Birgit Wolf

Drachenweihnachten

Wie jedes Kind weiß, leben auch heute noch die meisten Drachen in Tasmanien. Am Fuße eines Vulkans, der ungefähr alle 800 Jahre brodelte, etwas Lava ausspie und dann wieder ruhig vor sich hin dampfte, am Rand eines Waldes voller riesengroßer, alter Bäume lebte die Familie Dragonheart. Geronimo, der Vater, war der Direktor der Drachenschule, seine Frau Leonie eine begabte Klavier-spielerin, die Filmmusik schrieb und – so gut sie es einrichten konnte – jungen Drachen Musikunterricht erteilte. Sie hatten eine Tochter und einen Sohn, die mit 188 und 194 Jahren Alter schon fast als Jugendliche durchgingen und ab und zu begannen, ein kleines bisschen Feuer zu speien. Aber nur, wenn sie sehr wütend oder überaus glücklich waren. Die kleine Familie lebte friedfertig und harmonisch, bis eines Tages ein eigenartiger Zauberer nach Tasmanien kam. Insidias war ein hinterhältiger, dürrer Mann, groß gewachsen und doch mit gebücktem Gang, einem dünnen grauen Bart und verschlagenen wässrigen Augen. Niemand wusste genau, woher er gekommen war, doch er strahlte eine seltsame Macht aus und war in der Lage, die Drachen zu überzeugen, ihm Obdach und Nahrung zu gewähren, ohne sich sonderlich anzustrengen. So tingelte er herum, und da ihm Glück und Einigkeit unter den Drachen ein Dorn im Auge war, säte er Unfrieden in vielen Familien und Gruppen. Wenn er glaubte, genug erreicht zu haben, verschwand er wieder und wandte sich dann neuen Zielen zu. Irgendwann kam er an das Haus der Familie Dragonheart. Er beobachtete ihr Zusammenleben, und immer, wenn er heimlich zusah, wie die Drachenmutter mit ihren Kindern vor dem Ofen saß und ihnen Geschichten erzählte, wenn die Drachen einander lächelnd umarmten oder ausgelassen und vergnügt  im Gras hinter dem Haus herumtollten, zog sich sein schwarzes Herz schmerzhaft vor Neid zusammen. Harmonie war für Insidias unerträglich, und so beschloss er mit einem diabolischen Grinsen, dem fröhlichen Familienleben ein Ende zu bereiten. Als die Drachenfamilie auf ihrer Terrasse vor dem steinernen Kamin saß und Vater Geronimo mit seinem Drachenfeuer kleine, scharfe Würstchen grillte, streckte er heimlich aus dem Gebüsch seine dürren, knochigen Finger heraus und sprach grollend einen mächtigen Zauberspruch. Ein leichtes Beben zog durch den Erdboden, doch die Drachen fanden das nicht ungewöhnlich, sie glaubten, es sei der Vulkan, der sich wieder einmal ein bisschen schüttelte. „Wer möchte die erste Wurst?“ fragte Geronimo, doch er erhielt keine Antwort. Seine Frau hatte verstanden „hania wasni wekendi?“ und sah ihn verstört an. Die Blicke der Kinder wirkten nicht minder verunsichert. Geronimo legte die Würste nach und nach auf die steinernen Teller und reichte sie seiner Familie, doch er verstand nicht, warum ihm niemand antwortete. Siria, die Tochter, fragte leise „Papa, hast Du auch ein Brot für mich?“, doch er verstand nur „lelej mea mimia leja.“, und kratzte sich nachdenklich über die Schuppen seines langen Drachenschwanzes. Der Abend wurde dunkler, irgendwann gingen die Drachen verwirrt ins Haus zurück, ordneten ihre Dinge schweigend und legten sich schlafen. Der Zauberer Insidias hatte ihre Sprache verzaubert, doch das konnten die Drachen nicht ahnen. Doch jeder von ihnen hatte an diesem Tag mit Erschrecken bemerkt: Keiner versteht mich mehr. Sie begreifen nicht, was ich sage.   So verging der Tag, der nächste und der übernächste, und das Lachen im Hause der Dragonhearts war verklungen. Schweigen umgab sie, jeder sah den anderen voller Angst und Misstrauen an, und es gab keine lieben Gesten, kein Lob, keine liebevollen Worte oder Umarmungen mehr. Die Drachen waren traurig, und sie wurden mit jedem Tag trauriger und einsamer. Insidias jedoch hockte am Tage immer wieder im Gebüsch hinter dem Haus, grinste triumphierend und rieb sich voller Schadenfreude die Hände. „So soll es sein“, dachte er kichernd, „wo Misstrauen ist, da gibt es keine Einigkeit. Nur so kann ich mächtiger und mächtiger werden.“   Einige Tage später kam es zu einem neuen Unglück. Siria und ihr Bruder Nanio gingen schweigend nebeneinander her von der Drachenschule nach Hause, als plötzlich vom Vulkan her einige Steine ins Rollen kamen. Schneller und schneller rollten sie ins Tal, es polterte plötzlich laut hinter den Drachenkindern, und bevor sie davonrennen konnten, hatten die Steine sie eingeholt. Nanio konnte mit einem schnellen Satz zur Seite springen, doch Siria wurde von einem der Felsbrocken getroffen und fiel bewusstlos zu Boden. Erschrocken musste Nanio erkennen, dass er selbst hier nicht helfen konnte, denn Siria war unter den Steinen eingeklemmt und brauchte Hilfe. So rannte er hastig nach Hause, so schnell ihn seine krummen Drachenbeine trugen, sein Herz schlug bis zum Hals und pumpte das grüne, dicke Drachenblut laut pochend durch seinen Körper. „Mama, Papa“, rief er lauf, „Hilfe... Siria braucht Hilfe... sie ist gefallen!“ Mit diesen Worten fiel der gehetzte Junge auf den Boden vor dem Haus, doch seine Mutter hörte nur „Ngolo niani mekendema! Sitii legeni beabita te te!!!“  Oje, dachte sie sorgenvoll, der Junge ist durchgedreht, alle in unserer Familie sind durchgedreht! Was soll ich nur tun? Der Drachenvater stand in einigen Metern Entfernung, er war sehr unruhig, doch er hatte keine Ahnung, was zu tun war.   Da richtete sich Nanio auf, und all seine Verzweiflung stand in seinem kleinen Gesicht geschrieben. Er nahm den Kopf seiner Mutter in beide Hände und drehte ihn so zu sich selbst, dass sie ihm direkt in die Augen sah. „Mama!“, sagte er flehend und sah sie eindringlich an, „wenn Du meine Worte nicht verstehst, dann müssen wir mit dem Herzen reden!“ Die Drachenmutter nickte, große, heiße Tränen kullerten aus ihren Augenwinkeln und sie packte ihren Sohn fest bei den Schultern. „Ich brauche Euch“, sagte er langsam und klar, „Wir müssen Siria helfen, jetzt gleich! Kommt mit. Bitte!“   Die Ohren verstanden immer noch kein Wort, doch plötzlich begriffen Geronimio und Leonie ganz genau, was ihr Sohn ihnen mitteilen wollte. Sie griffen nach den nötigsten Dingen und hasteten so schnell sie konnten hinter Nanio her zu dem Platz, den dem Siria unter den Steinen verschüttet lag. Hastig machten sie sich daran, das Mädchen zu befreien. Während sie arbeiteten, kamen von allen Seiten Drachen hinzu, aus anderen Häusern und aus anderen Familien. Gemeinsam holten sie das kleine Drachenmädchen aus dem Geröllhaufen heraus und versorgten ihre Wunden. Zum Glück waren die Verletzungen nicht allzu schlimm, und die Drachenfamilie atmete auf.   Schweigend trugen sie Siria in ihr Drachenhaus, setzten sich gemeinsam um den steinernen Ofen und sahen sich an. Lange wagte keiner zu reden, denn alle fürchteten, sie würden einander immer noch nicht verstehen können.   Der erste, der sich traute, war der kleine Drachenjunge Nanio. Er blickte alle nacheinander an und sagte dann leise „Mama, Papa... vielleicht hört ihr mich, aber ihr wisst nicht, was ich euch sagen will. Das kann vorkommen. Aber es gibt eine Sprache, die wir alle verstehen, wenn wir uns nur lieb haben. Lasst uns mit unseren Herzen reden.“   Er sah seine Familie an, erst voller Angst, dann bemerkte er, wie ein Lächeln über ihre Gesichter flog und sich ihre Hände ausstreckten. Sie hatten ihn verstanden. Im Gebüsch hinter dem Haus hätten sie ein leisen Rascheln hören können, als der Zauberer Insidias resigniert aufstand und verärgert abwinkte, um sich auf den Weg in ein anderes Land zu machen, in dem er ein leichteres Spiel haben würde. Doch die Drachenfamilie bemerkte ihn nicht.
“Du hast Recht“, sagte Geronimo zu seinem Kind und wischte sich eine Träne von den Schuppen, „gegen unsere Liebe ist jeder Zauber machtlos. Fröhliche Weihnachten, mein Sohn.“   Stimmt, bemerkte Nanio, heute ist ja Heiligabend.   Und draußen klingelte irgendwo ein Glöckchen.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Birgit Wolf).
Der Beitrag wurde von Birgit Wolf auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Birgit Wolf als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Emerichs Nachlass von Axel Kuhn



„Emerichs Nachlass“ ist ein Krimi, der im Jahre 1985 in Stuttgart spielt, vor dem Hintergrund des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak, und in einer Zeit, in der sich auch noch die Stasi von der fernen DDR aus einmischen kann.

Emerich war ein Freund Hölderlins, und in seinem Nachlass könnten Briefe liegen, die den Dichter in einem neuen politischen Licht erscheinen lassen. Doch kaum sind Stücke aus diesem Nachlass aufgetaucht, liegt ihr Besitzer in seinem Schlafzimmer tot auf dem Boden. ...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Weihnachten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Birgit Wolf

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Reihenfolge von Birgit Wolf (Humor)
MOZARTDUFT von Christine Wolny (Weihnachten)
Pilgerweg X IV. von Rüdiger Nazar (Reiseberichte)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen