Richard von Lenzano

Schneekatastrophe 1978

Schneekatastrophe 1978
(eine autobiographische Erfahrung)
 
 
 
 
 
 
 
Vom 30. zum 31.12.1978 hatte ich Nachtdienst auf meiner zuständigen Polizeistation in Schleswig-Holstein. Es hatte die Nacht über kräftig geschneit und außerhalb der Stadt waren entsprechende Schneeverwehungen aufgrund des starken Windes vor-handen. Verkehrsmäßig lief nichts mehr, jeglicher Verkehr war zum Erliegend ge-kommen. Notfalleinsätze wurden von Panzern der Bundeswehr durchgeführt, da selbst die stärksten Schneepflüge in den Verwehungen aufgeben mussten, sie blieben in den Schneeverwehungen einfach stecken.
 
Mein Dienst war um 07:00 Uhr zu Ende und ich ging vor die Tür der Polizeistation und sah mir das Wetter an. Es war grau in grau und mir wehte ein scharfer Wind um die Ohren. Es sah nach weiteren Schneefällen aus und ich wollte zusehen, dass ich möglichst schnell die 8 Kilometer bis nach Hause in Angriff nahm.
Motivation hatte ich genug, da ich 3 Tage dienstfrei hatte. In Uniform und Schaft-stiefeln, eingepackt in meine schwarze Dienstlederjacke und Schal, machte ich mich zu Fuß auf den Weg.
 
Innerhalb der Stadt kam ich noch recht zügig voran, da überall schmale Wege für Fußgänger geräumt waren. Als ich jedoch die Stadt verlassen hatte, begannen schon die ersten Probleme. Die vorhandene Landstraße mit Rad-Fußweg und Grünstreifen waren nicht mehr zu erkennen. Alls war weiß und fast konturenlos, lediglich anhand einiger Begrenzungspfähle konnte ich meine Gehrichtung festlegen und mich so ein wenig orientieren.
 
Ich war bereits 30 Minuten unterwegs und hatte gerademal ca. 1 Kilometer geschafft und bis zum nächsten Dorf hatte ich noch einen Kilometer vor mir. Als ich diesen überwunden hatte und in das Dorf kam, blieb ich einen Moment stehen um mich zu erholen. Es war für mich äußerst mühsam und schmerzhaft, mit den Schaft-stiefeln durch den hohen Schnee zu laufen. Die Stiefel saugten sich bei jedem Schritt im Schnee fest und konnten nur mit großer Anstrengung wieder heraus-gezogen werden, was sich gewaltig auf mein Tempo auswirkte – ich wurde immer langsamer.
 
Meine Gedanken überschlugen sich und ich war am Überlegen, ob mein Entschluss, nach Hause zu laufen, richtig war. Ich wog für und wieder gegeneinander ab und war danach der Meinung, dass ich nun auch weitergehen könne, da ich doch schon fast ein Drittel der Strecke geschafft hatte. Ich verließ dann das Dorf und ging in Richtung meines Dorfes weiter.
 
Kaum war ich auf freier Fläche, hatte durch Bäume und Sträucher keinen Schutz mehr, als der Wind mit voller Gewalt zuschlug. Er wirbelte die feinen Schneekristalle auf und schlug sie mir brutal ins Gesicht. Dort brannten sie, wie loderndes Feuer. Teilweise musste ich beide Hände vor mein Gesicht halten um den Schmerz zu lindern. Meine Brille hatte ich bereits in meine Lederjacke gesteckt, da ich nichts mehr durch sie sehen konnte, die Gläser waren von Schneekristallen bedeckt und diese froren sofort auf den Gläsern fest.
 
Durch das ständige Scheuern der Stiefel an meinen Fersen hatte ich dort bereits Blasen, die ordentlich schmerzten. Meine Kräfte schwanden auch langsam und ich bekam bei meiner Orientierung immer mehr Schwierigkeiten. Teilweise wusste ich überhaupt nicht  mehr, wo ich  mich zurzeit befand – ich erkannte keine Anhalts- punkte bzw. konnte sie nicht erkennen. Zu allem Unglück setzte noch sehr starkes Schneetreiben ein und zwar so mächtig, dass ich gerade noch die Hände vor Augen sehen konnte.
 
Ich stand nun irgendwo in der Wildnis, desorientiert und hatte keinen Schimmer, wie es weitergehen sollte. Meine Kraftreserven waren bereits so gut wie verbraucht und meine Moral war auf dem Nullpunkt. Lediglich der Wille – nach meiner Familie – trieb mich weiter. Irgendwann lief ich dann fast gegen ein Straßenschild und wusste nun, wo ich mich momentan befand. Wie ich dahin gekommen bin, war mir aber nicht klar, da ich querfeldein gegangen sein musste.
 
Es stand fest, dass ich nur noch 2 Kilometer vor mir hatte. Es sollten allerdings die längsten und härtesten Kilometer meines Lebens werden!
 
Meine Schritte wurden immer langsamer und schwerer, meine Augen brannten und ich musste – da sie meine Sicht behinderten, das gefrorene Eis von meinen Augen-brauen entfernen. Mein Puls schlug fortlaufend im oberen Bereich und mein Kreislauf stand kurz vor einem Kollaps.
Immer öfters musste ich Pausen machen, um ein wenig zu regenerieren, wobei ich feststellte, dass mein gesamter Körper klatschnass geschwitzt war. An irgendwelche Konsequenzen dachte ich nicht, dazu war mein Verstand schon zu abgestumpft – ich wollte nur noch weiter.
 
Urplötzlich durchzuckte mich ein heißer Blitz: Ich war stehengeblieben und dabei eingeschlafen. Beim Durchqueren einer Schneewehe stand ich bis zum Bauch in derselben und wollte nur noch schlafen. Gefroren habe ich nicht, es war irgendwie ein ruhiges, ja fast wohlig angenehmes Gefühl.
 
Mein Gefühl oder mein Instinkt warnten mich aber, sie zwangen mich, weiterzugehen, obwohl ich fast nicht mehr konnte.
Ein dumpfer Blick auf die Uhr sagte mir, dass es bereits 10:00 Uhr war, ich war also bereits 3 Stunden unterwegs. Nur noch unter hoher Adrenalinausschüttung ging mein Marsch weiter, bis ich einfach nicht mehr konnte.
 
Ich blieb stehen und wollte nur noch eins: Schlafen, schlafen, schlafen..
In meinen Stiefeln gluckerte es – denn die Blasen hatten sich aufgerieben und beide Fersen bluteten stark.
Folglich schaltete ich auf Reserve, wollte mich einen Moment erholen um dann weiterzugehen. Ich blieb stehen und versuchte mit dem Rücken gegen den Wind durchzuatmen.
 
Plötzlich hörte ich ein Geräusch, welches nicht zur Landschaft und nicht zum Schneesturm passte. Dann sah ich, wie ein Ungetüm auf mich zukam und fast neben mir anhielt. Es war ein Bergepanzer der Bundeswehr, der einen Einsatz hatte. Zwei Soldaten sprangen herab und zogen m ich aus der Schneewehe. Sie verfrachteten mich auf den Panzer und ich konnte mich an den Aufbauten festhalten. Ich saß auf der Austrittsöffnung der Motoren – die Abgase zogen durch die Luft, störten mich aber nicht – es war wenigstens warm und ich konnte ein wenig auftauen.
 
Der Panzerkommandant sagte mir, dass der Fahrer einen dunklen Schatten erkannt hatte und darauf zugefahren sei, meine schwarze Lederjacke hatte ihm den Weg zu mir gezeigt. Jetzt erfuhr ich, dass wir uns nie und nimmer auf der Landstraße befunden hatten. Beide befanden und trafen wir uns im offenen Gelände, Konturen der Landstraße waren nirgends zu erkennen - alles war verweht und in Schnee eingebettet.
Der Kommandant fuhr mich dann bis zu meinem Dorf, dort musste ich absteigen, da er mit dem Bergepanzer kein  Dorf durchfahren durfte. Ich bedankte mich überschwänglich bei den Soldaten (die aus Bayern kamen) und begann, mein Dorf zu durchqueren. Bis zu meiner Wohnung waren es noch ca. 600 Meter.
 
Meine Kraft reichte dafür aber nicht mehr aus und ich fiel auf Hände und Knie. Ich schleppte mich noch bis zum Haus meines Freundes Paul und schlug dort kraftlos gegen die Tür, da ich die Klingel nicht erreichen konnte. Dann brach ich zusammen und bekam nichts mehr mit.
 
 
Nach Schilderung von Paul hat sich anschließend folgendes zugetragen:
 
Er saß mit seiner Familie in der Küche, als er ein Geräusch an der Tür hörte. Er sah nach und fand mich zusammengekauert wie ein Häufchen Elend vor. Er hob mich auf, trug mich nach oben in seine Wohnung, zog mich aus und packte mich in seine Badewanne. Danach hat er mich in sein Ehebett verfrachtet, wo ich fast 10 Stunden geschlafen habe.
Meine Frau hatte er sofort angerufen, da ich bereits überfällig war. Meine Fersen hatte Paul verbunden, es waren  nur noch blutige Klumpen, die Stiefel mussten vom Blut entleert und gereinigt werden.
 
Später habe ich dann noch ernsthaft bei der Bundeswehr versucht, die Namen der Panzerbesatzung in Erfahrung zu bringen, was mir aber leider nicht gelang. Ich wollte m ich b ei den Jungs noch einmal nachhaltig für meine Rettung danken – denn – wären sie nicht zufällig querfeldein gefahren – hätte ich dieses Erlebnis nie schreiben können. Also Jungs – ich danke euch ganz herzlich – falls ihr die Ge-schichte vielleicht im Internet lesen solltet.
 
Ich persönlich habe inzwischen festgestellt, dass mein damaliges Verhalten leichtsinnig und unlogisch war. Nur weil ich nach Hause wollte, bin ich ein viel zu großes Risiko eingegangen obwohl ich auf  meiner Dienststelle hätte übernachten können. Es war ein Lernprozess, den ich danach durchgemacht habe. Ich kann mich heute glücklich schätzen, dass meine „Schneewanderung“ nicht in einer persönlichen Schneekatastrophe endete.
 
 
 
Es war einer der schlimmsten Winter, die Schleswig-Holstein seit Dekaden erlebt hat.
 
 
In einer Nachbargemeinde kam ein Vater mit seinen zwei Kindern in einen Schnee-sturm. Sie konnten sich in einer Schneehöhle retten. Als der Vater später Hilfe holen wollte und den Ort verließ, verirrte er sich. Seine beiden Kinder sind leider erfroren.
 
Unser kleines Dorf war 8 Tage lang total eingeschneit und von der Zivilisation abgeschnitten. Wir wurden durch einen Hubschrauber der Bundeswehr per Luft versorgt.
 
Bei den Bauern quollen die Milchbehälter über, es konnte kein Abtransport stattfinden – jeglicher Verkehr war zum Erliegen gekommen. Die Milch wurde in allen möglichen Behältern und Planen gesammelt. Die Bauern schöpften den Rahm von der Milch und verteilten diesen an die Bevölkerung. Diese hat den Rahm eingefroren. Auch diese Kapazitäten waren bald erschöpft. 
 
Aus einem Nachbardorf wurde mitgeteilt, dass eine männliche Person verstorben sei. Die Witwe wollte wissen, wie sie sich verhalten soll, da kein Bestatter ausrücken konnte. Es wurde ihr mitgeteilt, die Person abzudecken, die Heizung auszudrehen und ein Fenster leicht zu öffnen.
 
Soldaten aus Bayern wurden mit ihren großen Spezialpanzern nach Schleswig-Holstein verlastet, um der Bevölkerung im Kampf gegen die Schneekatastrophe zu helfen.
 
 
 
 
 
Richard von Lenzano
© 12-2007

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Richard von Lenzano).
Der Beitrag wurde von Richard von Lenzano auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Richard von Lenzano als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Herzgestöber von Andrea Koßmann



In diesem Buch finden Sie eine Zusammenfassung der schönsten Gedichte, Sprüche und Kurzgeschichten von Andrea Koßmann, welche ihrem Lyrik-Motto "Kopfchaos lüften" entsprungen sind.

Bringen Sie etwas Gefühl mit, wenn Sie in Ihre Werke abtauchen und schließen Sie das Buch letztendlich wieder mit noch viel mehr davon.

Worte der Liebe, aus Liebe geboren, für jedermann.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Autobiografisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Richard von Lenzano

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Zukunft 2020 von Richard von Lenzano (Fantasy)
Kartoffelsalat von der Währungsreform von Norbert Wittke (Autobiografisches)
Der Fall der Berliner Mauer- Berlin Text 2 von Kerstin Köppel (Erinnerungen)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen