Johannes Seipel

Er war der Größte

 

Er war ein Verlierer rund um die Uhr. Die größte Niete seiner Zeit. Frauen gingen ihm aus dem Weg und Männer waren froh, nicht er zu sein.


Nicht viele Menschen kannten diesen Mann. Doch diejenigen, die schon vor ihm ausgespuckt hatten, würden ihn wohl bald auch mit Ohrfeigen und Fußtritten traktieren.


Sein Name war Gerd, und Rosi ahnte, dass ihr mit diesem Mann – nicht groß, nicht klein, nicht schlank, nicht dick, dafür aber mit einem leeren Gesicht - der ideale Partner begegnet war. Und heute, wenn sie ihn auf der Müllhalde träfe, sähe sie ihn sich genauer an.


Rosi selbst, von Frauen verachtet, von Männern ausgebeutet, vom Dasein gequält, begegnete in Gerd einem Menschen, der es offensichtlich verstand, jeden Tag in Schmutz und Dreck, mit wenig Essen, doch ausreichend Rotwein, zu überleben. Und wenn sie sich an ihn hänge, besäße sie einen Beschützer und vielleicht auch ein viel längeres Leben.


An diesem hellen Sommerabend war Rosi die erste an dem vereinbarten Treffpunkt Müllhalde. Ihr machte es nichts aus, warten zu müssen. So konnte sie wenigstens die Hände an ihrer abgetragenen Kleidung säubern. Auch das verschwitzte graue Haar musste etwas in Form gebracht werden. Und da Rosi bisher nichts zu lachen hatte und auch heute dafür keinen Grund erkennen konnte, würde ihr Partner ihre Zahnlücken nicht bemerken, aber auch nicht die gelbgraue Farbe der ihr noch verbliebenen Beißer.


Gerd war plötzlich da und Rosi wertete das gerade noch als pünktlich. Und er schien sogar etwas mitgebracht zu haben. Aus der alten Plastiktüte kramte er ein halbes altes Brot hervor.

Ist luftgetrocknet“, kommentierte er seine Gabe, „und deshalb noch nicht verschimmelt. Doch dafür eben ein bisschen hart.“

Egal!“, krächzte Rosi, „ich habe eine Flasche Wasser dabei, damit können wir es weich machen.“

Dich und deine Flasche Wasser schickt mir der Himmel“, freute sich Gerd, „konnte nämlich heute im Supermarkt kein Getränk abstauben.“


Gerd schien diese Bemerkung irgendwie lustig zu finden, denn er begann nun mit weit offenem Mund laut zu lachen, so, dass die Möwen erschreckt aufflogen. Rosi genügte ein Blick in Gerds offene Mundhöhle. Um Gottes Willen, der hat ja noch weniger im Maul als ich. Dem muss ich das Brot zu Brei einweichen.


Gerd schien auf dieses Mahl vorbereitet zu sein. Denn er kramte aus seiner Tüte plötzlich ein Essbesteck. Zwei große Muschelschalen.

Habe doch an alles gedacht“, sagte er zu Rosi, „damit können wir den Brotbrei gut löffeln.“

Nachdem Rosi gerülpst hatte, meinte sie: „Brei essen ist gut, da klauen wenigstens die Möwen nichts.“

Wäre für die aber auch nicht schlecht, der Brotbrei“, meinte Gerd nun.

Wieso denn das?“, erkundigte sie Rosi neugierig und reinigte ihre wenigen Zähne mit einem Holzstäbchen, das sie neben sich auf der Müllhalde gefunden hatte.

Weil Möwen auch allerlei Unrat im Magen haben“, belehrte Gerd seine Partnerin, „genau wie wir Menschen. Und der Brotbrei saugt alles auf und der Darm führt es dann ab.“


Was der Gerd alles weiß, wunderte sich Rosi. Ob der mich wohl auch als Frau wahrnimmt? Ein Versuch kann ja nicht schaden. Und deshalb rückte Müll-Rosi jetzt ganz dicht an ihren Partner heran.

Findest du mich attraktiv?“, flüsterte sie Abfall-Gerd ins Ohr, „ich hätte nichts dagegen, wenn du ein bisschen nett zu mir wärst.“


Gerd erhob sich langsam und sah Rosi lange in die trüben und vom Elend des Lebens gezeichneten Augen.

Ich bin nur nett zu mir selbst“, meinte er dann, „und deshalb werde ich dich nun verlassen.“

Rosi bettelte: „Bleib hier. Ich wollte dich doch nicht bedrängen. Dachte, dir gefällt so etwas.“

Schon lange nicht mehr, Müll-Rosi“, entgegnete Abfall-Gerd.

Und was soll jetzt aus uns werden?“, wollte Rosi wissen.

Aus uns gar nichts“, erwiderte Gerd, „nur aus mir wird wieder der alte werden. Ich geh‘ zurück in die Redaktion und schreibe dort eine Reportage über das Leben auf einer Müllhalde.“


Jetzt ging der Rosi ein Licht auf.

So ist das!“, kam es hohl aus ihrem fast zahnlosen Mund, „du bist ein Zeitungsschreiberling.“

Journalist, Rosi. Ich bin Journalist“, verteidigte sich Abfall-Gerd.

Und wir werden uns dann nie wiedersehen?“, Rosi standen Tränen in den Augen, „du hast mich also nur für deinen Bericht gebraucht.“

Nicht gebraucht, Rosi. Recherchieren nennt man so etwas.“


Gerd wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um und sagte: „Für den Bericht werde ich ein gutes Honorar erhalten. Die Hälfte davon bekommst du.“

Rosi schluckte erst, begann dann jedoch herzzerreißend zu weinen.

Ich hoffe, ich seh‘ dich noch einmal wieder, Abfall-Gerd. Sag mir vorher Bescheid. Dann werde ich mich besonders hübsch für dich machen.“


© 02.07.2007 joLepies



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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