lieb haben. Lasst uns mit unseren Herzen reden.“
Er sah seine Familie an, erst voller Angst, dann bemerkte
er, wie ein Lächeln über ihre Gesichter flog und sich ihre Hände ausstreckten.
Sie hatten ihn verstanden.
Im Gebüsch hinter dem Haus hätten sie ein leisen
Rascheln hören können, als der Zauberer Insidias resigniert aufstand und
verärgert abwinkte, um sich auf den Weg in ein anderes Land zu machen, in dem
er ein leichteres Spiel haben würde. Doch die Drachenfamilie bemerkte ihn
nicht.
“Du hast Recht“, sagte Geronimo zu seinem Kind und wischte sich eine Träne von
den Schuppen, „gegen unsere Liebe ist jeder Zauber machtlos. Fröhliche
Weihnachten, mein Sohn.“
Stimmt, bemerkte Nanio, heute ist ja Heiligabend.
Und draußen klingelte irgendwo ein Glöckchen.