Gabor Köhler

Der Trip

1. Kapitel

Donnerstagabend


 
Billy
schaute aus dem Fenster, während er telefonierte. Nicht nur das, er war auch in
Gedanken nicht bei seinem Gesprächspartner. Die Sonne schien
überdimensional durch das alte breite
Fenster. Sie hatte den Horizont fast erreicht und nahm nun eine fast orange
Färbung an. Die extrem heiße Zeit war vorbei, dass Klima wurde angenehmer. Bald
würden die Tage kommen, wo man die wärmenden Sonnenstrahlen als eine
Entschädigung für die langen und kalten Winternächte empfand. Gegenüber seinem
Büro befand sich ein Gebrauchtwagenhändler. Auf dem Stellplatz vor dem kleinen
rechteckigen Bürogebäude  standen
ungefähr dreißig Wagen unterschiedlichster Fabrikate, auch einige europäische
waren dabei. Der Inhaber von Millers Garage Inc. war ein gewisser Miller.
Klein, untersetzt in einem geschmacklosen Anzug gekleidet, tänzelte er um eine
junge Frau herum, die offensichtliches Interesse an einem älteren Volkswagen
hatte. Tja das Geschäft schien gut zu laufen, trotz des komischen Anzugs des
kleinen Männchens.

„Billy,
bist du noch dran?“, gab der Telefonhörer von sich.

„Ja!“.

Was
insoweit auch stimmte, denn er hielt den Hörer ja tatsächlich an sein Ohr.
Allerdings hielt sich seine Aufmerksamkeit doch in Grenzen. In den letzten zwei
Jahren gab es für ihn ziemlich viel Arbeit. Wenn man selbstständig ist scheint
das normal. Die Leute erwarteten so was. Immer in Gedanken bei der Arbeit, nie
wirklich abschalten. Er hasste es und hielt sich auch nicht immer an dieses
Motto, aber irgendwie stimmte es schon. Zumindest ließ es sich nicht wirklich
umgehen.

„Ist die
Sache dringend?“, fragte er Greg.

„Nun ja
sagen wir mal so, der Typ will Tagessätze zahlen, verspricht aber ein kräftiges
Erfolgshonorar wenn du ihm die Beweise innerhalb zweier Wochen liefern kannst.“

„Er kennt
meine Preise?“

„Ich habe
ihn ins Bilde gerückt.“

Billy sah
wie Miller der jungen Frau hinterher dienerte. Er presste sich in den Wagen,
wohl um die Motorhaube zu öffnen. Umständlich kam er wieder herausgekrochen und
öffnete die Haube. Mit einer einladenden Handbewegung präsentierte er den
Motor. Schwerlich vorstellbar, das sich die Frau für die technischen Details
des Wagens interessierte. Trotzdem warf sie einen Blick hinein. Miller blickte
Sie erwartungsvoll an. Wahrscheinlich eines seiner unwiderstehlichsten
Angebote, von denen er täglich welche zu fabrizieren schien.

„O.k. Greg,
fax mir die Unterlagen, ich ruf den Mann morgen an. Alles weitere bespreche ich
mit ihm.“, Billy hatte keine Lust mehr auf Telefonieren.

„Ist schon
unterwegs. Grüß deine Frau und die Kinder.“, rief Greg noch in das Telefon aber
Billy hatte den Hörer schon von seinem Ohr entfernt und als er das leise
Tuten  vernahm welches ihm mitteilte,
dass sein Gegenüber aus der Leitung verschwunden war, legte auch er auf. Miller
saß jetzt mit der Frau in dem Wagen und ließ geräuschvoll den Motor an. Er
pumpte ein paar mal das Gaspedal und stellte dann den Motor wieder ab. Die
junge Frau schien von der Demonstration beeindruckt, denn beide verschwanden in
dem kleinen Verkaufsbüro um den Deal wohl dingfest zu machen. Billy ärgerte
sich ein wenig, dass die Frau aus seinem Blickfeld verschwand. Er ertappte
sich, dass er eigentlich mehr oder weniger ihr hinterhergeschaut hatte auch
wenn Millers Verkaufsvorstellungen nicht unkomisch waren. Allerdings bekam er
diese seit nunmehr fast fünf Jahren täglich serviert. Billy setzte sich in
seinem bequemen Lehnstuhl auf und fuhr sich gedankenverloren über das Gesicht.
Eigentlich konnte er ganz zufrieden sein. Greg hatte ihm den dritten Auftrag dieser
Woche vermittelt und morgen war Freitag. Am Wochenende wollte er mit seiner
Familie einen Kurzausflug machen. Ein Geburtstagsgeschenk, was er sich selber
machte. Mit dem neuen Auftrag würde er erst Anfang der nächsten Woche beginnen.
Er wollte jetzt nicht daran denken. Mr. Glenford ruf ich morgen an, dachte er
sich und machte eine Notiz in sein Arbeitsbuch.

„Tammy,
kommen sie doch bitte noch mal.“, rief er in die Gegensprechanlage.

„Sofort Mr. Fisher.“ , ertönte
es aus dem kleinen Lautsprecher auf seinem Schreibtisch gleich neben dem
Telefon. Tammy war ein Überbleibsel aus seiner alten Versicherungsagentur,
welcher er bis vor fünf Jahren betrieben hat. Als das Geschäft damals anfing
lau zu werden, fasste Billy den unglaublichen Entschluss eine Privatdetektei
zu gründen. Mit einem alten Schulfreund, der bis dahin mehr schlecht als recht
in einer örtlichen Schuhfabrik gearbeitet hatte, kaufte er dieses kleine Büro
am Ende der Parkerstreet. Drei einfach möblierte Zimmer und ein kleiner
Warteraum der so gut wie gar nicht genutzt wurde, reichten aus um seine Familie
finanziell abzusichern. Sein Schulfreund Angus arbeitete ein Jahr mit ihm
zusammen, entschloss sich aber nach einem Jahr das Handtuch zu werfen und
arbeitete seitdem als Koch in einem kleinen Restaurant nur drei Blocks weiter.
Gelegentlich pflegte er dort zu essen oder einen Feierabenddrink zu nehmen.
Wenn Angus Zeit hatte setzte er sich an seinen Tisch und sie plauderten über
alte Zeiten. Nicht nur einmal half ihm Angus auch mit Informationen oder Recherchen
für seine Fälle. Trotz der geschäftlichen Trennung hatten sie stets das
freundschaftliche Verhältnis beibehalten, was wohl auch daran lag, dass sich
ihre Familien ebenfalls recht nah standen. Angus hatte wie er zwei Kinder und
eine bezaubernde kleine Frau. Oft fuhren die Familien gemeinsam an den Eriesee
und Janice, Angus Frau sorgte meistens für das leibliche Wohl. Auch nachdem
Billies Partner ausgestiegen war behielt er den Agenturnahmen „Fisher und
Lockwell“ bei. Das große Messingschild neben dem Eingang war einfach schön als
es zu entfernen. Außerdem machte ein Doppelnahmen mehr her und wer weiss
vielleicht wollte Angus ja irgendwann zurückkommen. Billy versicherte ihm, dass
die Tür für ihn immer offen stand. Was nun Tammy betraf, so war sie auch schon
früher, als er noch Versicherungen verkaufte seine Sekretärin. Sie waren ein
gut eingespieltes Team und als Billy bei Lloyd American kündigte und ihr
offenbarte, dass er sich als Privatdetektiv selbstständig machen werde schien es
für sie selbstverständlich zu sein ihm zu folgen. Sie hatte schon für seinen
Onkel gearbeitet, der ihn damals nach einem abgebrochenen Literaturstudium
unter seine Fittiche nahm und ihn in die Versicherungsbranche einführte. Auch
als Billy ihr eröffnete es sei ein unsicheres Geschäft und sie würde bestimmt
weniger verdienen, wiegelte sie ab und meinte sie hätte eh nie für Lloyd
gearbeitet sondern immer nur für die Fishers. Dem war nichts entgegen zu
setzten und so gründeten sie vor fünf Jahren „Fisher und Lockwell“ und
hatten es auch bis heute nicht bereut. Entgegen jeglicher Befürchtung war die
Auftragslage ziemlich gut und er konnte Tammy jeden Monat pünktlich ihren
Gehaltsscheck überreichen. Tammy trat wie immer ohne zu klopfen in sein Büro
und schaute ihn fragend die Augenbrauen nach oben gezogen an.
„Greg hat
vorhin angerufen, wir haben einen neuen Klienten. Bitte legen sie eine neue
Akte unter dem Namen Edward Glenford an und erinnern sie mich morgen ihn
anzurufen. Greg hat alles nötige gefaxt.“, sagte er zu ihr.

„Gut, das
war’s?“, fragte Tammy.

„Ja,
Schluss für heute. Bitte nehmen sie für morgen Nachmittag keine Termine mehr
an, ich fahre mit meiner Frau und den Kindern nach Duncan Springs. Ich bin dann
am Montag wieder da. Machen sie auch mal ein längeres Wochenende.“

„Das werde
ich Mr. Fisher. Falls sie mich doch brauchen, ich bin bei meiner Schwester in
Cleveland, die Nummer haben sie ja.“

„Ach Tammy
sie meinen ohne sie geht nichts, was?“

„Ich weiss
es, Mr. Fisher!“, sie bedachte Billy mit einem mütterlichen Blick und verließ sein
Büro. Inzwischen schienen sich Miller und die hübsche junge Frau einig geworden
zu sein. Sie saß in ihrem neuen alten Volkswagen und Miller redete von der
Beifahrerseite auf sie ein. Gelangweilt und doch höflich lauschte sie seinen
Ausführungen. Einmal blickte sie aus ihrer Windschutzscheibe genau in Richtung
Billies Bürofenster und es schien als ob ihre Blicke sich begegneten was
angesichts der sich im Glas reflektierenden untergehenden Sonne eigentlich
unmöglich war. Trotzdem sengte Billy kurz den Blick. Als er wieder aufschaute
bog der Wagen gerade von Millers Parkplatz auf die Parkerstreet ab und
verschwand aus seinen Augen. Miller winkte zufrieden hinter ihr her und
stiefelte dann in sein kleines Büro zurück. Billy nahm seine Tasche, die neben
seinem Stuhl stand und blickte sich noch einmal prüfend um, als ob er
irgendetwas wichtiges vergessen könnte. Er stellte den Anrufbeantworter an,
nahm sein Handy und verließ das Büro nicht ohne es vorher sorgfältig
abzuschließen. Die Sonne schaute noch halb über dem Horizont, als Billy mit
seinem BMW nach Hause fuhr.


 

 
Freitagfrüh


 
Die
Anstallt in Buffalo galt als relativ sicher. Das musste sie auch, weil hier
einige ziemlich üble und gefährliche Individuen der Gattung Mensch
untergebracht waren. Das bedeutete beispielsweise, dass die Schwerstpatienten
einen eigenen Pfleger oder besser gesagt Wärter hatten. Gegen acht Uhr morgens
erschienen zwei Männer im Verwaltungstrakt der Anstalt. Ein junger
uniformierter Polizist und ein Mann mittleren Alters in einem dunklen Anzug und
einem weißen Hemd. Frank Hudson von der Ohio State Police und Mike Carson vom
FBI trafen sich vor dem Aufzug in der großen Halle des Verwaltungsgebäude der
staatlichen Nervenanstalt von Buffalo. Carson erkannte Hudson an seiner Uniform
und Hudson erkannte Carson an seinem dunklem Anzug und der Sonnenbrille. Sie
traten schweigen in den Aufzug. Carson drückte auf die elfte Etage und schaute
Hudson fragend an. Dieser signalisierte mit einem Kopfnicken, dass es o.k.
wäre. Er wollte auch in elften Stock.

„Special Agent Mike Carson, FBI. Sind sie
auch hier wegen der Sache von heute Nacht?“, fragte der FBI Agent und hielt dem Polizisten die ausgestreckte Hand entgegen. Der Aufzug
war leer und sie konnten offen sprechen.

„Wenn sie
den Flüchtigen meinen, ja. Lieutenant Frank Hudson, Ohio State.“, Sie schüttelten sich die Hände. Hudson trat etwas nervös von dem einen Fuß auf den
anderen. Wenn die Bundespolizei herangezogen wurde, bedeutete das in der Regel
nichts Gutes. Kompetenzschwierigkeiten waren vorprogrammiert. Hudson wusste
nicht so recht was ihn erwartete und das verunsicherte ihn leicht. Er mochte
keine Krankenhäuser und Nervenheilanstalten erst recht nicht. Daran änderte auch
nichts die Tatsache, dass es sich lediglich um das Verwaltungsgebäude der
Anstalt handelte. Hudson spürte wohl wie der Agent ihn musterte und seine
Aufregung bemerkte.

„Ich mag
keine medizinischen Einrichtungen. Schon bei dem Geruch von Desinfektionsmittel
wird mir übel. Und Ärzte sind mir auch etwas ungeheuer.“, sagte Hudson.

„Nichts
Ungewöhnliches.“, bemerkte Carson und grinste.

Sanft hielt
der Aufzug in der elften Etage. Schweigend schritten sie den langen Flur
entlang. Es war früh am morgen und sie begegneten nur zwei Mitarbeitern die mit
wehenden Kitteln an ihnen vorbei huschten. Am Ende des Flures befand sich das
kleine Konferenzzimmer. Carson klopfte an und trat ohne ein Herein abzuwarten
ein. Hudson folgte ihm. Die aufgehende Herbstsonne tauchte den Raum in helles
Licht. Ein großer ovaler Eichentisch befand sich in der Mitte. An der
Stirnseite saßen zwei  Männer in ihren
Akten vertieft. Am Fenster stand ein junger Mann und trank einen Becher Kaffee. Als die beiden eintraten erhoben sie sich. Die Männer
stellten sich gegenseitig vor und einer der beiden Ärzte, Doktor Snyder, bat
sie Platz zu nehmen.

„Kaffee?“,
fragte er.

Die beiden
Männer nickten. Auf einer kleinen Anrichte an der Wand gegenüber der
Fensterfront gurgelte eine Kaffeemaschine. Snyder füllte drei große Becher und
reichte jedem einen. Milch und Zucker standen schon auf dem Tisch ebenso einige
Flaschen Mineralwasser und Fruchtsäfte. Snyder nahm wieder an der Stirnseite
platz und schaute beide Männer eindringlich an. Der andere der beiden war der
Anstaltsleiter Doktor Anderson. Der junge kaffeetrinkende Mann war der Assistent des Leiters, Norman Raye. Anderson holte tief Luft, blickte versonnen in seine Kaffeetasse und begann mit tiefer
Baritonstimme zu sprechen.

„Meine
Herren die Sache ist wirklich delikat. Vorläufig ist äußerste Diskretion
und Vorsicht geboten. Es herrscht ein absolutes Presseverbot. Eine Großfahndung
können wir immer noch jederzeit auslösen. Lassen sie mich bitte vorab ein paar
Erklärungen geben. Wie sie wissen gibt es vom Standpunkt der psychiatrischen
Wissenschaft aus gesehen einige höchst
interessante Exemplare in unserer Anstalt, so dass auch jedes Jahr etliche Gastmediziner von
internationalen Ruf an unserem Institut arbeiten und ihre Studien zu betreiben.
Es mag Ansichtssache sein ob es wirklich Wissenschaft ist oder nicht die
fleischgewordenen Hannibal Lecters oder Michael Myers dieser Welt zu
untersuchen und in ihre schwarzen Seelen vorzustoßen, aber im Endeffekt bauen
die Menschen Atomwaffen und das erscheint auch nicht sinnvoller.“,
Anderson nahm seine Brille ab und begann sie zu putzen.

Carson
dachte darüber nach, dass nicht wenige Menschen und er schloss sich da auch
nicht aus,  Psychiater und Psychologen
selbst für krank hielten und in der Verwirklichung ihrer Berufe eine Art von
Selbsttherapie sahen. Das Bild des Doktors mit starker schwarzer Hornbrille,
kantigem Gesicht und streng anliegendem fettigen Haar kann
nicht nur Hollywood entsprungen sein. Die großen Drehbuchvorlagen
orientierten sich ja teilweise am wirklichen Leben, um so den Geschmack der
Leute besser treffen zu können. Snyder schien in dieses Klischee bestens zu
passen. Anderson war eher der Verwaltungsmensch und weniger der Arzt. Die Last
der Verantwortung mochte diese Prioritäten verschoben haben.

„Die Diskussionen um Triebtäter und
sonstige Psychopathen sind ein andauerndes Thema der Öffentlichkeit und
wahrscheinlich mittlerweile auch gesellschaftlich nicht mehr wegzudenken.“,
Snyder schaltete sich nun auch in den Vortrag ein.

„Wir sind kein Privatinstitut
sondern staatlich, was bedeutet, dass wir uns zu größten Teilen aus
Steuergeldern und staatlichen Zuschüssen finanzieren müssen. Ob dem Staat der
uns finanziert, eine Mitschuld an der Schaffung solcher Monster zu zuschreiben
ist, mag niemand so recht zu beurteilen. Fakt ist nur eines. Wir können uns im
Moment keine negative Publicity leisten. Das Budget was der Senat für uns
bereithält wird immer enger und solange unsere Regierung demokratisch bleibt
wird sich die Lage eher verschlimmern.“, Snyder hielt inne und nahm einen
kräftigen Schluck Kaffee.

„Wir kennen
dieses Problem, Doktor denn auch wir sind keine Privatvereine.“, sagte Carson.

„Dann
wissen sie bestens wovon wir reden.“, nahm Anderson den Faden wieder auf.

„Auch
öffentliche Einrichtungen stehen unter Druck. Bei Pannen erschienen als erste
diejenigen auf der Anklagebank, die gern ganze Systeme und Regierungen für das
Fehlverhalten ihrer Mitmenschen verantwortlich machten. Aber das trifft ganz
sicher nicht auf diese Insassen hier in Buffalo zu. Gewiss kann man eine
Kausalität zwischen verfehlter Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosigkeit,
Kriminalität, insbesondere Jugendkriminalität und die daraus erwachsende
Perspektivlosigkeit immer herstellen. Das ließe sich in einem größeren Rahmen
auch statistisch belegen. Allerdings kann keine Regierung oder ein Staat so
schlecht sein, um aus Menschen das zu machen, was unsere Insassen sind. Eher
ziehe ich eine Besessenheit durch den Leibhaftigen in Erwägung.“, Anderson
machte eine Pause stand auf und begann langsam hin und her zu laufen.

„Sie kennen
die Geier von der Presse. Die riechen das Aas meilenweit gegen den Wind. Wenn
detailliert bekannt wird, was vorgefallen war..... Ich mag gar nicht daran
denken. Ich habe da einige Spezialfreunde der eher etwas linksgerichteten
Presse. In unseren Pforten vermuten die schon lange den Eingang zum Hades. Oder
denken sie nur an einige meiner Fachkollegen. Wenn man denen und ihren  Gutachten Glauben schenken darf, ist in den
meisten Fällen eine missratenen Erziehung, prügelnde und missbrauchende
Eltern die Schuld für ihre kriminellen Kindern zu geben. Ein Tatbestand den ich
schwer wiederlegen kann und der geschickten Strafverteidigern immer eine
Möglichkeit gibt, sich in die Schuldunfähigkeit ihres Mandanten zu flüchten.
Sie kennen das doch sicher auch von ihrer Arbeit?“

Hudson
seufzte und erinnerte sich an einige Fälle, wo er Verbrecher hinter Gitter
bringen wollte. Öfters wurde er dabei als Zeuge vor Gericht geladen und musste
mit ansehen, wie der Angeklagte schuldunfähig freigesprochen oder lediglich
Bewährungsstrafen erhielt. Pingelich suchten die Verteidiger Fehler in der
Polizeiarbeit und sprengten damit die Beweiskette. Nicht nur einmal fühlte sich
Hudson selbst als Angeklagter wenn er ins Verhör genommen wurde. Er wusste, dass
eine entscheidende Rolle die wissenschaftliche Qualifikation und Reputation des
Gutachters spielt. Täter und Opfer werden zu Nebendarstellern degradiert wenn
der Professor Gutachter nur genug Publikationen in einschlägigen
Fachzeitschriften vorweisen kann. Was konnte er da schon als kleiner
Polizeibeamter vorweisen. Er hatte nicht studiert und auch kein College
besucht. Sein Vater war Polizist also wurde er es auch. Es war ein ungleiches
Spiel aber so war es nun einmal.


„Es ist ja
auch nicht von der Hand zu weisen,” dozierte Anderosn weiter, „dass es unabdingbar ist, die Verwerflichkeit
des eigenen Verbrechens einzusehen, kurzum zu wissen, dass man dem andern ein
Unrecht zugefügt hat. Wer selbst in seiner Kindheit und Jugend viel
Leid erfahren musste, für den kann die Grenze dessen was Recht und Unrecht ist
leicht verwischen, da er in den prägenden Jahren des Heranwachsen keinen
oder einen falschen Maßstab kennen gelernt hat. Eine andere Auffassung vertritt
die Ansicht, dass jegliche Handlung selbstverantwortlich geschieht. Jeder ist
seines Glückes Schmied in Guten wie in schlechten Dingen. Bedenkt man, dass während
des Nationalsozialismus versucht wurde eine ganze Rasse auszurotten, was auch
zu einem großen Teil gelang, wäre ja hier der ideale Nährboden für Probanten
des ersten Lagers zu finden. Dem ist aber nicht so. Obwohl schreckliches
unvorstellbares Leid erfahren, ist das jüdische Volk nach unseren Vorstellungen
normal. Es gibt nicht mehr oder weniger Kriminalität prozentual auf die
Bevölkerung verteilt. Ganz gleich ob  man
an die Schöpfung oder die Evolution glaubte, Einigkeit bestand darin das allen
Menschen, sozusagen als letzte Kontrollinstitution ein Gewissen anhaftet. Um
beispielsweise einen Menschen zu töten, ist eine gewisse Hemmschwelle zu
überwinden. Eine Brücke kann Angst oder Wut sein. Allerdings wird ein normaler
Mensch unter in einer normalen Situation nicht einfach seinen Nachbarn
erschießen, eben wegen dieser Schwelle. Womit wir schon bei dem nächsten
Problem wären, was überhaupt normal ist. Eine Definition zu finden, die sowohl
objektiven als auch subjektiven Betrachtungsweisen genüge tun würde, ist
unmöglich. Hier scheint sich der Kreis der beiden Lager zu schließen. Nur das
objektive Umfeld also die Erziehung, die Gesellschaft und das subjektive innere
Bild, nennen wir es Seele macht aus einem Menschen das was er ist. Die
Normalität vermag sich ja auch nur hervorzuheben, wenn es das Gegenteil gibt,
das ewige Spiel von Gut und Böse im Spiegel der Gesellschaft, die nun einmal
Regeln und Normen vorschreibt. Ein Teil diese Trennungsprinzips wird hier in
der staatlichen Psychiatrie von  Buffalo
verwirklicht. Die Bösen werden vor den unbescholtenen Bürgern verwahrt und
gleichzeitig wird Ursachenforschung betrieben. Von Kannibalismus bis zum
Schizophrenen, für alle Krankheiten oder Verhaltensstörungen gibt es hier ein
Exemplar. Eine nationale Sammelstelle, fast so gesichert wie Fort Knox. Im
Regelfall sollte kein Insasse die Anstalt lebend verlassen und wenn doch, dann
nur therapiert.“
Ein Handyklingeln ließ Doktor Anderson in seinen Ausführungen
innehalten. Regungslos nahm er das Gespräch an. Seine Miene verriet nicht die
Spur von Gefühlen. Er entschuldigte sich kurz, verabschiedete sich und verließ
unvermittelt den Raum.
Snyder führte den Monolog fort. Carson erinnerten die beiden an Komiker die sich einen witzigen Dialogball gegenseitig zu werfen. Nur war die Sache hier ganz und garnicht witzig. 
„Allerdings ist diese bei den meisten erfolglos und so
beschränkt sich unsere Funktion im Wesentlichen auf ein sicheres Gewahrsam der Patienten.
Es war höchst selten, dass es einem Patienten gelang zu fliehen aber es ist in
den letzten dreißig Jahren doch schon mehr als einmal  vorgekommen und bedauerlicherweise auch heute am frühen Morgen.”
Der Doktor langte in seiner Kitteltasche nach einem Päckchen Lucky´s, hielt den beiden Beamten die geöffnete Schachtel hin und steckte sich, nachdem beide dankend abgelehnt hatten, eine Zigarette an.
„Es war der
erste Ausbruch seit zwölf Jahren. Rudolf Cordes, dreiundvierzig, geboren in
Berlin, Deutschland. Nach dem Mauerbau Flucht nach Köln – Westdeutschland.
Seine Eltern wurden bei dem Fluchtversuch getötet. Soweit wir wissen hat man
auf sie geschossen. Cordes konnte als einziger entkommen. Er war damals fünf
Jahre alt. Bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr wurde er psychiatrisch in einer staatlichen Nervenheilanstalt in Köln von Doktor
Rosmayr betreut. Anerkannter Spezialist für solche traumatischen Fälle. Mit zehn Jahren zeigte Cordes erste Anzeichen von Deprivation. Aus dem Mutter – Kind
Trennungsproblem folgte eine teilweise Desensibilisierung.“

„Entschuldigen
sie Doktor Snyder, aber könnten sie sich vielleicht etwas umgangssprachlicher
ausdrücken?!“, Frank Hudson blickte von seinem Notizblock auf und richtete
seinen Blick fragend auf den Doktor. FBI Agent Mike Carson  musste etwas in sich hinein lächeln als sein
junger Kollege von der Ohio State
Police Snyder in seinen Ausführungen unterbrach. Solche Fälle gehörten
sicher nicht zum Alltag eines Polizisten. Wer hauptsächlich mit Parksündern,
Überfällen und der sonstigen üblichen Kriminalität beschäftigt ist, hat keine
Erfahrung mit solchen Typen. Aber dafür wurde schließlich auch das FBI
dazugerufen. Carson hatte immerhin ein Diplom in Psychologie und war mit den
Grundbegriffen vertraut.

„O.k.“,
Snyder machte eine kurze Pause und schien zu überlegen, wie er sich am
einfachsten ausdrücken könnte.

„Sagen wir
es mal so, Cordes fehlt die Verbindung zwischen einem durch eine Phobie
ausgelösten Reiz und seiner drauf folgenden Angstreaktion.“

„Mit
anderen Worten er ist angstfrei. Sollte er dennoch so etwas wie Angst empfinden,
kann er nicht darauf reagieren.“, warf Carson ein.

„Ganz
genau. Das erstaunliche ist, das er auch relativ schmerzfrei zu seien scheint.
Reize wie Angst oder Schmerz lösen keine Reaktionen bei ihm aus. Umso
ungewöhnlicher seine starken Neigungen zu Perversitäten wie Pädophilie oder
Sadismus. Bei Sadismus handelt es sich um ein sexuelles Fehlverhalten bei dem
sexuelle Erregung und Befriedigung durch körperliches Quälen des Opfers
erreicht werden. Durch seine pädophile Neigung ist er besonders auf  Kinder fixiert.“, fuhr Snyder fort.

„Halt, halt
nicht so schnell. Sie sagten Cordes war in Deutschland untergebracht. Wie kam
er in die Vereinigten Staaten?“, fragte Hudson.

„Tja sagen
wir mal es war eine Art Verkettung unglücklicher Umstände. Rosmayr konnte keine
rechten Therapieerfolge bei Cordes erzielen. Dennoch nahm er nach Rosmayrs
Angaben fast seine gesamte Arbeitszeit in Anspruch. Wohl kein Arzt hat sich so
intensiv mit ihm beschäftigt wie er.“, Snyder öffnete einen Aktenschrank und
reichte Hudson und Carson Kopien der Krankenakte von Rosmayr.

„Die
Details können sie selbst nachlesen. Die Zeit läuft meine Herren.“, fuhr er
fort. „Wie gesagt Rosmayr kam nicht so recht voran. Er publizierte dennoch
einen Teil seiner Ergebnisse auch hier in den Staaten in psychiatrischen und
neurologischen Fachmagazinen. Doktor Gondorf, Eigentümer des gleichnamigen
Institutes und Verfechter von abstrusen Angsttherapien holte beide vor dreizehn
Jahren nach Cleveland. Bereits nach einem Jahr konnte er von dort entkommen.
Cordes wurde völlig unterschätzt, seine pathologischen Neigungen verkannt. Es
kam was kommen musste. In den Jahren vor seinem Aufenthalt hier in unserer
Anstalt verging er sich an fünf Mädchen zwischen neun und vierzehn Jahren. Vier
der fünf überlebten seine Misshandlungen nicht, wobei nicht nachgewissen werden
konnte ob jemals eine einzige post mortem zugefügt wurde. Das fünfte Mädchen
ist nur noch eine menschliche Hülle ohne jegliche Reaktion. Sie ist so stark
autistisch geworden, dass wir bis heute noch keine Chance hatten, an sie
heranzukommen. Sie können also davon ausgehen, dass seine Zielgruppe oder
besser gesagt eine seiner Zielgruppen Mädchen im Alter von acht bis vierzehn
Jahren ist.“

Hudson dachte
an seine eigene Tochter und musste einen großen Kloß schlucken. Wut kroch in
ihm hoch und motivierte ihn noch mehr das Schwein möglichst bald zu fassen.
Snyder machte indessen mit seinen Ausführungen ungerührt weiter.

„Wenn ich
von einer möglichen Zielgruppe spreche, sind wir schon bei dem nächsten Problem.
Seine pädophile Neigung ließ sich bisher nur empirisch herleiten, das heißt nur
der Umstand allein, dass die meisten seiner Opfer in die Gruppe von
minderjährigen Mädchen gehörten legte diese Ansicht nahe. Er wird allerdings ebenso mit
dem Verschwinden einiger anderer Opfer assoziiert. Hierbei handelte es sich
ausschließlich um Erwachsene. Aber da sind sie sicherlich besser informiert,
denn das liegt ja eher im Bereich der Ermittlung und Fahndung der Polizei. Cordes
muss als Gefahr für jegliches menschliches Leben gesehen werden, bedingt durch
seine Unberechenbarkeit und eine gewisse Unzurechnungsfähigkeit. Wir wissen
nicht welche Ziele er genau verfolgt, wir wissen nur das er jedes Hindernis
beseitigen wird, welches ihn in irgend einer Weise daran zu hindern versucht.
Sein Krankheitsbild ist relativ ungewöhnlichen Schwankungen unterworfen, für
die wir bis heute noch keine plausible Erklärung gefunden haben. Cordes ist
intelligent und körperlich völlig gesund. Seine Abnormalität ist ihm äußerlich
nicht anzumerken. Er spricht akzentfrei englisch, ein weiteres Zeichen für
seinen brillanten Verstand und seine schnelle Auffassungsgabe. Wie sie sehen,
kommt ein gewaltiges Problem auf uns zu.“, mit diesen Worten gab Snyder seinem
Assistent ein Zeichen. Dieser ließ Vorhänge and der breiten Fensterfront herab. An der freien Wand des Konferenzraumes war eine weise Leinnwand und auf dem Tisch stand eine Beamer. Snyder wischte
sich den Mund mit einem schneeweisem Tuch und bediente mit einer kleinen
Fernbedienung das Gerät. Auf der Leinwand erschien das Bild eines Mannes.
Auf den ersten Blick könnte man ihn als durchschnittlich einstufen. Ein Mann
mit lichtem Haar, weise Anstaltskleidung, Bartstoppeln. Die Statur schien
kräftig zu sein, zirka 1, 80 m groß. Auffallend waren die Augen: wässrig,
bläulich, wirkten sie konturlos. Kein irrer oder gehetzter Blick sondern kalt
und ausdruckslos, irgendwie teilnahmslos blickten sie in die Kamera. Seine
Hände, die auf den Schenkeln ruhten waren fein, ja sogar fast filigran. Perfekt
um auf den Tasten eines Flügels zu tanzen. 




 
 Freitagnachmittag



 
Gegen drei
Uhr Nachmittag waren dann alle soweit. Alle Sachen einschließlich Familie waren
verstaut. Die Herbstsonne stand noch hoch am wolkenlosen Himmel und die Luft
war rein und aromatisch. Die Fahrt verlief unproblematisch kein Stau, keine
Bauarbeiten. Die Mädchen beschäftigten sich mit ihren Gameboys  und Anne schlief im Beifahrersitz. Dabei
lehnte sie ihren Kopf an die Scheibe. Wie ein kleines Mädchen dachte Billy. Mit
dem Einbruch der Dunkelheit fuhr Billy den BMW den Kiesweg zum Haus hinauf.

Fortsetzung folgt ;-) 

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Gabor Köhler).
Der Beitrag wurde von Gabor Köhler auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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