Natalie Kurz

The Backyards of Night - Hinterhöfe der Nacht

“Somewhere in the night, someone was writing.” – Irgendwo in der Nacht schrieb jemand.
    Das Buch fiel zu Boden mit einem dumpfen Geräusch. (Sicher ist es nicht die feine Art, einfach so ein bestimmt teures Buch mit edlem Ledereinband fallen zu lassen. Doch was soll man erwarten, wenn man gerade in einem Buch über sich selbst liest. Natürlich ohne sich dessen vorher bewusst zu sein.)
    Im ersten Moment fühlte Elise sich schlichtweg ertappt.
Somewhere in the night, someone was writing. So als ob sie etwas Verbotenes getan hätte. Doch schließlich war nichts dabei, um (ein hektischer Blick auf die alte Wanduhr verriet es ihr) 4.11 Uhr, mit einem dicken, aufgeschlagenen Buch vor sich, zu schreiben. Außer vielleicht, dass es etwas ungewöhnlich war.
    Zu solch einer Zeit ließen sich die Menschen – wie sie wusste – in vier Kategorien einteilen: zum einen die Otto-Normalbürger, die zu später Stunde brav in ihren Bettchen lagen, dann die Berufstätigen mit Nachtschicht, die Elise (mit Ausnahme der Nachtwächter im Museum) bemitleidete, weiterhin die Partykids, die jetzt noch halb- oder volltrunken zu Techno-Hymnen ihre Ärsche durchschüttelten und zuletzt die wohl kleinste dieser Gruppen: die wahren Nachteulen, oder, wie Elise sie nannte, „Glühwürmchen“, die erst dann richtig auf ihre Kosten kamen, wenn die Welt in Sternfinsternis versunken war und selbst das Fake Light der Straßenlaternen zu flackern begann.
    Als solch ein waschechtes „Glühwürmchen“ hatte Elise es sich zur Aufgabe gemacht, des Nachts ihre literarischen Ergüsse verschwenderisch auszuschütten. Was dabei herauskam, war teils sehr unterschiedlich. Doch hatten alle Romane, Geschichten, Lieder, Gedichte und auch Elises „Chronik einer Glühwürmchenexistenz“ [ihr Tagebuch] etwas Besonderes an sich: etwas, das nur Texte auszeichnete, die mitten in der Nacht geschrieben worden waren, etwas dunkles, vielleicht auch bedrohliches, geradezu krallendes, eindringliches und zugleich etwas geborgenes. Alles Charakteristiken, die man der Nacht zuschreiben kann.
    Sie war gerade dabei gewesen, eine ausgefallene Horror-Nachtgeschichte mit ironischem Unterton zu schreiben. Neben ihr, auf dem durchgesessenen Sofa, lag noch das beleibte Buch aus der Stadtbibliothek, in dem sie einige Stunden zuvor Geschichten gelesen hatte. Mitten im Schreiben blickte sie kurz auf und las, natürlich rein zufällig, wie sie sich einredete, auf einmal jene Zeilen. Somewhere in the night, someone was writing.
    Nach dem ersten Schreck (unter dem nicht nur das Buch durch den Fall körperlich zu leiden hatte, denn Elise wurde derart kalt, als ob man sie in einen Kühlschrank gestopft hatte) fiel ihr auf, dass dies nicht die Seite war, bei der sie aufgehört hatte zu lesen. Sie blätterte zurück, um die Stelle zu finden, wo der alte Gnom auf den Lavasee zuschlitterte, doch ohne Erfolg. Zuerst dachte sie, sie wäre zu schnell vorgegangen. Also wiederholte sie das Ganze noch einmal in Ruhe, Seite für Seite. Nichts. Nein, weniger als Nichts. Ein tiefes schwarzes Loch musste sich aufgetan und die Geschichte über den Gnom aufgesogen haben. Wo auch immer sie nun zu lesen war, ob eingeritzt in eine Baumrinde oder in den Sand geschrieben, all das war wahrscheinlicher als die Geschichte durch bloßes Blättern und nochmaliges Umblättern wieder zurück zu holen. Es war nutzlos. Der Gnom war weg. Und das Ende seiner Geschichte auch. Sie würde es wohl nie erfahren. Das waren zumindest ihre ersten Gedanken. Im Nachhinein allerdings verblasste ihre Enttäuschung darüber und sie wurde neugierig, was stattdessen im Buch zu lesen war. Denn die ursprüngliche Geschichte war zwar verschwunden, doch die Buchstaben nicht. Sie gaben nun etwas anderes wieder.
    Auf Seite 369, die vorher die nervenaufreibende Flucht des Gnoms vor einer Horde fleischfressender Holztruhen beschrieben hatte, war nun folgendes zu lesen:

"Es wird dunkel. Leute erleuchten ihre Fenster. Glühende Wohntürme. Sonnenuntergang. Purpurner Himmel und Wolken wie umgekehrte Tränen, pflaumenfarben. Im Osten, denke ich, nähern sich Regenwolken. Ich beobachte die Nachbarn im Haus auf der andern Seite der Straße: Auf dem Dach hat Freakie wieder mal sein Teleskop aufgebaut. Genauso 'n Glühwürmchen wie ich. Keine Ahnung, warum sie immer über ihn herziehen. Ich denke, er ist nett. Vielleicht frag ich ihn mal etwas irgendwann. Harne rennt schon wieder in seiner Wohnung rum. Genau wie letzte Woche. Ein ruheloser Mann. Weiß nicht, was er hat. Immer rennt er. Aha, Luisa hat einen neuen Lover, wie es scheint. Ronni wird heut Nacht Spaß haben. Soviel ist sicher. Ach ja, Nachbarn sind doch interessant."

Im ersten Moment sagte all das Elise überhaupt nichts. Doch nur eine Sekunde später schlug sie sich mit der Hand auf die Stirn, schüttelte den Kopf und saß ziemlich fassungslos über dem Buch. Meine Gedanken! Meine Gedanken! In einem Buch! So war es. Ihre Gedanken, die ihr am vorigen Abend beim Beobachten ihrer Nachbarn gekommen waren, die sie jedoch nicht aufgeschrieben hatte. Das tat sie nie, wenn es um die Nachbarn ging. Vielleicht aus Respekt, vielleicht auch nur, weil es nicht allzu interessant war, um es aufzuschreiben. Herr Harne tat jeden Abend dasselbe. Er lief in seiner Wohnung umher. Warum auch immer. Da es sich ewig wiederholte, brauchte Elise es gar nicht aufzuschreiben. Mit den Anderen war es ähnlich.
    Und da standen sie nun, ihre Gedanken schwarz auf weiß, nur in einer anderen Sprache. Sowohl die Geschichte über den Gnom als auch alle anderen waren auf Englisch gewesen. Daher waren auch ihre Gedanken, die – wie auch immer – in das Buch gelangt waren, auf Englisch abgefasst. Doch wie konnte das sein?
    Elise blätterte um. Eine leere Seite. Noch eine weiter. Auf Seite 371 fand sich nun etwas ganz anderes. Gespannt las sie. Es war die Beschreibung einer Art Nahrungssuche. Der Jemand, der hier nach etwas Essbarem suchte, schien sehr hektische und unruhige Gedanken zu haben. Sein Hunger musste gewaltig sein, denn er konnte an nichts anderes denken:

"Fleisch, oh liebes Fleisch, Hühnchen, Pommes halbgegessen, Schokokrümel, Müll, ne Pfütze voll Pisse, Mist, IRGENDETWAS!!!"

Angewidert wandte sich Elise von dem Text ab. Wer zum Teufel isst denn Müll und Mist?! Widerlich!! Sie zwang sich, weiter zu lesen. Als sie am Ende der Seite angekommen war, wurde ihr klar, wessen Gedanken sie gerade verfolgt hatte – die einer Ratte! Eine Ratte, die ziellos durch die düsteren Nebenstraßen der Stadt lief und jeden offenen Abfalleimer akribisch auf etwas Fressbares untersuchte. Doch anscheinend waren die Leute dieser Tage etwas reinlicher und vernünftiger und hatten ihren Müll so verpackt, dass eine einzelne Ratte kaum daran herankam. Schließlich tat sich die halb verhungerte Ratte an einem alten weggeworfenen Stück Rind „gütlich“, das bereits von einem weichen grauen Fell überzogen war.
    Der kurze Einblick in die Gedankenwelt einer Ratte bedeckte ziemlich genau eine Buchseite. Was wohl noch in diesem Buch lauerte? Da Elise sich nicht unbedingt vorstellen konnte, was sie noch erwartete, beschloss sie, einfach weiter zu lesen. Vielleicht ergab sich so auch des Rätsels Lösung über ihre mit Druckerschwärze gebannten Sonnenuntergangsgedanken.
    Seite 373 (Nr. 372 war wieder leer) zeigte plötzlich ein Gespräch. Wie es aussah zwischen einem Taxifahrer und einem nächtlichen Fahrgast:

"Wohin?" - "Zum Bahnhof, bitte." – "Okay." – "Ähm, könnten Sie mir sagen, ob in 14 Minuten ein Zug abfährt?" – "14? Ich hab wirklich keine Ahnung. Aber wieso 14?" – "Es ist sehr wichtig." – "Ist es nicht egal, ob ein Zug in 14 oder 16 Minuten fährt?" – "NEIN, mit Sicherheit nicht." – "Na dann." – "Es ist SEHR wichtig." – "Wenn Sie das meinen." – "Ich meine es nicht nur, es IST sehr wichtig!" – "Aha." – "Hören Sie, wenn ich nicht in genau 13 Minuten einen Zug kriege, dann werde ich sterben!" – "Sterben? Sie haben ja Scherze drauf!" – "Da ist kein Witz, ich meine es todernst!" – "Todernst! Ha!" – "Bitte glauben Sie mir. Sie könnten der letzte sein, um mir zu helfen, mein Leben zu retten!" – "Könnte ich?" – "Ja." – "Was ist dann eine solche Bedrohung?" – "Bestimmte Leute… wollen etwas… etwas, das ich nicht mehr habe… ein gewisses Buch." – "Ein Buch? Wie langweilig. Das soll alles sein? Sie wollen mich wohl verarschen!" – "Auf keinen Fall! Es ist ein besonderes Buch, sehr wertvoll und besonders!" – "Und was hat es mit diesem Buch auf sich?" – "Es kann Dinge, Gedanken und Gespräche, alles mögliche, aufnehmen. Es kann diese Dinge sicher und versteckt halten. Und nur sehr wenige Menschen könnten fähig sein, mit diesem Buch umzugehen und alle seine Kräfte zu entdecken. Es gibt wohl eine bestimmte Methode. Und die Leute, die mich verfolgen, wollen das Buch und die Methode…" – "Wieso geben Sie ihnen nicht einfach, was sie wollen? Wenn nicht das Buch, naja, dann die so genannte Methode, um es zu benutzen?" – "Sie verstehen mich nicht! Ich kenne die Methode nicht! Sie werden mich töten!!" – "Kommen Sie runter, Mann! Ich glaube nicht, dass die Sie wirklich umbringen würden, nur wegen eines Buches." – "Sie kennen sie nicht! Sie sind skrupellos!" – "Oh Mann, übertreiben Sie nicht." – "Sie, ich muss Ihnen etwas sagen. Ich muss offenbaren-" – "Was zum Teufel!!! Was für ein Hurensohn rennt da fast in meinen Wagen?! Blödes Arschloch! Scheiße! Lach nicht so doof, du Idiot! Das ist NICHT witzig!! Fahr zur Hölle!!!" – "Bitte… bitte provozieren Sie ihn nicht… er gehört zu IHNEN… sie sind hier… oh mein Gott, ich bin tot… wir sind beide tot…" – "Was? Er ist… was? Wa-…" – "Nein, nein… nein… bitte lassen Sie mich… bitte… ich weiß nichts… nichts… nein… ne-…"

Dann war der Dialog zu Ende. Er bedeckte nicht einmal die ganze Seite. Elise war nicht sicher, was sie davon halten sollte. Der Fahrgast hatte über ein Buch gesprochen, das Gedanken einfangen konnte. Ein solches Buch hatte sie vor sich liegen. War es eben jenes? Eines wusste sie jedoch: Das Gespräch in dem Taxi hatte ihr Angst eingejagt. Wenn die Situation sich tatsächlich so abgespielt hatte, dann konnte es sein, dass die beiden Männer jetzt tot waren.
    Verunsichert kam sie zur nächsten Seite. 375. Hier befanden sich nur einige wenige Zeilen:

"Samstag, 21. Juli. 1.04 Uhr. Ich bin müde. Kam zwar ziemlich früh nach Haus, musste aber die ganze Woche durcharbeiten. Oh, diese Skelette langweilen mich. Ich hasse Dinosaurier, Statuen, alte Schriften, Knochen… Museen sind was für Langweiler. Sollen sie doch all diesen alten, verrotteten Müll anstarren. Ich musste das jahrelang Nacht für Nacht sehen. Es ist nichts Besonderes. Alles verfault. VERFAULT! Genau wie dieser saublöde Direktor, den die Situation meiner Familie einen Dreck schert. Ich werde auf die Stufen dieses narzisstischen Ausstellungshauses spucken und GEHEN!"

Ein Museumswärter, der seinen Job hasste. Wie schade, dachte Elise, dabei ist er von so vielen interessanten Dingen umgeben. Es war einer ihrer persönlichen Traumberufe. Man konnte nachts arbeiten, noch dazu in einem Haus der Geschichte. Doch es gab immer Menschen, die es anders sahen. Was jedoch im Moment wichtiger war: Elise hatte ein Datum! Der 21. Juli, Samstag, ein Uhr nachts. Das war doch erst vor drei Stunden! Das Buch hatte nicht nur ihre Gedanken vom gestrigen Sonnenuntergang aufgenommen, sondern auch einen nächtlichen Tagebucheintrag eines Nachtwächters. Elise war sich nun immer sicherer, dass die Einträge in diesem geheimnisvollen Buch chronologisch waren.
    Bevor sie weiter las, legte sie erst einmal eine Denkpause ein. Sie wollte herausfinden, weshalb sich das Buch auf einmal verändert hatte. Elise hatte es aus der Stadtbibliothek. Es war schon alt, das stand fest. Sie hatte es bestimmt schon viermal ausgeliehen. Nie war sie mit allen Geschichten fertig geworden bis die Ausleihfrist vorbei war. Und bei über 1000 Seiten mit relativ kleiner Schrift war sie nie ganz durch gekommen. Sie las ja auch andere Bücher und musste für die Schule pauken. Außerdem gab es ja auch noch ihre Schreiberei.
    Das Buch trug den Titel „Dark Tales for the Night Bye…“. Zumindest war es das, was noch auf dem Buchrücken zu erkennen war. Der Rest war verblasst und zerkratzt. Im Buch selbst fanden sich nie Hinweise auf den vollständigen Titel. Die Geschichten fingen sofort mit Seite 1 an. Ohne Autorenangabe oder Auflagenanzahl oder ähnliches. Das hatte Elise zwar schon immer gewundert, jedoch hatte sie sich nichts weiter dabei gedacht.
    Gedankenverloren drehte und wendete sie das Buch in ihren Händen, bis sie erkannte, dass sich auch der Buchtitel gewandelt hatte. Nun war zu lesen: „The Backyards of Night“. Hinterhöfe der Nacht? Ein rätselhafter, aber faszinierender Titel, wie Elise fand. Der Titel weckte bei ihr den Eindruck, dass es sich um etwas Verstecktes handeln musste, das nicht jeder oder auch gar niemand erfahren könnte. Hinterhöfe waren ja an sich schon Orte, die man nicht sofort einsehen konnte. Und bei Nacht, in tiefster schwarzer Dunkelheit musste es geradezu unmöglich sein. Unmöglich. Dinge, die niemand wissen kann. Oder – so gut wie niemand! Und damit kam der Geistesblitz: Ihre Gedanken und diejenigen der Ratte konnte ja niemand lesen, also waren sie unzugänglich und geheim. Fast wie Hinterhöfe. Dann das Gespräch zwischen dem Taxifahrer und dem Fahrgast… wenn beide wirklich tot waren, dann konnte auch niemand wissen, was genau im Taxi gesprochen worden war. Und schließlich der Tagebucheintrag des Museumswärters… Tagebücher werden für gewöhnlich verborgen und geheim gehalten. Das hatte auch etwas von einem Versteck. Außerdem spielte sich alles, was sie bisher gelesen hatte, bei Nacht ab. Nahm das Buch nur Dinge und Gedanken in sich auf, die nachts entstanden? Wenn das so war, dann könnte sie dem Geheimnis des Buches auf der Spur sein.
    Doch was war mit diesem besonderen Satz?
Somewhere in the night, someone was writing. Wenn tatsächlich Elise gemeint war, wer wusste dann, dass sie nachts hier schrieb?
       Sie suchte die Seite mit dem Satz, der diese ganzen Überlegungen wie Steine ins Rollen gebracht hatte. Sie fand ihn auf Seite 411. Und da fiel es ihr wie feste, schwarze Schuppen von den Augen: um Punkt 4.11 Uhr hatte sie das erste Mal diesen Satz gelesen. Sie war nicht sicher woher, doch sie wusste, dass der Satz erst kurz vorher geschrieben worden sein musste. Deshalb las sie die gesamte Seite 411 sofort durch: 

"Orion sehr klar heute Nacht.
Sicht zur Venus ist klasse.
Dort vielleicht noch ein rötliches Funkeln. Mars?
Diese Nacht ist Halbmond – mein Favorit.
Nur wenige Wolken – obwohl sich Donner nähern könnte. Irgendwie liegt es in der Luft. Elektrizität. Zittern. Intensität.
Da, endlich – die "Sieben Schwestern", die Plejaden. Hoffte, die heut Nacht zu kriegen. Ein paar schöne Bilder.  

Muss nachdenken. Nicht meine Gewohnheit, aber ich muss meine Gedanken aufschreiben. Egal, ob ich dazu mein Astronomie-Notizblatt missbrauche.
Die Leute mögen mich nicht. Sie denken, ich sei eigenartig (man nennt mich 'Freakie'). Hatte nie richtige Freunde. Vermisse es aber trotzdem.
Schule heißt für mich Gehässigkeit. "Spuck drauf", sagt Dad. Ist nicht so einfach, wie du dir das denkst, Vater. Besonders, wenn man sich wie der Einzige seiner Art auf Erden vorkommt. Die anderen sind nicht mehr. Falls es überhaupt jemals andere gab.

Irgendwo in der Nacht schrieb jemand.

Sehe ein Licht, geringer Lampenschein in dem Hochhaus dort auf der anderen Seite. Scheint wohl, als wäre jemand auf und wach. Am Schreiben. Sehr ungewöhnlich… Nicht meine Art, aber ich muss einen Blick durch das Teleskop werfen: sehe ein Mädchen, vielleicht in meinem Alter, schreibend, die ganze Zeit. Mit Sicherheit eine sehr passionierte Schreiberin. Würd gern wissen, was sie da schreibt. Geschichten? Oder Hausaufgaben? Nein, sie wirkt mehr wie eine Geschichtenerzählerin als eine Streberin.

Würde gern jemand kennen lernen. Nur wie? Es gibt niemanden wie mich. Ich bin allein. Eine sterbende Art – wenn überhaupt eine Art.

Irgendwie ist es ein Trost, sie so schreiben zu sehen, zu wissen, dass jemand wach ist zu dieser Zeit, an diesem Ort oder nahe diesem Ort. Fühle mich dadurch nicht so einsam.
Werde mir das merken zwecks zukünftigen Trostes:

Irgendwo in der Nacht schrieb jemand." 

 
Freakie? Er hatte sie gesehen und Trost darin gefunden? Und nun las sie seine Notizen hier in ihrem Buch. Seine sehr persönlichen Gedanken. Jetzt fühlte sie sich erst recht ertappt. Doch konnte sie nichts dafür. Das Buch gab ihr die Möglichkeit dazu. Außerdem hatte Freakie sie ja auch beobachtet. Nicht gerade die feine Art, aber sie konnte ihn verstehen. Er tat ihr leid. Dabei wusste sie nicht einmal seinen richtigen Namen.
    Freakies Ort war wahrlich ein ‚Hinterhof der Nacht’. Allein mit seinem Teleskop auf dem Dach eines Hochhauses. Seinen Sternen so nah und den Menschen so fern. Bestimmt hatte er nur dort oben seinen Frieden. Im Angesicht des Himmels.
    Langsam wurde ihr die Macht des Buches und die Tragweite dieser bewusst. Geheime Gedanken und verborgene Notizen fanden hier Durchlass zu der Person, die das Buch las. In den falschen Händen konnte es durchaus ein interessantes Instrument sein. Doch dazu würde es nicht kommen. Die „Hinterhöfe“ würde Elise einfach für sich behalten und bewahren, so lang es nötig sein würde. Aus irgendeinem Grund wollte sie nicht, dass irgendjemand anders Freakies Zeilen würde lesen können. Allein ihretwegen würde sie das Buch wie einen Schatz hüten. Das stand fest. Es war nun ihrs.

Vielleicht werde ich Freakie tatsächlich einmal ansprechen. Ob er mich dann wieder erkennt und sagt: „Irgendwo in der Nacht schrieb jemand. Das warst du.“? Ich hoffe es. Er ist wirklich nett und ein Glühwürmchen noch dazu. Ich werde es einfach versuchen. Das bringt vielleicht uns beide weiter. Wenn wir uns verstehen sollten, dann würde ich ihm auch irgendwann das Buch zeigen. Doch nur ihm. Sonst niemandem.  

Irgendwo in der Nacht steht ein großer, weiser Junge auf einem hohen Betongebäude. Sein Blick geht weit in die Ferne, in die Dunkelheit hinaus. Seine braunen Augen schauen zu den Sternen, in die Ewigkeit, in der Hoffnung, Antworten zu finden.
    Irgendwo in der Nacht wälzt sich ein unglücklicher Mann in seinem Bett hin und her. Er weiß nicht, wie die Zukunft aussehen wird. Er glaubt nicht, dass er sie ändern könnte. Er glaubt nur an das, was monatlich das Überleben seiner Familie sichert.
    Irgendwo in der Nacht steht ein Taxi in einer Allee, eine Querstraße vom Hauptbahnhof entfernt. Der letzte Zug fuhr um Punkt Mitternacht. Der Wagen ist voller Blut, die Türen wurden aufgerissen. Zwei grausam hingerichtete Menschen liegen in dem Auto. Ihr Tod war umsonst.
    Irgendwo in der Nacht, an der Grenze zum Morgen, ruht sich eine Ratte in einem alten Pappkarton aus. Sie ist satt. Es wird eine Weile reichen. Der Schimmel in ihrem Magen macht ihr nichts aus. Sie hat gelernt zu überleben.
  Irgendwo in der Nacht, kurz vor Sonnenaufgang, verstaut ein kluges Mädchen ihre Schreibutensilien. Eine weitere Geschichte ist fertig. Ihre grünen Augen ruhen noch eine Weile auf den untergehenden Sternen, bevor sie sich mit einem großen, alten Buch im Arm zu Bett begibt. Sie wird wieder einen Samstag verschlafen. Doch das gehört zu ihrer Natur, die sie schon lange zu schätzen gelernt hat. In der kommenden Nacht wird sie wieder um 4.11 Uhr in ihrem eigenen Hinterhof der Nacht verweilen und Seite um Seite mit Geschichten füllen. Und vielleicht wirft sie auch einen Blick in das mysteriöse Buch, das ihr die Chance auf eine mögliche Freundschaft offenbart hat. Die Nacht hat ihre eigenen Gesetze, das weiß sie. Nur wer das akzeptiert, kann ihrem Wesen näher kommen.
    Sterne. Träume. Hinterhöfe. Die Nacht birgt viele Geheimnisse.

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Natalie Kurz).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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