Mark R.

Die Puppe

In seiner Wohnküche tickte die große braune Uhr mit den schweren messingfarbenen Gewichten in der Ecke neben dem Fenster unaufhörlich vor sich hin. Stündlich gab das riesige braune, aus hochwertigem Mahagoniholz mit einem Schwarzwälder Uhrwerk gefertigte Ungetüm, einen ohrenbetäubenden Gongschlag von sich. Die dünne und preiswerte Auslegeware schaffte es kaum, den Stundenschlag auf Zimmerlautstärke zu dämmen. In fünf Minuten war es wieder so weit, der Tag hatte begonnen und die Uhr würde Sieben schlagen.
Wie jeden Morgen wurde Marco schon ein paar Minuten vorher wach. Er hatte eine innere Uhr, auf die konnte er sich stets verlassen. Die wenigen Minuten bis zum Gongschlag döste er noch vor sich hin, diese kurze Zeit gönnte er sich jeden Tag. Es waren für ihn Minuten des Stillstands, Minuten in denen er kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte und er einfach an nichts, an rein gar nichts denken musste.

Marco träumte von einer Segelyacht, leicht bekleidete Mädchen lagen ihm zu Füßen und neben ihm stand ein riesiger Eimer mit gekühlten Getränken. Gerade als er sich bedienen wollte, seine rechte Hand holte sehr weit aus, stieß er dabei die noch vom Vorabend übrig gebliebene halbe Flasche Rotwein um. Erschrocken fuhr Marco hoch, sah den letzten Rest des Weines über seinen Nachttisch laufen und schaute zur Uhr. Es war mittlerweile kurz nach Acht, er hatte verschlafen. Marco riss seine Bettdecke zur Seite, sprang aus dem Bett und eilte in die Küche. Dort in der Ecke neben dem Fenster, kaum zu übersehen und so etwas wie der optische Anziehungspunkt der Küche, stand sie. Ein Erbstück seiner Großmutter, aus edlem Holz gefertigt und groß und schwer wie nur sonst was. Die goldenen Zeiger standen still. Der kleine hatte bei der Drei, der große zwischen der Sechs und Sieben schlapp gemacht.
Fassungslos stand Marco nur mit einer Unterhose bekleidet in der Küche und starrte auf die Uhr. Um ihn herum war es still, kein Ticken, kein Gongschlag und auch seitens der Nachbarn vernahm er kein einziges Geräusch. Wenn er sich sonst jeden Morgen gegen sieben Uhr seinen Kaffee frisch zubereitete, hörte er beim Erhitzen des Wassers, kurz bevor es den Siedepunkt erreichte, die Klospülung der Nachbarin. Es war für ihn schon fast zum Ritual geworden, erst dann war das Wasser zum Aufgießen bereit.
Marco stand still, regungslos und ein bisschen verwirrt in seiner Küche herum. Sein rechter Arm lehnte auf einem der vier Küchenstühle, mit dem linken kratzte er sich am Hinterkopf. Er hätte jetzt schon seit mindestens zehn Minuten auf seiner Arbeitsstelle, einem städtischen Schwimmbad,  das sich in unmittelbarer Nähe seiner kleinen Zweizimmerwohnung befand, sein müssen. Wie konnte das nur passieren?, ging es ihm durch den Kopf und seine Gedanken kreißten um seine Gruppe, für die er jeden Morgen die Türen aufschließen musste. Um kurz nach Acht kamen sechs Senioren, alle im Alter jenseits von gut und böse, gut gelaunt und voller Tatendrang zum Schwimmunterricht. Marco gab Kurse für Nichtschwimmer, ob jung oder alt, er brachte ihnen das Schwimmen bei. Die würden jetzt vor der Türe stehen, bei dem Wetter frieren und ihn, den Bademeister ohne Ausbildung, der, der einfach nur in den Job reingerutscht war, zum Teufel jagen. Er sah die einzelnen Gesichter vor sich, besonders das vom alten Professor Eichdorf, diesem Arschloch, der würde sicherlich am lautesten fluchen. Vielleicht würde ihn Ursula, seine Lieblingsschülerin, versuchen zu verteidigen, aber sie würde sich nicht durchsetzen können, auch das wusste er…
Marco kam nicht voran, er stand immer noch hilflos in der Küche und wartete auf ein Zeichen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals verschlafen zu haben. Außerdem war es ihm schleierhaft, warum die gute alte Uhr einfach stehen geblieben war. Er wusste ganz genau, dass er sie gestern Abend, so wie an jedem Abend vor dem Zubettgehen, noch mal aufgezogen hatte. Ob jetzt wohl jemand stirbt?, fragte er sich und ging im Geiste seine ganzen Freunde und Bekannten und seine Familie durch. Viele hatte er nicht mehr, an Verwandten war noch seine Tante Karla, sein Onkel Mike und irgendwo im Ausland versteckt, seine Schwester Sabine übrig. Zu allen hatte er kein wirklich gutes Verhältnis mehr, außer Sabine, sie schickte ihm jedes Jahr zu seinem Geburtstag und zu Weihnachten wenigstens noch eine Postkarte. Bei den Freunden war es noch etwas schwieriger jemanden zu finden, der ihm wirklich etwas bedeutete. Da war Mona, seine Kollegin, mit ihr war er mal ein Bier trinken. Sie hatte nach ihm die Spätschicht im Schwimmbad, für ein zweites Bier fanden sie aber einfach keinen gemeinsamen Termin. Marco hatte sich zwar eingestanden, dass wenn sie es wirklich gewollt hätten, sicher hier und dort etwas Zeit für ein Treffen gewesen wäre. Aber er war  einfach nicht der Typ, der sich aufdrängte oder auch nur den ersten Schritt unternahm. So etwas muss immer von beiden Seiten kommen, sonst ist das nichts, dachte er. Sonst kann das nichts werden…
Noch immer total unentschlossen und sich der bereits verstrichen Zeit nicht wirklich bewusst, konnte Marco keine Entscheidung treffen. Als erstes entschied er sich dafür, sich einfach nur hinzusetzten. Er schob den Stuhl ein wenig zur Seite und setzte sich. Kurze Zeit später stand er wieder auf und ging zurück in sein Schlafzimmer. Er sah den verschütteten Rotwein, der sich langsam von seinem Nachttisch hinunter bis hinter die Heizung und das Bett bewegt hatte. „Schöne Sauerei“, murmelte Marco vor sich hin und blickte unter sein Bett. Dort sah es aus, als wenn noch nie jemand ernsthaft versucht hätte, darunter sauber zu machen oder aber nur etwas aufzuräumen. Es hatte auch noch nie jemand getan, da war er sich sicher.
Er ging zurück in die Küche, ein Seitenblick natürlich auf die immer noch stehende Uhr gerichtet und nahm sich einen Schwamm aus dem Spülbecken. Marco ging zurück in sein Schlafzimmer um den verschütteten Wein aufzuwischen. In diesem Moment klingelte sein Telefon, der schrille Ton hatte ihn erschreckt. Marco blieb wie angewurzelt stehen, bewegungsunfähig und ohne auch nur irgendein Geräusch von sich zu geben, blickte er auf das Telefon. Das konnte nur jemand aus dem Schwimmbad sein, ging es ihm direkt durch den Kopf. Jemand der mächtig sauer sein würde, der seinem Ärger lautstark Luft machen wollte. Marco konnte unmöglich dran gehen, er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Das Telefon schellte und schellte, in seinen Ohren begann es zu pfeifen. Marco hielt sich beide Ohren zu, mit angewinkelten Armen und den Spülschwamm noch in den Händen stand er kerzengerade in seinem Zimmer. „Lass es aufhören“, schrie er und merkte,  wie sein Körper mit einer leichten Gänsehaut überzogen wurde. Plötzlich war es wieder still, er beruhigte sich ein wenig und bückte sich nach unten. Der Wein war bis tief unter das Bett gelaufen, er musste schon etwas von dem dort verstauten nach vorne befördern. Als erstes bekam er einen alten Schlafanzug zu fassen, mit ihm kamen ein Socken und ein total verstaubtes Mensch ärgere dich nicht  Spiel zum Vorschein. Marco wunderte sich darüber, ihm war gar nicht bewusst, dass er so etwas überhaupt besaß. Er zog es raus und fand dahinter noch mehr Unbekanntes, dabei streckte er seinen Arm immer tiefer unter das Bett. Fast ganz  hinten, schon an der Wand und ein wenig zerquetscht, bekam er einen Karton zu fassen. Er zog ihn heraus und durchstöberte seinen Inhalt. Alles irgendwelcher Kram, wunderte er sich und zog eine ziemlich in Mitleidenschaft gezogene alte Single von Prince hervor. Es war die Platte mit der legendären Nummer Purple Rain,  die er mit seiner damaligen Band „The Revolution“ aufgenommen hatte. Für Prince war dies Anfang der 80er Jahre wahrscheinlich der internationale Durchbruch gewesen, für Marco aber hatte sie eine ganz andere Bedeutung… 
Er betrachtete die Platte eingängig und fischte die kleine, schwarze  Vinylscheibe aus ihrer Hülle. Die Single sah noch gut aus, auf ihr waren keine nennenswerten Kratzer oder fettigen Fingerabdrücke zu erkennen. Dass sie aber oft abgespielt worden sein musste, konnte der geübte Plattenliebhaber schon auf den ersten Blick  erkennen. Marco kannte sich aus, er hatte bestimmt an die 1000 Platten in seinem Schrank stehen.
Je länger Marco das Cover betrachtete, desto mehr kamen in ihm schon längst verloren geglaubte Erinnerungen zurück. Auf dem Cover ist Prince mit seiner Gitarre zu sehen, auf dessen Griffbrett jemand etwas sehr persönliches geschrieben hatte:  Für meinen lieben Schatz, damit Du mich nicht vergisst. Immer wenn ich nicht da bin, sollst Du dieses Lied  abspielen….  In LIEBE Sandra
Der Text war sehr klein geschrieben und in all den Jahren auch schon etwas blasser geworden. Marco hatte echte Mühe,  die einzelnen Worte zu entziffern. Er las den Text gleich zweimal durch, etwas in seinem Kopf fing mächtig an zu hämmern. Marco stand auf und ging  in sein Wohnzimmer. Dort schlenderte er an dem Glastisch vorbei hinüber zu seiner Stereoanlage. In letzter Zeit hatte er mehr CDs als Platten gehört. Der Plattenteller seines alten Thorens – Spielers mit klassischem Riemenantrieb war von  einer heftigen Staubschicht überzogen. Marco legte den Puck, ein zusätzliches Adapterstück zum Abspielen von Singles, in die Mitte des Tellers und legte die Platte auf. Natürlich vergaß er dabei nicht, die Geschwindigkeit seines Plattenspielers auf die nötigen 45 Umdrehungen pro Minute zu stellen. Geübt war geübt… Er hatte sich damals, Anfang der 90er Jahre, schwer getan mit den neuen Silberlingen, den kleinen CDs. Marco besaß schon von klein auf eine recht ordentliche Plattensammlung. Er mochte den warmen, knisternden Sound der guten alten Vinyl Platte nie so recht eintauschen, gegen den kalten Sound einer CD.
Nach einem kurzen Knistern ertönten die ersten Akkorde der  Klampfe von Prince und sofort schweiften Marcos Gedanken ab. Gedanken verfingen sich in den Tiefen seiner gelebten, bereits in Vergessenheit geratenen Vergangenheit. Der Raum war sofort eingenommen, verzaubert und völlig elektrisiert. Bilder tauchten auf, längst vergessene Szenen aus einem anderen Leben entfalteten sich blitzschnell vor seinem geistigen Auge. Kaleidoskopartig reihten sich die Bilder aneinander, setzten sich wie einzelne Bausteine zusammen und ergaben letztendlich einen Film. Es war nicht irgendein Film, nein, es war sein Film.
Marco ließ sich in seinen Sessel zurückfallen und begann zu weinen.


Kapitel 2

Sandra war tot, sie starb an einem sonnigen Dienstagnachmittag vor drei Jahren in einer Einkaufsstrasse mitten in der Hamburger Innenstadt.
Gemeinsam schlenderten Marco und Sandra damals Händchen haltend durch die Stadt, als plötzlich, völlig unerwartet und absolut nicht vorhersehbar, ein älterer Mann vom Himmel fiel. Sandra wurde unter ihm begraben, Marco dabei nur leicht verletzt. Es hatte eine Art Knall, ein dumpfes Geräusch gegeben und dann war nur noch Geschrei. Marco sah eine große Menschenmenge um sich herum versammelt  und versuchte ihr zu entkommen. Er stand auf, verstand die ganze Aufregung nicht und entfernte sich vom Unfallort. Ziellos irrte er stundenlang durch die Stadt, in der Hoffnung irgendetwas wieder zu erkennen. Alles war ihm fremd, die Umgebung, die Menschen und auch er selbst. Krampfhaft versuchte er sich an irgendetwas zu erinnern, doch alles war dunkel. Es gab ihn nicht, er hatte keinen Namen mehr und auch kein Zuhause. Mit dem Einsetzen der Dämmerung und langsam aufkommender Kälte verlief er sich zusehends und wachte am nächsten Morgen völlig ausgekühlt und ahnungslos auf einer grünen Wiese am Elbufer auf.
Marco hatte Hunger und verspürte den sehnlichen Wunsch nach etwas zu trinken. Wieder irrte er völlig ziellos umher und landete schließlich auf einer Toilette eines Cafes direkt am Hamburger Michel. Er streckte den Kopf unter den voll aufgedrehten Wasserhahn und eiskaltes Wasser lief ihm über sein Gesicht. Er öffnete den Mund und trank so viel er konnte. Beim Blick in den Spiegel sah er einen fremden Mann vor sich. Sein Gesicht war aufgedunsen und mit tief unterlaufenden Augen gezeichnet. Krampfhaft versuchte er sich an irgendetwas zu erinnern, seinen Namen, seine Herkunft oder auch nur ein Detail aus seiner Vergangenheit. Doch da war nichts, überhaupt nichts.
Marco hatte auch nichts dabei, weder einen Ausweis noch irgendwelche Papiere. In seiner Hosentasche fand er nur etwas Geld, er zählte es zusammen und kaufte sich beim Hinausgehen ein Brötchen. Wieder zählte er sein Geld und verstaute die knapp 100 Euro tief in seiner Hosentasche. Immer wieder versicherte er sich durch das erneute Abtasten seiner Taschen der Gewissheit, das Geld noch bei sich zu haben.
Die nächsten Stunden irrte er wieder ziellos umher in der Hoffnung, irgendeine Erinnerung würde ihn zurück ins Leben werfen. Beim Studieren eines Busfahrplanes sprach ihn plötzlich eine ältere Dame an.
„Herr Tillmann, wie geht es ihnen?“
Völlig erschrocken blickte Marco die fremde, gut gekleidete Dame vor ihm an und begann zu rätseln, ob der Name Tillmann wohl sein eigener war.
„Gut, soweit ganz gut“, sagte er.
„Sie sehen aber gar nicht gut aus“, bemerkte die ältere Frau.
„Wissen sie, ähm, wie soll ich sagen, woher kennen wir uns?, fragte Marco jetzt gerade heraus.
„Wie bitte? Sie kennen mich nicht? Her Tillmann, wir arbeiten zusammen. Man hat sie heute vermisst. Im Büro hat man sich schon Sorgen gemacht.“
„Sagen sie mal, kennen sie eigentlich meine Eltern?, fragte Marco ohne eigentlich darüber nachzudenken.
„Ihre Eltern? Ich dachte die leben in Köln? Ist wirklich alles in Ordnung mit ihnen?“
„Ist es weit bis nach Köln?“, konterte Marco und merkte dabei, wie ihm schummrig vor den Augen wurde. Seine Umgebung fing an sich zu drehen, die ältere Dame verschwamm vor seinem Auge und plötzlich war alles schwarz. Marco fiel um, schlug mit dem Kopf auf das Pflaster und wachte später in einem Hamburger Krankenhaus wieder auf.

Das war jetzt genau drei Jahre her. Marco hatte jegliche Erinnerung an Hamburg, seine Verlobte Sandra oder aber an seine Arbeit, er war bei der Post beschäftigt, verloren. Nachdem die Ärzte ihm im Krankenhaus eine schwere Amnesie, hervorgetreten durch einen plötzlichen Schock, bescheinigt hatten, hatte er kurzerhand, mangels auch nur irgendeiner Erinnerung einer gelebten Vergangenheit, die Stadt gewechselt. Marco war zurück zu seinen Eltern nach Köln gezogen und wohnte dort zurückgezogen, im gleichen Wohnhaus, eine Etage über ihnen.

Kapitel 3
 
Es war schon spät, viel zu spät. Noch zweimal hatte das Telefon geschellt, Marco war nicht dran gegangen. Er fühlte sich nicht in der Lage jetzt noch zum Schwimmbad zu fahren. Die plötzliche Erkenntnis, Sandra, seine erste große Liebe, aus den Tiefen seiner längst vergessenen Vergangenheit hervorgeholt zu haben, hatte ihn vollständig gelähmt. Er sah sie genau vor sich, die ganze gemeinsam verbrachte Zeit entfaltete sich vor seinem geistigen Auge. Tausend Erinnerungen suchten sich den Weg nach vorne, wollten noch einmal durchlebt werden. Es war wie früher, als wäre  sie niemals fort gegangen.
Bewegungslos saß Marco immer noch in seinem Sessel. Sein Gesicht war Tränen verschmiert und neben ihm  stand eine mittlerweile kalt gewordene Tasse schwarzer Kaffee. Marco hatte noch nicht einmal daran genippt, beim Anheben der Tasse hätte er sowieso die Hälfte verschüttet. Eine Gänsehaut überzog seinen Körper, seine Hände zitterten stark.

Gegen Nachmittag verließ Marco seine Wohnung und schlenderte ziellos durch die Kölner Innenstadt. Völlig orientierungslos und mit seinen Gedanken ganz woanders, beschäftigt und verfangen in einem anderen Leben,  erblickte er auf der anderen Straßenseite ein hell erleuchtetes Schaufenster und darin eine wunderhübsche Frau. Sofort überquerte er die Strasse und blieb fassungslos vor dem Modegeschäft und dessen Schaufenster stehen. „Sandra“, rutschte es aus ihm heraus und seine rechte Hand schnellte blitzschnell hervor.  Nur durch die dicke Scheibe des Schaufensters wurde er am Zupacken gehindert. Ein kurzer Schmerz durchzuckte seinen Handrücken, eine ältere Dame, wahrscheinlich die Verkäuferin, blickte  etwas verstört und auch ein wenig ängstlich von innen nach außen. Sie gestikulierte etwas in seine Richtung, Marco stierte immer noch völlig gebannt auf die Schaufensterpuppe. Genauso hat sie ausgesehen, dass ist sie, ging es ihm durch den Kopf.  Ihre langen braunen Haare, ihre feminine Figur und auch ihr Gesicht, es bestand kein Zweifel. Marco hatte sie wieder gefunden, Sandra, nur durch eine Scheibe getrennt,  sah er jetzt ganz klar vor sich stehen. Sie gehörte zu ihm,  unmöglich konnte er sie hier zurück lassen.
Marco öffnete die Tür des kleinen Modegeschäftes, eine schrill bimmelnde Glocke verriet ihn beim Eintreten. Sofort kam die Verkäuferin auf ihn zu, etwas verlegen aber auch irgendwie ein wenig zu  ängstlich, wie Marco befand, fragte sie ihn:
 „Kann ich ihnen helfen?“
„Ja, eventuell, ja das können sie. Ich möchte diese Puppe kaufen, so wie sie im Schaufenster steht. Was kostet sie? Wie lange steht sie schon hier?“
„Ähm, die ist leider nicht zu verkaufen. Tut mir leid, aber sie muss hier bleiben.“
„Hören sie, ich möchte jetzt nicht lange drum herum reden. Sagen sie mir einen Preis, ich bin sehr eilig. Ich werde bezahlen, was sie wünschen, nur sagen sie mir einen Preis. Hier ist meine EC-Karte, bitte nehmen sie.“
„Warum möchten sie denn die Puppe kaufen? Was wollen sie denn damit?“
„Das ist meine Sache, verstehen sie? Also, bitte nennen sie mir den Preis. Alles hat seinen Preis, auch diese Puppe hier“, insistierte Marco und merkte, wie er die Verkäuferin immer mehr einschüchterte.
„Gut, sagen wir 500, keinen Cent weniger“
Etwas erstaunt über die doch unerwartete, dafür aber schnelle und präzise Antwort der Verkäuferin, hielt  Marco ihr nochmals seine Karte hin und sagte: „Geht klar. Bitte, buchen sie es ab.“

Keine zehn Minuten später war er schon wieder auf dem Heimweg. Mit der Schaufensterpuppe unter dem Arm, vorbei an komisch dreinblickenden Menschen, ging Marco eiligen Schrittes nach Hause. Die ganze Zeit ging ihm immer nur eines durch den Kopf. Jetzt war er nicht mehr allein, sie war wieder da. Seine erste große Liebe, befreit und hervorgekramt aus den Fängen einer längst vergessenen Vergangenheit und einer trostlosen Gegenwart, war sie zu ihm zurückgekehrt…


Kapitel 4

In den folgenden Tagen fühlte Marco sich völlig losgelöst, frei von irgendwelchen Zwängen und war mit sich und seiner Umwelt, sofern er die überhaupt noch wahrnahm,  sehr zufrieden. Er war jetzt nicht mehr allein. Sandra saß in seinem Wohnzimmersessel, während er ununterbrochen auf sie einredete. Marco ging jetzt schon seit einer Woche nicht mehr seiner Arbeit nach, er hatte seinem Arbeitgeber, dem Schwimmbad, auch keine Krankmeldung oder irgendeine Art Erklärung zukommen lassen. Ein paar mal hatte sein Telefon noch geläutet. Marco hatte sich stets geweigert den Hörer abzunehmen um irgendwem, irgendeine Erklärung abzugeben. Ihm war es egal, was die bei der Arbeit über ihn dachten. Ihm war es egal, was überhaupt jemand von ihm dachte. Es zählte nur das Hier und Jetzt, die Rückkehr seiner Verlobten und sonst nichts…

Marco wühlte tief in seinen Erinnerungen, besprach mit Sandra ihre gemeinsame Vergangenheit und durchlebte die schon längst verloren geglaubten Jahre noch einmal. Dabei bemerkte er, wie beschissen, wie unglaublich elend er sich die letzten Jahre gefühlt haben musste. Er war die ganze Zeit allein gewesen, ohne irgendeine Freundin, ohne einen richtigen Freund, einfach nur allein. Die einzige Abwechslung die er in den letzten Jahren hatte, war der tägliche Gang zum Schwimmbad. Aber an den Abenden und den langen Wochenenden hatte er niemanden zum Reden, niemanden mit dem er hätte etwas unternehmen können. Ihm fehlte ein Freund, eine Freundin, ja, ihm fehlte auch jemand fürs Bett.  Jetzt war alles anders, Sandra war zurück, sie hörte ihm zu und er merkte, wie ihm das die ganze Zeit über gefehlt hatte. Auch über Sex sprach er mit ihr, Marco war sehr verunsichert, traute sich kaum, sich vor ihr auszuziehen. Er hatte Angst davor, sie könne ihn auslachen, er könne eventuell etwas falsch machen oder ihr einfach nur wehtun. Sandra saß in ihrem Sessel, immer noch trug sie ihren beigefarbenen Pullunder mit der weißen Bluse und den dunklen Rock dazu.
Marco hatte sich noch nicht getraut, sie zu berühren, sie umzuziehen.

Der Briefkasten quoll über, schon vor Marcos Wohnungstür stapelten sich die Wochenzeitschriften und sein Telefon läutete fast ununterbrochen. Marco fühlte sich zunehmend überfordert, er schottete sich immer mehr von seiner Außenwelt ab. Allmählich gingen ihm gar die Gesprächsthemen mit Sandra aus. Er merkte, wie er sich im Kreis bewegte, wie er sich wiederholte und zunehmend auf eine Antwort ihrerseits wartete…
„So kann es nicht weitergehen. Wir sind zu jung, um einfach nur hier rum zu sitzen. Wir müssen wieder gemeinsam etwas erleben, so wie früher. Gemeinsam lachen, ausgehen und Spaß haben. Was meinst du?, fragte er Sandra zum wiederholten Mal. Immer in der Hoffnung, irgendeine Antwort aus ihr herauszuholen.
Es dauerte noch ein paar Tage, da fasste Marco einen Entschluss…

 

Kapitel 5

 

Gegen Abend, kurz nach 18 Uhr, verließ Marco zusammen mit Sandra seine Wohnung. Erst jetzt merkte er, wie sehr ihm die frische Luft in der letzten Zeit gefehlt hatte. Marco hatte bestimmt schon seit zehn Tagen seine Wohnung nicht mehr verlassen. Sandra war fest unter seinem Arm geklemmt, er setzte sie auf seinen Beifahrersitz, jedoch ohne den Sicherheitsgurt um sie herum zu legen.
Marco startete den Motor und wendete seinen Wagen aus der für seine Verhältnisse – er konnte nicht gut ein oder ausparken – viel zu kleinen Parklücke.
Aus dem Stand schnellte der Zeiger des Tachos in nur ein paar Sekunden von Null auf mindestens 80 Sachen…Marco bewegte den Wagen wie in Trance und trat das Gaspedal voll durch. Die Ampel zeigte gelb, das Licht wurde immer dunkler und Marco trat weiterhin voll drauf. Lang kam es ihm vor, nach einer Ewigkeit wechselte die Farbe in ein tief dunkles Rot über. Es war zu spät zum Bremsen,  sein Wagen flog wie ein Raumschiff in der Schwerelosigkeit auf die mit Rot gekennzeichnete Kreuzung zu.
Das Lenkrad fest mit beiden Händen umklammert, das Bein voll durchgestreckt und einem lauten Schrei von sich gebend, zielte Marco mit bestimmt 100 km/h wie ein abgeschossener Pfeil völlig gerade und absolut verboten über die rote Linie und knallte mit einem von rechts kommenden „SUV“ zusammen. Sein Wagen wurde dabei nach links abgedrängt, der große und völlig übertriebene Kuhfängerbügel seines auf Geländereifen und für die Nashornjagd gefertigten Unfallgegners,  spießte den alten Kadett förmlich auf seine Hörner. Marco verlor jegliche Kontrolle,  ehe er gestärkt durch die enorme Fliehkraft sich allein auf einen grünen Abhang zu bewegte. Marco merkte noch, wie er eine  grüne Wiese nur Zentimeter an sich vorbei huschen sah und ein in Augenhöhe kleiner Terrier plötzlich wie von einer Tarantel gestochen seitlich seines heran nahenden Autos zur Seite sprang. Alles lief ab, wie in einem schlechten Film. Völlig geräuschlos bewegte sich sein Wagen in eine für ihn unbekannte Richtung, bis hin zu einem dumpfen Knall, dann war alles schwarz.
Es muss eine Ewigkeit gedauert haben, Marco merkte nur, wie ihm völlig fremde Menschen aus einem auf den Kopf liegenden Auto verhelfen wollten. Um ihn herum waren mindestens an die zwanzig Helfer, so kam es ihm jedenfalls vor, die alle wild durcheinander am Wagen rüttelten oder einfach etwas durch die zerbrochene Scheibe brüllten. Marco wusste sich nicht zu helfen, er sah nur zu seiner Rechten eine in tausend Teile zersprungene Puppe und fing fürchterlich an zu lachen…

Als Marco eine Woche später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kaufte er einen großen Blumenstrauß und eine Zugfahrkarte zweiter Klasse nach Hamburg. Er fühlte sich gut, bereit für einen Trip in die Vergangenheit und war auf dem Weg zu Sandras Grab.

ENDE

 


 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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