Gesa Birkel

Wintersonne

Sie zögert noch, dann schreitet sie auf die mächtige Tür zu, die nicht verschlossen sein würde. Warum sie gerade heute hierher kommt, weiß sie nicht. Die Tür lässt sich ganz leicht öffnen. Vorsichtig, fast ehrfürchtig, lugt sie durch den kleinen Türspalt ins Innere, dann geht sie heinein.

 

Wie schön sie doch ist. Jedes Mal wieder ist sie überwältigt von der prächtigen Ornamentik und der trotzdem dezent angeordneten goldenen Barockausstattung dieser Kirche. Der ungewöhnliche Grundriss eines weit ausgreifenden gleicharmigen Kreuzes verleiht ihr diese Weite, viel Raum, das weiße hohe kreuzförmige Deckengewölbe lässt dieses gleichzeitige Gefühl von Freiheit, Liebe und Geborgenheit in ihr aufkeimen.

 

Ihre Muskeln entspannen sich - die Schultern, die sie eben noch verkrampft bis fast zu den Ohren hochgezogen getragen hatte, beginnen sich zu lockern. „Wie ich das vermisst habe", denkt sie mit einem stillen Seufzer und einem tiefen Atemzug und blickt hoch zur Königsloge an der Südseite des Altarraums, gegenüber der Kanzel. Ja, dort will sie jetzt hinaufgehen.

 

Die Akustik in dieser Kirche ist so unglaublich, dass sie jeden ihrer Schritte intensiv wahrnimmt: "Ich sollte leiser auftreten." Unzählig schöne klassische Konzerte hatte sie hier schon erlebt.

 

Nein, sie will jetzt nicht nachdenken, jetzt nicht! Aber je mehr sie den Gedanken wegschiebt, desto stärker tritt er in ihr Bewusstsein. Kraftlos fühlt sie sich, matt, und es beginnt in ihrem Kopf zu kreisen. Er ist nicht bei ihr, der Mann, nach dem sie so lange gesucht hatte. Dass sie ihm eines Tages begegnen würde, dessen war sie sich immer sicher. Sie leben wie in verschiedenen Welten, verschiedene Städte, 1000 km voneinander entfernt. "Halte durch", sagte er zu so oft zu ihr. Ja, sie will durchhalten, aber es ist so furchtbar schwer. Vor einer Woche noch lag sie in seinen Armen, war so unbeschreiblich glücklich, dann musste er wieder fort und ließ sie hier zurück. Wie allein sie sich fühlte, konnte wohl niemand erahnen. "Ich würde auf alles verzichten, wenn ich dafür mit dir zusammen sein könnte..."  Er, er, er... "Verflucht, kannst du denn nicht mal für einen Tag aus meinen Gedanken verschwinden? Für eine Stunde? Eine Minute? Nur eine Sekunde?" Nein, sie will jetzt nicht in der Kirche fluchen!

 

Wie viele Kirchen sie in ihrem Leben schon betreten hatte, wusste sie nicht mehr. Die Christkirche war nach dem Vorbild der Holmenskirka in Kopenhagen Ende des 17. Jahrhunderts hier in Rendsburg erbaut worden, eine barocke Backsteinkirche mit gelben Pilastern. Damals gehörte die Stadt noch zu Dänemark und sie war eine Garnisonskirche. Warum sie diese fast überirdische Anziehungskraft auf sie hat, weiß sie nicht. Hier spürt sie etwas, hier ist die Energie. Die Energie, die sie jetzt so dringend braucht. Sie nimmt in der Loge nach einem stillen „Vater unser" Platz und blickt hinunter.


Der Küster tritt an den hinteren Hochaltar von 1663 heran und zündet Kerzen an. Hatte er sie bemerkt? Sie bewegt sich nicht, sitzt ganz still. Ihr Blick wandert auf wunderschöne Taufbecken mit Taufdeckel von 1700. Neulich las sie, dass die Taufschale aus Messing am Boden ein Relief der Verkündung zeigt und auf das 16./17. Jahrhundert zu datieren war. Das war ihr bei der Taufe ihres Sohnes vor einigen Jahren gar nicht aufgefallen.


Die Kälte des Winters außerhalb der Kirchenmauern ist jetzt vergessen. Sie schließt die Augen und breitet ihre Arme aus. Sofort ist es da und es scheint, als führe dieses helle Licht von oben in sie hinein und ihre Arme vergrößerten die Aufnahme. Es ist so warm, so unglaublich schön, es fängt sie auf, trägt sie, hält sie fest. Tränen bahnen sich ihren Weg und sie lässt sie laufen. Hier oben auf der Empore, zwischen Himmel und Erde, fühlt sie die göttliche Kraft und Liebe und lässt sie in sich einströmen. Es scheint, als würde sie eins mit sich, mit Gott, mit dem Leben und beginnt hemmungslos zu weinen. Alle Spannung fällt endgültig von ihr ab.

 

Warum ihr das Leben das, was sie sich am meisten sehnt, verweigert, weiß sie nicht. Eine Antwort gibt es nicht. Aber es gibt dieses Licht, die Hoffnung, mal näher, mal weiter weg, aber stets da – wie eine Verbindung, ein weißes Band in eine andere Welt. Jetzt sitzt sie in diesem Licht, das nur sie sehen kann und dankt Gott dafür. Wie gern hätte sie es mit jemandem geteilt, mit ihm.


Wie lange sie so dagesessen hatte, wusste sie nicht. Raum, Zeit und Orientierung waren wie ein Aquarell verwischt. Nach und nach öffnet sie ihre bewussten Sinne, dann ist sie wieder im hier und jetzt.

Langsam steht sie auf, sieht sich um, blickt auf die wundervolle Arp Schnitger-Orgel und die Losung des Tages:


"Ich will euch Hirten nach meinem Herzen geben, die sollen euch weiden mit Erkenntnis und Einsicht."

[Jeremia 3,15]


Aufrecht verlässt sie die Kirche und blinzelte in die Wintersonne.


Sie lächelt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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