Vorgestern
hatte er mich an Bord der Nepokadnezar gebeten, allerdings unter der Auflage,
nicht unsere Kabine zu verlassen. Jetzt saß ich mit ihm in einer Landefähre und
er hatte mir die Augen verbunden. An den Betriebsgeräuschen der Fähre konnte
ich erkennen, dass wir gelandet waren und Harpon half mir, auszusteigen. Die
Luke öffnete sich vor uns und er führte mich auf die Rampe. Laue Sommerluft
wehte mir um die Nase. Ich sog sie gierig ein und vernahm den Geruch von Blüten
und Gras. Ich fühlte die warmen Strahlen der Sonne auf meiner Haut und hörte
die Stimmen von Vögeln und das Zirpen von Insekten. In weiter Entfernung nahm
ich den Ruf eines mir unbekannten Tieres wahr. Harpon führte mich etwa zwei
Dutzend Schritte von der Fähre weg, dann bat er mich stehen zu bleiben und nahm
mir die Augenbinde ab. Ich sah ihn fragend an, aber er lächelte nur und
blockierte weiterhin seine Gedanken. Ich sah mich um. Wir standen auf einer
Wiese auf einem flachen Hügel. Nach rechts erstreckte sich die Wiese, so weit
ich blicken konnte. Hinter mir sah ich die Landefähre. Links von mir fiel das
Gelände leicht ab und schien dann durch eine Schlucht begrenzt zu werden. Vor
mir stieg der Hügel noch etwas an und auf der höchsten Stelle erblickte ich
eine Art von Zaun, der aus ineinander verflochtenen Ästen bestand. Warum baut
jemand hier an dieser Stelle einen Zaun, überlegte ich. Harpon nahm meine Hand
und führte mich auf den Zaun zu. Als wir näher kamen, sah ich, dass es kein
Zaun war, sondern eine gewisse Tiefe hatte, wie eine Art von Wall oder Mauer.
Harpon deutete mir an, nicht zu sprechen und bat mich, stehen zu bleiben. Er
eilte zu dem Wall hoch, reckte den Hals um darüber blicken zu können und kam
wieder zu mir herunter. „Das wird meine Überraschung für dich zu deinem
Geburtstag, Cassandra“, flüsterte er mir ins Ohr. Er nahm mich wieder am Arm
und führte mich zu dem Wall. Jetzt konnte ich die Form erkennen. Es war ein
Nest, ein riesiges Vogelnest. Harpon deutete nochmals an, dass ich nicht
sprechen soll und führte mich langsam und darauf achtend kein Geräusch zu
verursachen, bis ganz an den Rand heran. Ich spürte Harpons Aufregung und auch
mein Puls beschleunigte sich. Das Nest war so hoch, dass es mir fast bis zur
Brust reichte. Wie groß musste der Vogel sein, der ein solches Nest baut? Endlich
waren wir bis zum Nestrand hochgestiegen und ich konnte über den Rand hinweg in
das Nest blicken. Und ich erblickte einen … Nein, das konnte unmöglich wahr
sein, dachte ich. Mir schwindelte und ich musste mich an Harpons Arm festhalten.
Ich schloss die Augen, um sie erst nach ein paar Augenblicken wieder zu öffnen.
Wieder richtete ich meinen Blick in das Nest. Aber er war noch immer da.
Im
Nest lag ein schlafender Drache!
Harpon
hatte nun die Sperren um seinen Geist gesenkt und ich konnte seine Gedanken
wieder lesen.
„Was ist das?“, fragte ich ihn.
„Das ist Botschafter
Caragor.“
„Aber er ist doch ein
Drache?“
„Auch Drachen bilden
Botschafter aus.“
Ich
spürte eine gewisse Belustigung in Harpons Gedanken, war aber so aufgeregt,
dass ich in diesem Augenblick nicht darauf achtete.
Ich
musterte wieder den schlafenden Drachen. Wie schön er ist, dachte ich, wie
wunderschön. Er hatte sich im Schlaf schlangengleich zusammengerollt. Sein
riesiger Kopf ruhte nur wenige Meter vor mir auf dem Boden des Nestes. Ich sah,
wie sich seine Seiten hoben und senkten und hörte seine tiefen, ruhigen
Atemzüge. Die Flügel waren auf dem Rücken zusammengefaltet. Die Füße des
Drachen endeten in unterarmlangen, silberfarbenen Krallen und der Schwanz des
Drachen war am Ende abgeflacht und geteilt. Seine Schuppen waren tiefschwarz
und schimmerten an den Stellen, an denen das Sonnenlicht auf sie fiel, in einem
dunklen Blau. Nur im Bereich von Brust und Bauch schienen die Schuppen etwas
heller gefärbt zu sein. Riesige Nüstern blähten sich mit jedem Atemzug des
Drachen. Ein eigenartiger, öliger, aber nicht unangenehmer Geruch ging von dem
Drachen aus. Ich beugte mich noch etwas weiter vor. Da knackste ein Zweig unter
meinen Füssen. Ärgerlich sah ich zu Boden und schob den Zweig mit dem Fuß zu
Seite. Als ich wieder aufsah, erschrak ich. Der Kopf des Drachen war nur einen
Schritt von mir entfernt und musterte mich mit feuerroten Katzenaugen. Ich sog
die Luft ein und wagte nicht zu atmen.
Der
Drache wiegte den Kopf, der so groß war, dass zwischen seinen beiden spitzen Ohren
bequem zwei Menschen hätten sitzen können, und blinzelte mehrmals. Die Schuppen
um seine Augen und seine Nüstern waren viel kleiner, als diejenigen, die seinen
Körper bedeckten, stellte ich fest. Da wandte der Drache sich Harpon zu.
„Ich
grüße dich, Harpon. Ich hatte euch gar nicht kommen hören. Bitte entschuldigt,
dass ich geschlafen habe. Aber in meinem Alter tut ein kleines Schläfchen am
Nachmittag sehr gut.“
„Caragor,
ich grüße dich. Darf ich dir meine Frau vorstellen. Ihr Name ist Cassandra.“
Der
Drache wandte sich wieder mir zu.
„Cassandra,
herzlich willkommen auf Kedora.“ Er musterte mich erneut. „Cassandra. Hm. Das
ist ein schöner Name. Er würde auch gut zu einer unserer Frauen passen.“
„Ich
… weiß nicht, was ich sagen soll“, stotterte ich.
„Es
scheint so, Harpon, als ob dir deine Überraschung gelungen ist“, meinte Caragor
an Harpon gewandt. „Können wir los fliegen?“
„Flieg
los, Carador. Wir folgen dir“, entgegnete Harpon.
Der
Drache sprang mit einer einzigen fließenden Bewegung aus dem Nest heraus. Ich
hätte niemals gedacht, dass dieses große Tier sich so flink und elegant bewegen
kann. Auf der Wiese neben dem Nest faltete der Drache seine Flügel auseinander und erhob sich mit kräftigen Flügelschlägen in
die Luft. Harpon fasste meine Hand und zog mich zu Gleiter
„Wohin
fliegen wir?“, fragte ich.
„Zum
Drachenberg. Wir werden erwartet.“
„Zum
Drachenberg?“
„Ja.
Das war erst ein Teil meines Geburtstaggeschenkes. Die anderen Drachen warten
auf uns.“
Ich
beeilte mich, zum Gleiter zu kommen. Was würde mich heute wohl noch erwarten?
©
2007 Hermann Weigl