Ich blickte Harpon ins Gesicht. Noch nie hatte
er so ruhig und gelöst gewirkt, wie hier in diesem Wald. Mir fiel auf, dass es
unnatürlich still geworden war. Nur noch das Rauschen des Windes, der durch die
Äste der hohen Bäume fuhr, war zu hören. Es raschelte im Gras vor mir und ein
kleines Tier kam neugierig schnüffelnd näher. Es erinnerte mich an ein Reh, war
aber viel kleiner. Es reichte mir nur bis zu den Knien. Langsam, um das Tier
nicht zu erschrecken, ging ich in die Knie und streckte die Hand nach dem Tier
aus. Es schnüffelte an meinen Fingerspitzen und ich kraulte seinen Nacken. Es
schien meine Berührung zu genießen, denn es begann zu schnurren wie eine Katze
und lehnte sich gegen meine Beine. Vorsichtig richtete ich mich wieder auf. Das
Tier trottete langsam weiter. „Was war das?“, fragte ich Harpon. „Ein Nagetier,
genannt Beerenbeißer.“ Wir gingen weiter zum Säulentempel. Der Tempel schien so
alt zu sein, wie alles andere auf Avalon. Die Steine waren schwarz vom Alter
und von Flechten und Moosen bedeckt. Mit schneeweißen Blüten übersäte
Kletterpflanzen hatten sich um die Säulen gewunden. Über eine Treppe, breit
genug für zwei Personen, gelangten wir auf eine Plattform, in deren Mitte ein
steinerner Altar aufgestellt war. Harpon blieb vor dem Altar stehen. „Wir
müssen hier warten“, meinte er. Er drehte sich um und schien etwas zu suchen.
„Worauf müssen wir warten?“, fragte ich Harpon. „Lass dich überraschen“, meinte
er und blockierte seine Gedanken.
Harpon richtete seine Aufmerksamkeit auf den
der Treppe gegenüber liegenden Waldrand. Noch immer blockierte er seine Gedanken.
Täuschte ich mich, oder hatten sich die Bäume dort bewegt? Dann teilten sich
die hohen Büsche und ein wundersames Tier kam auf die Lichtung. Es erinnerte
mich an einen Löwen, und es hatte eine beeindruckende Mähne. Das Fell war
jedoch gänzlich anders. Es wies keine Musterung auf, sondern war einfarbig und
glänzte tiefschwarz. Majestätisch langsam überquerte der schwarze Löwe die
Lichtung. „Das ist der König des Waldes. Der Wald wird durch ihn zu dir
sprechen. Hab keine Angst“, flüsterte Harpon. Der schwarze Löwe kam mit den
geschmeidigen Bewegungen eines Raubtieres die Stufen zur Plattform herauf,
direkt auf mich zu. Er war so groß, dass sich seine Augen mit den meinen auf
gleicher Höhe befanden. Er blieb vor mir stehen, so nahe, dass ich ihn hätte
berühren können. Ich spürte die Kraft und die Wildheit dieses Tieres. Ein
moschusartiger Geruch ging von ihm aus. Er kam noch näher und schnüffelte an
meiner Schulter. Sein warmer Atem stellte die feinen Haare auf meiner Haut auf.
Er wich wieder etwas zurück und Harpon sagte leise zu mir: „Leg dich jetzt auf
den Altar.“ Verwundert blickte ich ihn an. „Keine Angst, dir wird nichts
geschehen.“ Vorsichtig wandte ich mich um und legte mich auf den Altar. Harpon
trat hinter das Kopfende des Altars und legte seine Hände auf meine Schultern.
Der Löwe kam wieder näher und legte sanft und vorsichtig seine rechte
Vorderpranke auf meinen Bauch. Ich spürte die Berührung und das Gewicht dieser
riesigen Pranke, empfand es aber nicht als unangenehm. Der Löwe blickte mir
direkt in die Augen und in diesen Augen bemerkte ich nun eine unendliche Tiefe.
Und diese Tiefe zog mich in sich hinein und es wurde dunkel um mich.
Als ich wieder sehen konnte, erblickte ich vor
mir einen großen Pilz. Ich schnupperte daran, schlug meine Nagezähne in den
Pilz und fing an zu fressen. Ich befinde mich im Körper eines Tieres, stellte
ich erstaunt fest. Nachdem diese Mahlzeit beendet war, hoppelte ich weiter und
durchwühlte einen Laubhaufen. Es roch angenehm nach Erde, Feuchtigkeit und
Laub, aber ich fand hier nichts Fressbares. Ich hoppelte zu meinem Bau,
verkroch mich in die angenehme Kühle unter der Erde und schlief ein.
Die Erde ist mein Freund.
Danach war ich ein Fisch in einem See, der mit
vielen anderen Fischen nach Nahrung suchte. Ich spürte die Tiefe und Ruhe des
Sees und die angenehme Kühle des Wassers.
Das Wasser ist mein Freund.
Dann spürte ich das Rauschen der Luft an
meinem Körper und an meinen Schwingen. Tief unter mir sah ich das Dach des
Waldes. Ich ließ mich von einer warmen Strömung noch höher tragen. Weit vor mir
erblickte ich eine Lichtung. Neugierig ließ ich mich näher gleiten. In der
Mitte der Lichtung konnte ich einen Tempel erkennen und den König des Waldes,
den Schwarzen Löwen. Ich flog darauf zu.
Die Luft ist mein Freund.
Wieder war Finsternis um mich. Aber nach einer
Weile hörte ich eine Stimme in meinem Geist. Nein, es war nicht eine Stimme. Es
waren viele Stimmen, zu einer vereint.
„Wir
sind der Wald. Viele waren schon von dir hier. Aber du bist anders. Deine Ohren
sind nicht verschlossen. Du vermagst meine Stimme zu hören. Du hast deine Prüfung
bestanden.“ Ich verstand nicht, woraus die Prüfung bestanden hatte.
„Du darfst dich frei im Wald bewegen. Nie
wird dir hier ein Leid geschehen. Du darfst auch Freunde mit in den Wald
bringen. In deiner Nähe werden sie sicher sein. Lasse sie niemals alleine im
Wald. Es könnte ihren Tod bedeuten. Und bringe niemals einen Feind mit. Er
würde unsere Ruhe und unseren Frieden stören. Der Wald ist dein Freund und du
bist die Freundin des Waldes.“ Wieder wurde es finster.
Als ich wieder sehen konnte, blickte ich in
die Augen des schwarzen Löwen und ich hörte seine Stimme in meinem Geist.
„Ich bin der König des Waldes. Durch mich
kannst du jederzeit zum Wald sprechen.“ „Aber wie finde ich dich?“ „Rufe nach
mir und ich werde erscheinen.“ Der Löwe nahm seine Pranke von meinem Bauch
und trat einen Schritt zurück.
„Wie habe
ich die Prüfung bestanden?“ „Wir wollten wissen, wie du dich verhältst, wenn du
ein Teil von uns bist. Du hast keine Angst gezeigt und es hat dir Freude
bereitet, als du dich im Körper der Tiere aufhieltst.“
Der Löwe drehte sich um und lief langsam zurück
zum Waldrand. Als er den Waldrand schon fast erreicht hatte, blieb er stehen
und drehte sich zu uns um. Sein Blick suchte den meinen und noch einmal hörte
ich die Stimme des Löwen in meinem Geist:
„Auch
ich bin dein Freund.“ Er riss seinen riesigen Schädel hoch und stieß ein
markerschütterndes Brüllen aus. Ein Schauer lief über meinem Rücken. „Welche
Kraft in diesem Tier steckt...“ Langsam erwachte der Wald wieder zum Leben.
Wir legten uns unterhalb der Treppe ins Gras.
Ich zog Cassandra zu mir heran und blickte ihr tief in die Augen. Gemeinsam
lauschten wir den Stimmen des Waldes. Ich schloss die Augen und genoss den
Frieden und die Ruhe dieses Ortes. Irgendwann musste mich wohl der Schlaf
übermannt haben, denn als ich die Augen wieder öffnete, war es bereits dunkel.
Der Große Mond stand über den Gipfeln der Bäume. Cassandra hatte die Augen noch
geschlossen. Ich stöhnte vor Lust, als ich die Glätte ihrer Haut und den Schimmer
des Mondlichts darauf sah, die Kurven ihrer Hüften und Brüste und die
Lieblichkeit ihrer Züge. Sie öffnete die Augen und lächelte mich an. Unsere
Gedanken vereinigten sich und wir liebten uns im Mondschein.