Birgit Enser

Der liebe Gott sieht alles

Das kleine Mädchen drückte sich tiefer in den Hauseingang.

Da war diese Frau wieder, von der ihr die Oma streng verboten hatte, sie auch nur anzusehen. Sie hatte laut von Schande und Sünde und Gott gesprochen.
Also musste diese Frau einfach schlecht sein, wenn Oma so zornig war.

Staunend und mit großen Augen hatte das Mädchen ihr wie immer zugehört. Oma sprach ja schließlich jeden Tag mit Gott, oft kam auch der Herr Pastor zu ihnen, und dann beteten sie gemeinsam.
Einmal hatten sie auch schon für das kleine Mädchen gebetet, obwohl ihm nicht ganz klar war, was es Schlimmes getan hatte, aber Oma war ganz außer sich gewesen.

Der Opa saß dann jedoch meist nur am Tisch, sah kurz vom Essen auf und meinte: ‘Nun lass doch das Kind, Ruth! Du machst sie noch ganz verrückt.´
Doch Oma hatte ganz fürchterlich mit ihm geschimpft, dass er dem Kind Flausen in den Kopf setze und dass er zudem ein ‘Hallodri´ sei.
Opa ließ nach solch einem Streit dann meist sein Essen stehen und meinte, er würde erst mal ein wenig Hoffnung tanken, was bedeutete, dass er nach nebenan in die Gaststätte ging, denn die hieß ‘Zur Hoffnung´. Und Oma unterstützte ihn dann immer eifrig, indem sie für ihn betete.

Das Mädchen wusste eigentlich nicht so recht, was Flausen waren. Es nahm aber an, dass das so was wie die Flusen waren, die manchmal unter dem großen Ehebett von Oma und Opa lagen.
Man konnte sie fortpusten, sie flogen dann leicht auseinander, manchmal in die Luft und sanken sanft wieder zu Boden. Es war immer lustig, doch der Oma gefiel das nicht.
Dem Mädchen jedoch gefiel der Gedanke sehr, dass Opa so etwas in ihren Kopf setzte und dass diese Flusen sie dann beim Denken kitzelten.
Was ein ‘Hallodri´ war, wusste es auch nicht, aber Opa zwinkerte ihm dann immer heimlich zu, und deshalb war das Mädchen sich sicher, dass es nichts allzu Verdorbenes sein konnte.
Mit Verdorbenem kannte sich nämlich die Oma aus. So war es zum Beispiel verdorben, sich nach dem Pipimachen ‘dort unten´ abzuputzen.

Und irgend so etwas musste diese Frau getan haben, etwas ganz Verdorbenes.

Oma meinte immer, es sei eine Schande, dass man sich als anständige Frau so in der Öffentlichkeit zeigt. Deshalb könne diese Frau nicht anständig sein.
Sie sagte auch, dass der liebe Gott eigentlich immer alles sieht und dass es ihr einfach unverständlich sei, warum er in diesem besonderen Fall nichts dagegen unternähme. Anscheinend war Oma doch nicht immer mit dem einverstanden, was der liebe Gott so tat ... oder nicht tat.
Jedenfalls ging Oma immer auf die andere Straßenseite, wenn diese Frau ihnen entgegenkam und sie grüßte sie auch nicht mehr.

Das kleine Mädchen war nun aber auch sehr neugierig, und deshalb schaute es jetzt vorsichtig um die Ecke, um einen Blick auf die Frau zu werfen.
Vielleicht hatte sie ja irgendwo Hörner oder sonst etwas Schreckliches.

Aber die Frau sah nett aus, sie lachte viel. Nur einen ziemlich dicken Bauch hatte sie. Sie sah aus, als wenn sie bald platzen würde.
Vielleicht saß dort ja die ganze Schlechtigkeit, ja, so musste es sein. Aber warum sagte die Oma denn nichts, warum half sie der Frau denn nicht, die Schlechtigkeit loszuwerden?
Schließlich sprach die Oma immer davon, dass man seinen Nächsten lieben solle, dass man immer nett und hilfsbereit sein müsse.
Möglicherweise war das ja auch ganz furchtbar ansteckend und die Oma ging der Frau deswegen aus dem Weg.

Das Mädchen war so in seine Gedanken vertieft, dass es zu spät merkte, wie die Frau sich schwerfällig neben sie auf die Treppenstufen setzte.
Entsetzt sah es sie an, sein Mund stand offen, aber es konnte keinen Ton herausbringen.
‘Hallo Kleines, ich dachte, du hast hier so ein schönes schattiges Plätzchen. Ich darf mich doch zu dir setzen? Du wohnst hier bei deinen Großeltern, nicht wahr?
Weißt du, deine Mama war eine Freundin von mir, früher, also wir Kinder waren. Jetzt haben wir uns leider aus den Augen verloren. Ich hoffe immer, dass ich sie mal sehe, wenn sie dich besucht. Wann kommt sie denn mal wieder?´

‘Bist du böse?´ fragte das Mädchen.

Die Frau sah irritiert aus. ‘Böse? Warum? Wie kommst du darauf?´

Dann bemerkte sie wohl den Blick des Mädchens, der wie gebannt auf ihren großen Bauch fiel. Die Frau runzelte die Stirn, doch dann nickte sie langsam, als würde ihr etwas einfallen und sie lächelte wieder.

‘Du weißt nicht, was das ist, nicht wahr? Sieh mal, in meinem Bauch geschieht grad´ ein kleines Wunder. In ihm wächst ein Kind. Vielleicht so ein süßes kleines Mädchen, wie du eins bist. Und ich bin darüber sehr glücklich, und ich bin stolz. Verstehst du?´

‘Tut das weh?´ - ‘Nein, das tut nicht weh. Oh, schau´ mal, hier, fühl´ ...´

Die Frau nahm die Hand des kleinen Mädchen und legte sie sich auf den Bauch. Das Mädchen fühlte, wie sich etwas in dem Bauch der Frau bewegte. Es war ein wenig unheimlich, aber die Frau lächelte und strahlte.

‘Siehst du, es bewegt sich. Es freut sich darauf, dich bald kennen zu lernen.´

Abends holte das Mädchen dann wie immer den Opa von der Gaststätte ab. An seiner Hand hüpfte es fröhlich auf und ab.

‘Opa? Ich glaube, der liebe Gott sieht auch Dinge, die Oma nicht sieht.´

Der Opa hob´ das kleine Mädchen auf seinen Arm und meinte: ‘Das hoffe ich doch, meine Süße, das hoffe ich doch.´


Birgit Enser
September 2002



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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