Hermann Weigl

Die Mondgöttin - Die Geburtstagsüberraschung

Ich war es gewohnt, dass Harpon seine Gedanken vor mir verbarg, wenn mein Geburtstag kurz bevor stand. Aber in diesem Jahr hatte er schon sehr früh damit angefangen. Er war sogar für mehrere Tage verreist gewesen, ohne einen Grund dafür anzugeben. Es war auch sehr ungewöhnlich, dass er alleine verreiste, denn für gewöhnlich vermieden wir es, getrennt zu werden, und unternahmen alle Reisen gemeinsam.

Vorgestern hatte er mich an Bord der Nepokadnezar gebeten, allerdings unter der Auflage, nicht unsere Kabine zu verlassen. Jetzt saß ich mit ihm in einer Landefähre und er hatte mir die Augen verbunden. An den Betriebsgeräuschen der Fähre konnte ich erkennen, dass wir gelandet waren und Harpon half mir, auszusteigen. Die Luke öffnete sich vor uns und er führte mich auf die Rampe. Laue Sommerluft wehte mir um die Nase. Ich sog sie gierig ein und vernahm den Geruch von Blüten und Gras. Ich fühlte die warmen Strahlen der Sonne auf meiner Haut und hörte die Stimmen von Vögeln und das Zirpen von Insekten. In weiter Entfernung nahm ich den Ruf eines mir unbekannten Tieres wahr. Harpon führte mich etwa zwei Dutzend Schritte von der Fähre weg, dann bat er mich stehen zu bleiben und nahm mir die Augenbinde ab. Ich sah ihn fragend an, aber er lächelte nur und blockierte weiterhin seine Gedanken. Ich sah mich um. Wir standen auf einer Wiese auf einem flachen Hügel. Nach rechts erstreckte sich die Wiese, so weit ich blicken konnte. Hinter mir sah ich die Landefähre. Links von mir fiel das Gelände leicht ab und schien dann durch eine Schlucht begrenzt zu werden. Vor mir stieg der Hügel noch etwas an und auf der höchsten Stelle erblickte ich eine Art von Zaun, der aus ineinander verflochtenen Ästen bestand. Warum baut jemand hier an dieser Stelle einen Zaun, überlegte ich. Harpon nahm meine Hand und führte mich auf den Zaun zu. Als wir näher kamen, sah ich, dass es kein Zaun war, sondern eine gewisse Tiefe hatte, wie eine Art von Wall oder Mauer. Harpon deutete mir an, nicht zu sprechen und bat mich, stehen zu bleiben. Er eilte zu dem Wall hoch, reckte den Hals um darüber blicken zu können und kam wieder zu mir herunter. „Das wird meine Überraschung für dich zu deinem Geburtstag, Cassandra“, flüsterte er mir ins Ohr. Er nahm mich wieder am Arm und führte mich zu dem Wall. Jetzt konnte ich die Form erkennen. Es war ein Nest, ein riesiges Vogelnest. Harpon deutete nochmals an, dass ich nicht sprechen soll und führte mich langsam und darauf achtend kein Geräusch zu verursachen, bis ganz an den Rand heran. Ich spürte Harpons Aufregung und auch mein Puls beschleunigte sich. Das Nest war so hoch, dass es mir fast bis zur Brust reichte. Wie groß musste der Vogel sein, der ein solches Nest baut? Endlich waren wir bis zum Nestrand hochgestiegen und ich konnte über den Rand hinweg in das Nest blicken. Und ich erblickte einen … Nein, das konnte unmöglich wahr sein, dachte ich. Mir schwindelte und ich musste mich an Harpons Arm festhalten. Ich schloss die Augen, um sie erst nach ein paar Augenblicken wieder zu öffnen. Wieder richtete ich meinen Blick in das Nest. Aber er war noch immer da. Im Nest lag ein schlafender Drache!
Harpon hatte nun die Sperren um seinen Geist gesenkt und ich konnte seine Gedanken wieder lesen. „Was ist das?“, fragte ich ihn. „Das ist Botschafter Caragor.“ „Aber er ist doch ein Drache?“ „Auch Drachen bilden Botschafter aus.“ Ich spürte eine gewisse Belustigung in Harpons Gedanken, war aber so aufgeregt, dass ich in diesem Augenblick nicht darauf achtete. Ich musterte wieder den schlafenden Drachen. Wie schön er ist, dachte ich, wie wunderschön. Er hatte sich im Schlaf schlangengleich zusammengerollt. Sein riesiger Kopf ruhte nur wenige Meter vor mir auf dem Boden des Nestes. Ich sah, wie sich seine Seiten hoben und senkten und hörte seine tiefen, ruhigen Atemzüge. Die Flügel waren auf dem Rücken zusammengefaltet. Die Füße des Drachen endeten in unterarmlangen, silberfarbenen Krallen und der Schwanz des Drachen war am Ende abgeflacht und geteilt. Seine Schuppen waren tiefschwarz und schimmerten an den Stellen, an denen das Sonnenlicht auf sie fiel, in einem dunklen Blau. Nur im Bereich von Brust und Bauch schienen die Schuppen etwas heller gefärbt zu sein. Riesige Nüstern blähten sich mit jedem Atemzug des Drachen. Ein eigenartiger, öliger, aber nicht unangenehmer Geruch ging von dem Drachen aus. Ich beugte mich noch etwas weiter vor. Da knackste ein Zweig unter meinen Füssen. Ärgerlich sah ich zu Boden und schob den Zweig mit dem Fuß zu Seite. Als ich wieder aufsah, erschrak ich. Der Kopf des Drachen war nur einen Schritt von mir entfernt und musterte mich mit feuerroten Katzenaugen. Ich sog die Luft ein und wagte nicht zu atmen.
Der Drache wiegte den Kopf, der so groß war, dass zwischen seinen beiden spitzen Ohren bequem zwei Menschen hätten sitzen können, und blinzelte mehrmals. Die Schuppen um seine Augen und seine Nüstern waren viel kleiner, als diejenigen, die seinen Körper bedeckten, stellte ich fest. Da wandte der Drache sich Harpon zu. „Ich grüße dich, Harpon. Ich hatte euch gar nicht kommen hören. Bitte entschuldigt, dass ich geschlafen habe. Aber in meinem Alter tut ein kleines Schläfchen am Nachmittag sehr gut.“ „Caragor, ich grüße dich. Darf ich dir meine Frau vorstellen. Ihr Name ist Cassandra.“ Der Drache wandte sich wieder mir zu. „Cassandra, herzlich willkommen auf Kedora.“ Er musterte mich erneut. „Cassandra. Hm. Das ist ein schöner Name. Er würde auch gut zu einer unserer Frauen passen.“ „Ich … weiß nicht, was ich sagen soll“, stotterte ich. „Es scheint so, Harpon, als ob dir deine Überraschung gelungen ist“, meinte Caragor an Harpon gewandt. „Können wir los fliegen?“ „Flieg los, Carador. Wir folgen dir“, entgegnete Harpon. Der Drache sprang mit einer einzigen fließenden Bewegung aus dem Nest heraus. Ich hätte niemals gedacht, dass dieses große Tier sich so flink und elegant bewegen kann. Auf der Wiese neben dem Nest faltete der Drache seine Flügel auseinander und erhob sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Harpon fasste meine Hand und zog mich zu Gleiter „Wohin fliegen wir?“, fragte ich. „Zum Drachenberg. Wir werden erwartet.“ „Zum Drachenberg?“ „Ja. Das war erst ein Teil meines Geburtstaggeschenkes. Die anderen Drachen warten auf uns.“ Ich beeilte mich, zum Gleiter zu kommen. Was würde mich heute wohl noch erwarten?
© 2007 Hermann Weigl

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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