Rita Hausen

Strickleitern

 

Strickleitern


Sebastian Suez saß an seinem Schreibtisch. Es war schon spät, der Raum war dunkel bis auf den Lichtkegel, den die Schreibtischlampe auf die Tischplatte warf, auf der sich Bücher, Notizzettel, beschriebenes und unbeschriebenes Papier häufte. Suez beugte sich tief über ein Blatt, auf das er rätselhafte Buchstabenfolgen schrieb. Er trug einen zerschlissenen Hausmantel, der einmal dunkelblau und voller Sterne und Sonnen gewesen war, nun waren die Farben verblichen und die Sterne kaum zu erkennen. „Wenn diese Buchstaben einen Sinn ergeben, werden meine Figuren anfangen zu leben“, murmelte er vor sich hin. Er hatte ein Blatt in seine alte Schreibmaschine eingespannt. Er wandt sich von den Buchstaben ab und tippte einige Zeilen in die Maschine. Dann las er durch, was er geschrieben hatte. Er schüttelte den Kopf, riss das Blatt aus der Maschine, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Das Telefon läutete. Er starrte geistesabwesend auf den Apparat. Als das Läuten aufhörte, schaute er auf das Papier mit den rätselhaften Zeichen. Sie sahen nun aus, wie verdrillte Strickleitern und wanden sich wie Würmer und krümmten sich über das Papier. Suez kratzte sich den Kopf und fuhr sich durch das schüttere Haar. Dann schrieb er auf das Blatt: ttcacctcagtctcgaagactgataaggtcaac. Das Telefon läutete erneut. Diesmal hob Suez den Hörer ab. „Wo steckst du, verflixt nochmal, ich habe schon dreimal angerufen. Ich habe einen Computer für dich, ganz günstig“, legte die Stimme am Telefon los. „Also was ist? Ich bringe ihn dir sogar vorbei.“ „Es funktioniert sowieso nicht.“ „Was funktioniert nicht?“ „Ach, sie werden nicht lebendig. Ich kann mir ausdenken, was ich will, aber sie leben nur in meinem Kopf.“ „Natürlich leben sie nur in deinem Kopf, was sonst? Aber wenn du die Geschichten aufschreibst, stehen sie auch auf dem Papier und du kannst sie vergessen. Aber mit dem Computer ist es noch besser. Du kannst alles abspeichern, nichts geht verloren, auch das, was du längst vergessen hast.“ „Also gut, bring mir den Computer morgen.“ „Schön, morgen um zehn. Gute Nacht.“ Suez wollte den Computer eigentlich nicht, aber sein Freund hatte ihm schon so oft zugesetzt und ihm erklärt, wie wertvoll er für seine Arbeit sein könnte, dass er diesmal nachgegeben hatte. Nun würde das Ding eben da herumstehen, genau wie der Fernseher und der DVD-Player. Der Fernseher hatte Suez anfangs gefallen, aber dann hatte er das durchschaut, es war auch nicht anders, die Figuren taten nur das, was sich einer ausgedacht hatte, sie hatten kein selbständiges Eigenleben. Er wollte aber Figuren erfinden, die machten, was sie selbst wollten. Und er möchte ihnen dabei zuschauen.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Rita Hausen).
Der Beitrag wurde von Rita Hausen auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Rita Hausen als Lieblingsautorin markieren

Buch von Rita Hausen:

cover

Labyrinth. Reise in ein inneres Land von Rita Hausen



Ein Lebensweg in symbolischen Landschaften, das Ziel ist die eigene Mitte, die zunächst verfehlt, schließlich jedoch gefunden wird.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Parabeln" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Rita Hausen

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Mama ...Lupus...autobiographisch... von Rüdiger Nazar (Sonstige)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen