Hartmut Pollack

Weihnachten am Waldrand

 
Weihnachten am Waldrand
 
Wir wohnen dicht vor dem Walde. Es sind nicht einmal einhundert Meter bis zum Waldrand. Das Beschaffen des Weihnachtsbaumes ist die Sache der ganzen Familie. Mit dem Waldbesitzer wird verhandelt und kurz vor Weihnachten wird ein Weihnachtsbaum geschlagen.
Vater schärft die Axt auf dem Schleifstein. Tom und Sarah ziehen sich warme Sachen an, stecken ihre Hände in warme Handschuhe und sind voller Vorfreude. Die Mutter macht eine Kanne mit einem warmen Getränk fertig und nimmt ein wenig Gebäck mit. Vorfreude steht in allen Gesichtern.
Nun sind wir allerdings eine etwas besondere Familie. Bei uns wird noch viel erzählt. Wir erfinden fantasievolle Geschichten und lassen uns Märchen erzählen. In unseren Geschichten lassen wir oft Pflanzen und Tiere sprechen. Ja, manche Geschichte ist so schön, dass wir meinen, wir können uns richtig mit den Pflanzen unterhalten.
Dieses Jahr soll es ein schöner Baum sein. Groß soll er sein, dass er bis zur Decke der Stube reicht. Und breit natürlich auch, damit unter ihm viel Platz für Geschenke ist. Er muss natürlich auch viele starke Zweige haben, sonst kann man ihn ja gar nicht richtig schmücken. 
Tom und Sarah nehmen sich vor, schon vorher in den Wald zu gehen - allerdings nicht weit, da haben sie doch zuviel Angst.
Sie wollen sehen, ob sie Papa morgen nicht überraschen können. Vielleicht finden sie ja schon den richtigen Baum. Und tatsächlich, nur wenige Meter vom Waldrand entfernt steht eine schöne gerade Tanne - gerade so, wie sie sich den Weihnachtsbaum vorgestellt haben. 
Vorsichtig gehen die beiden Kinder zu dem Baum, begutachten ihn von allen Seiten, rütteln ein bisschen an den Zweigen. Sie können natürlich nicht bis ganz oben sehen, dafür sind sie zu klein, aber Tom meint: "Der ist richtig! Das wird unser Weihnachtsbaum!" Sarah stimmt ihrem großen Bruder zu.
Als sie so sinnend vor dem Baum stehen, hören sie eine Stimme. Zuerst scheint es nur leise in den Tannennadeln des Baumes zu rauschen, doch dann hören sie eine leise und ganz feine Stimme. "Danke", sagt die Stimme, "danke, dass ich euch gefalle." Die Stimme klingt ganz zart und fast wie ein Kind.
"Was war das, Tom?" "Ich weiß nicht, vielleicht nur der Wind."
Sarah merkt, dass es Tom nicht ganz geheuer ist. Erneut kommt die Stimme, diesmal etwas kräftiger.
"Ich bin es, die Tanne. Entschuldigt, falls ich euch Angst mache, das will ich nicht. Ich freu mich nur, dass ihr mich schön findet. Die meisten Menschen sehen mich hier nämlich gar nicht. "
Die Kinder sind erstaunt. Von einem Weihnachtsbaum, der reden kann, hatten sie noch nie gehört. Aber für Tom ist das die Krönung: "Mensch, wir werden einen sprechenden Christbaum in der Stube haben. Wenn das nicht das Tollste ist." Sarah aber kommt das schon etwas seltsam vor.
Der Baum scheint nicht so ganz einverstanden zu sein: "Entschuldigt mal, ihr wollt mich doch hoffentlich nicht absägen? Ich meine, ein Baum gehört doch nicht ins Haus. Ich bin doch auch noch gar nicht alt, erst 10 Jahre…"
Sarah sagt zu Tom: "Du, ich glaube der Baum hat Angst." "Ach was, das ist doch nur ein Baum. Papa sägt den ab und Mama schmückt ihn dann schön. Dann haben wir einen wunderschönen Baum in der Stube."
"Das ist aber nicht gut", rauscht die Tanne, "ich will doch noch älter werden, genau wie ihr. Außerdem könnte ich sowieso nicht mehr sprechen, wenn ich nicht meine Wurzeln in der Erde habe."

Sarah will schnell nach Hause, sie hat Tränen in den Augen. Nicht nur weil sie Angst hat, sie weint um den armen Baum, der gerade mal so alt wie Tom ist.
"Das tut mir leid, dass du jetzt weinst, Kleine. Ich wollte dich nicht traurig machen. Du kannst mich gerne immer wieder besuchen und mit mir reden. Aber in eurer Stube geht das nicht."
"Und was ist mit unserem schön geschmückten Baum", ruft Tom, "sollen wir uns vielleicht einen anderen holen?" "Nein, natürlich nicht", antwortet die Tanne entsetzt, „aber ich habe da eine Idee. Wie wäre es denn, wenn ihr mich hier draußen schmückt und dann mit mir hier Weihnachten feiert?"
Einen Moment denkt Tom nach, Sarah sieht ihn flehentlich an, dann sagt Tom, "Das wäre schön. Wir überraschen Papa mit unserer Idee. Geschenke können unsere Eltern auch auf einen Tisch packen. So etwas hat immerhin noch keine Familie gemacht. Dazu ist es ein Wahnsinn, sich an Weihnachten mit einem Christbaum zu unterhalten. Friede auf Erden bekommt einen ganz neuen Sinn.“
Die beiden Kinder eilen nach Hause. Sie erzählen ihre wundersame Geschichte und überzeugen ihre Eltern. Vater holt am Heiligen Abend eine lange elektrische Zuleitung und legt sie bis an den Waldrand. Sie schmücken den Tannenbaum mit Kerzen und Engelshaaren. Auch einige bunte Glaskugeln hängen sie in den Weihnachtsbaum. Es scheint, als ob der Tannenbaum sich aufrichtet und groß macht. Er scheint wahnsinnig stolz zu sein.
Am heiligen Abend zieht sich die Familie warm an und sie gehen zum geschmückten Weihnachtsbaum. Der Vater liest die biblische Geschichte vor. Es wird ganz still im Wald. Der Wald mit allen Tieren scheint den Worten des Vaters zuzuhören. Ein wundersames Schweigen ist im Wald.
Als die Kinder mit ihren Eltern die alten Weihnachtslieder singen ist es fast so, als ob der stille Wald mitsingt. Der Weihnachtsbaum am Waldrand raunt in seinen Tannenästen. Ein leichter Schnee deckt die Feiernden ein. Es ist eine wunderschöne Stimmung. Fast kann man denken, dass Christus selbst bei der Feierstunde anwesend ist. Der Mond lächelt am Himmel und schenkt dieser Stunde sein schönstes Licht. Die Feierstunde greift den Eltern ans Herz, so dass  Tränen der Freude in ihre Augen steigen.
„Ich danke euch für diese herrliche Weihnachtsfeier,“ spricht der Tannenbaum gegen Ende der Feierstunde„So lange ich hier am Waldrand stehen darf, so lange werde ich dieses Weihnachten nicht vergessen.“
Mit dem Lied O Tannenbaum beendet die Familie ihre Weihnachtsfeier am Waldrand.  Es war für alle wohl der schönste Heiligabend seit Jahren. Mit einem glücklichen Lächeln gehen sie nach Hause und packen ihre Geschenke aus. Zum Abschluss singen  sie Stille Nacht Heilige Nacht und verstehen das Lied auf einmal ganz anders als früher.
© Hartmut Pollack
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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