Hermann Weigl

Die Mondgöttin - Der König des Waldes

Mein Name ist Cassandra. Ich bin die Mondgöttin. Auf meiner Heimatwelt Avalon gibt es einen uralten, tiefen Wald, der in seiner Gesamtheit ein Bewusstsein entwickelt hat, wie eine Kollektivintelligenz.
Ich möchte euch heute davon erzählen, wie ich den Wald zum ersten Mal betreten habe, und wie er mich geprüft hat.  
 
Westlich vom Haus führte eine Brücke über einen tiefen, langsam dahin ziehenden Fluss. Hohe, uralte Bäume streckten ihre Äste weit über den Fluss aus, so als wollten sie die Äste der Bäume auf der anderen Uferseite berühren. Der Weg führte meinen Mann Harpon und mich unter dem Schatten der Bäume hervor und weiter über eine bunte Blumenwiese. Ein Meer von Blüten umgab uns und das Summen von Insekten füllte die Luft. Schwärme von Vögeln flogen zwitschernd über uns hinweg. Und noch andere Wesen bevölkerten diese Wiese, Wesen, welche ich noch nie zuvor gesehen hatte. Zuerst erschienen sie mir wie große, weiße Schmetterlinge. Aber als sich eines dieser Wesen kurz auf meiner ausgestreckten Hand niederließ, glaubte ich ein winziges menschliches Gesicht zu erkennen.
 
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir über diese herrliche Wiese gewandert waren, bis wir endlich den Waldrand erreichten. Unwillkürlich war ich stehen geblieben. Als ich mich umsah, war das Haus nicht mehr zu erkennen. Nur noch der Turm ragte über die weite Ebene der Wiese hervor. Ich wusste nicht, was es war, das mich dazu bewegt hatte, vor dem Wald stehen zu bleiben. Irgendetwas ging von ihm aus. Es war nicht das Gefühl, das ich beim Betreten des Chelari-Waldes gehabt hatte. Der Ruf ging nicht von einem Volk aus, das im Wald lebte. Ich konnte es nicht näher beschreiben. Harpon ermutigte mich weiterzugehen und ich trat in die dämmrige Finsternis des Waldes hinein.  
 
Der Wald war so voll von Leben, dass ich meinte, nicht atmen zu können. In der Luft, auf den Bäumen, auf dem Waldboden, in den Bächen, selbst im kleinsten Tümpel sah ich das wimmelnde Leben. Wir gingen weiter und das Laubdach über uns zog sich in immer größere Höhen hinauf und wurde gleichzeitig dichter. Ich sah huschende Schatten unter dem Laubdach. Ich war mir sicher, dass es keine Vögel waren. Welch wundersame Tiere mochten sich wohl in den Tiefen dieses Waldes verbergen? Der Wald schien kein Ende zu nehmen. Je tiefer wir in den Wald eindrangen, umso weiter standen die Bäume und umso kräftiger waren ihre Stämme. Ich musste den Kopf weit in den Nacken legen, um die Wipfel der Bäume zu erkennen. Die Wurzeln dieser Riesen waren zum Teil so groß, dass wir nur mit Mühe über sie hinweg klettern konnten. Irgendwann kamen wir aber an eine Lichtung.  
 
Die Bäume wichen hier zurück und machten einer großen Lichtung Platz. Tausendjährige Bäume säumten die Lichtung ein. Cassandra war stehen geblieben. Ehrfürchtig ließ sie ihren Blick über die Lichtung gleiten. „Wie still und friedlich es hier ist“, meinte sie. Ich begann meine Kleidung abzulegen und deutete Cassandra an, dass sie sich ebenfalls ausziehen solle. „Der Wald will uns so sehen, wie uns die Natur geschaffen hat“, sagte ich. Cassandra musterte mich, aber sie spürte, dass ich es ernst meinte. Nackt traten wir auf die Lichtung hinaus. Ich spürte weiches, feuchtes Moos unter meinen Füßen. In der Mitte der Lichtung gab es einen uralten Säulentempel. Dorthin lenkte ich meine Schritte.
 
Auf halbem Weg blieb ich stehen. Cassandra hatte sich zwischen die hohen Gräser gesetzt und roch an einer großen roten Blüte. Ihr Gesicht zeigte den unbekümmerten Ausdruck eines Kindes. Ich ging näher, kniete mich neben sie und strich ihr zärtlich eine Strähne ihres langen Haares aus dem Gesicht. Sie begann zu lächeln und blickte mich an. Wie lange waren wir nun schon zusammen? Es schienen mir Jahre vergangen zu sein. Aber noch immer berührte mich ihr Blick auf eine Art und Weise, die mich erkennen ließ, dass sich zwischen uns etwas abspielte, das es nur einmal zwischen den Sternen gab. „Spürst du es?“, fragte ich sie. „Der Wald will dich jetzt prüfen.“
 
Ich blickte Harpon ins Gesicht. Noch nie hatte er so ruhig und gelöst gewirkt, wie hier in diesem Wald. Mir fiel auf, dass es unnatürlich still geworden war. Nur noch das Rauschen des Windes, der durch die Äste der hohen Bäume fuhr, war zu hören. Es raschelte im Gras vor mir und ein kleines Tier kam neugierig schnüffelnd näher. Es erinnerte mich an ein Reh, war aber viel kleiner. Es reichte mir nur bis zu den Knien. Langsam, um das Tier nicht zu erschrecken, ging ich in die Knie und streckte die Hand nach dem Tier aus. Es schnüffelte an meinen Fingerspitzen und ich kraulte seinen Nacken. Es schien meine Berührung zu genießen, denn es begann zu schnurren wie eine Katze und lehnte sich gegen meine Beine. Vorsichtig richtete ich mich wieder auf. Das Tier trottete langsam weiter. „Was war das?“, fragte ich Harpon. „Ein Nagetier, genannt Beerenbeißer.“ Wir gingen weiter zum Säulentempel. Der Tempel schien so alt zu sein, wie alles andere auf Avalon. Die Steine waren schwarz vom Alter und von Flechten und Moosen bedeckt. Mit schneeweißen Blüten übersäte Kletterpflanzen hatten sich um die Säulen gewunden. Über eine Treppe, breit genug für zwei Personen, gelangten wir auf eine Plattform, in deren Mitte ein steinerner Altar aufgestellt war. Harpon blieb vor dem Altar stehen. „Wir müssen hier warten“, meinte er. Er drehte sich um und schien etwas zu suchen. „Worauf müssen wir warten?“, fragte ich Harpon. „Lass dich überraschen“, meinte er und blockierte seine Gedanken.  
Harpon richtete seine Aufmerksamkeit auf den der Treppe gegenüber liegenden Waldrand. Noch immer blockierte er seine Gedanken. Täuschte ich mich, oder hatten sich die Bäume dort bewegt? Dann teilten sich die hohen Büsche und ein wundersames Tier kam auf die Lichtung. Es erinnerte mich an einen Löwen, und es hatte eine beeindruckende Mähne. Das Fell war jedoch gänzlich anders. Es wies keine Musterung auf, sondern war einfarbig und glänzte tiefschwarz. Majestätisch langsam überquerte der schwarze Löwe die Lichtung. „Das ist der König des Waldes. Der Wald wird durch ihn zu dir sprechen. Hab keine Angst“, flüsterte Harpon. Der schwarze Löwe kam mit den geschmeidigen Bewegungen eines Raubtieres die Stufen zur Plattform herauf, direkt auf mich zu. Er war so groß, dass sich seine Augen mit den meinen auf gleicher Höhe befanden. Er blieb vor mir stehen, so nahe, dass ich ihn hätte berühren können. Ich spürte die Kraft und die Wildheit dieses Tieres. Ein moschusartiger Geruch ging von ihm aus. Er kam noch näher und schnüffelte an meiner Schulter. Sein warmer Atem stellte die feinen Haare auf meiner Haut auf. Er wich wieder etwas zurück und Harpon sagte leise zu mir: „Leg dich jetzt auf den Altar.“ Verwundert blickte ich ihn an. „Keine Angst, dir wird nichts geschehen.“ Vorsichtig wandte ich mich um und legte mich auf den Altar. Harpon trat hinter das Kopfende des Altars und legte seine Hände auf meine Schultern. Der Löwe kam wieder näher und legte sanft und vorsichtig seine rechte Vorderpranke auf meinen Bauch. Ich spürte die Berührung und das Gewicht dieser riesigen Pranke, empfand es aber nicht als unangenehm. Der Löwe blickte mir direkt in die Augen und in diesen Augen bemerkte ich nun eine unendliche Tiefe. Und diese Tiefe zog mich in sich hinein und es wurde dunkel um mich.  
 
Als ich wieder sehen konnte, erblickte ich vor mir einen großen Pilz. Ich schnupperte daran, schlug meine Nagezähne in den Pilz und fing an zu fressen. Ich befinde mich im Körper eines Tieres, stellte ich erstaunt fest. Nachdem diese Mahlzeit beendet war, hoppelte ich weiter und durchwühlte einen Laubhaufen. Es roch angenehm nach Erde, Feuchtigkeit und Laub, aber ich fand hier nichts Fressbares. Ich hoppelte zu meinem Bau, verkroch mich in die angenehme Kühle unter der Erde und schlief ein.
Die Erde ist mein Freund.  
 
Danach war ich ein Fisch in einem See, der mit vielen anderen Fischen nach Nahrung suchte. Ich spürte die Tiefe und Ruhe des Sees und die angenehme Kühle des Wassers.
Das Wasser ist mein Freund.  
 
Dann spürte ich das Rauschen der Luft an meinem Körper und an meinen Schwingen. Tief unter mir sah ich das Dach des Waldes. Ich ließ mich von einer warmen Strömung noch höher tragen. Weit vor mir erblickte ich eine Lichtung. Neugierig ließ ich mich näher gleiten. In der Mitte der Lichtung konnte ich einen Tempel erkennen und den König des Waldes, den Schwarzen Löwen. Ich flog darauf zu.
Die Luft ist mein Freund.  
 
Wieder war Finsternis um mich. Aber nach einer Weile hörte ich eine Stimme in meinem Geist. Nein, es war nicht eine Stimme. Es waren viele Stimmen, zu einer vereint. „Wir sind der Wald. Viele waren schon von dir hier. Aber du bist anders. Deine Ohren sind nicht verschlossen. Du vermagst meine Stimme zu hören. Du hast deine Prüfung bestanden.“ Ich verstand nicht, woraus die Prüfung bestanden hatte. „Du darfst dich frei im Wald bewegen. Nie wird dir hier ein Leid geschehen. Du darfst auch Freunde mit in den Wald bringen. In deiner Nähe werden sie sicher sein. Lasse sie niemals alleine im Wald. Es könnte ihren Tod bedeuten. Und bringe niemals einen Feind mit. Er würde unsere Ruhe und unseren Frieden stören. Der Wald ist dein Freund und du bist die Freundin des Waldes.“ Wieder wurde es finster.  
 
Als ich wieder sehen konnte, blickte ich in die Augen des schwarzen Löwen und ich hörte seine Stimme in meinem Geist. „Ich bin der König des Waldes. Durch mich kannst du jederzeit zum Wald sprechen.“ „Aber wie finde ich dich?“ „Rufe nach mir und ich werde erscheinen.“ Der Löwe nahm seine Pranke von meinem Bauch und trat einen Schritt zurück. „Wie habe ich die Prüfung bestanden?“ „Wir wollten wissen, wie du dich verhältst, wenn du ein Teil von uns bist. Du hast keine Angst gezeigt und es hat dir Freude bereitet, als du dich im Körper der Tiere aufhieltst.“   Der Löwe drehte sich um und lief langsam zurück zum Waldrand. Als er den Waldrand schon fast erreicht hatte, blieb er stehen und drehte sich zu uns um. Sein Blick suchte den meinen und noch einmal hörte ich die Stimme des Löwen in meinem Geist: „Auch ich bin dein Freund.“ Er riss seinen riesigen Schädel hoch und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus. Ein Schauer lief über meinem Rücken. „Welche Kraft in diesem Tier steckt...“ Langsam erwachte der Wald wieder zum Leben.
 
Wir legten uns unterhalb der Treppe ins Gras. Ich zog Cassandra zu mir heran und blickte ihr tief in die Augen. Gemeinsam lauschten wir den Stimmen des Waldes. Ich schloss die Augen und genoss den Frieden und die Ruhe dieses Ortes. Irgendwann musste mich wohl der Schlaf übermannt haben, denn als ich die Augen wieder öffnete, war es bereits dunkel. Der Große Mond stand über den Gipfeln der Bäume. Cassandra hatte die Augen noch geschlossen. Ich stöhnte vor Lust, als ich die Glätte ihrer Haut und den Schimmer des Mondlichts darauf sah, die Kurven ihrer Hüften und Brüste und die Lieblichkeit ihrer Züge. Sie öffnete die Augen und lächelte mich an. Unsere Gedanken vereinigten sich und wir liebten uns im Mondschein.  
 
© 2007 Hermann Weigl.
 

Es handelt sich um einen Ausschnitt aus dem Roman 'Der Preis der Unsterblichkeit'.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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