Karin Ernst

Das Wochenende

Beim Frühstück gießt sich Antje eine Tasse Kaffee nach.

"Möchtest du auch noch eine?" fragt sie ihren Mann Gunnar.

"Gerne", nickt dieser und schaut kurz von seiner Zeitung hoch.

"Schatz", unterbricht sie ihn wiederum, "du weißt doch, dass ich an diesem Wochenende nicht zu Hause sein werde? Ich wollte dich nur noch einmal daran erinnern."

Gunnar faltet die Zeitung endgültig zusammen, sieht auf die Uhr.

"Ja, ich habe es im Kalender gesehen. Er liegt doch auf dem Schreibtisch. Außerdem ist es wie in jedem Jahr."

Antje lächelt entspannt.

"Na ja, ich wollte dich nur noch einmal daran erinnern."

Gunnar schaut seine Frau überrascht an. Heute wirkt sie recht munter. Selten ist sie morgens gleich ansprechbar. Beinah entspannt sieht sie aus, mit einem fröhlichen Lächeln um die Augen.

"Ist irgendetwas mit dir? Hast du eine neue Frisur?"

Er sieht genau hin, aber die ersten grauen Haare sind noch vorhanden. `Die Jahre sind nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Aber auch ich werde nicht jünger`, überlegt er.

"Nein, ich war nicht beim Friseur", antwortet Antje und denkt: 'Das macht die Vorfreude.'

 

Einige Minuten später zieht Gunnar sein Jackett an, nimmt seinen Aktenkoffer und verabschiedet sich von Antje. "Tschüss. Ich wünsche dir ein schönes Wochenende."

Antje gibt ihm einen Kuss. Gunnar wundert sich und sieht sie erstaunt an. `Was ist bloß mit ihr los?`

Dann öffnet sie die Wohnungstür und antwortet lächelnd: "Das wünsche ich dir ebenfalls." Beschwingt schließt sie die Tür hinter ihm.

 

Vom Küchenfenster aus winkt sie ihm noch zu, bis er ins Auto eingestiegen ist. Als er los fährt, wendet sie sich vom Fenster ab. Innerhalb kurzer Zeit räumt sie die Küche auf. Sie hat jetzt Wichtigeres zu tun, als sich um langweilige Hausarbeit zu kümmern. Die kann warten.

 

Antje geht ins Wohnzimmer und kniet sich vor den Wohnzimmerschrank, indem sie ihre CDs untergebracht hat. Ganz hinten in der Ecke findet sie die, nach der sie sucht: Blue Spanish Eyes. Ach, wie haben sie diese Musik geliebt. Sie legt die CD in den Player und stellt ihn laut. Während sie langsam durch den Raum schwebt, erinnert sie sich, wie sie getanzt haben, damals. Sie hat sich an ihn geschmiegt, verschmolzen zu einer Einheit. Ihre Füße schienen sich von ganz allein über den Boden zu bewegen. Es kommt ihr vor, als fühle sie seine Hände über ihren Rücken streichen, langsam, ganz sanft. Sein Gesicht kommt ihrem näher. Sie tanzen Wange an Wange.

 

'Ich sollte aufhören zu träumen', ruft sich Antje zur Ordnung, stellt den Apparat leiser und geht ins Schlafzimmer. Die Hülle der CD nimmt sie direkt mit, damit sie die Lieblingsmusik auf keinen Fall vergisst. Hier holt sie ihren kleinen Koffer, der ganz oben auf dem Kleiderschrank liegt, herunter und öffnet gezielt ihren Kleiderschrank. Wie jedes Jahr weiß sie, was sie einpacken möchte. Das weinrote Samtkleid hatte sie bereits gestern Abend zum Lüften auf den Balkon gehängt. Sie ist froh, dass es nach all den Jahren noch passt. Es wird ihm gefallen. Erinnerungsfetzen fliegen zu ihr. `Die Farbe deines Kleides passt herrlich zu diesem Rotwein, mein Liebes.` Ein Kuss auf den Haaransatz öffnet alle Sinne in ihr ...

 

Plötzlich fällt Antje noch etwas sehr Wichtiges ein: die Perlenkette!

'Die darf ich auf keinen Fall vergessen, sonst wirkt das Kleid nicht.'

Die Erinnerung kehrt zurück, wie er ihr die kühle Kette umgelegt hatte. `Perlen lassen deine Haut schimmern wie Seide.` ... Zart hatte er ihren Hals berührt ... Sie reißt sich von ihren Träumen los. Die Schatulle, in der sie die Kette aufbewahrt, findet sie in ihrem Wäscheschrank. Wann sonst hat sie Gelegenheit, Perlen zu tragen? Sehr selten.

 

Nun das Parfüm. Das Echte. Nicht das Eau de Toilette, das sie sonst benutzt. Es war ein Weihnachtsgeschenk. Selten hat sie so etwas Kostbares bekommen. Vorsichtig packt sie den kleinen Flakon in ihr Köfferchen.

 

Aus einer Schublade holt sie etwas hervor, das in Seidenpapier eingepackt ist. Vorsichtig wickelt sie es aus. Ein malvefarbenes seidenes hauchzartes Negligé kommt zum Vorschein.

`Wann kann ich sonst so etwas anziehen?`, überlegt sie. Zögernd hält sie es sich vor ihren Körper. 'Ja, das soll es sein', freut sie sich und packt das Negligé zielstrebig in den Koffer.

 

Nun geht’s hurtig an die restlichen Sachen. Kultur- und Schminktäschchen, Wäsche, allerlei Kleinigkeiten. Nur die Pumps, die sie jahrelang zu dem hübschen Kleid trug, gibt es nicht mehr. Stattdessen hat sie bequemere, elegante Lackschuhe gekauft. Das Äußere soll zum nächtlichen Kerzenlichtdinner stimmig sein. 'Hinterher vielleicht Tanz in der kleinen Hotelbar.' Schon wieder träumt sie vor sich hin. Dann fällt ihr der tragbare CD-Player ein. Ohne ihn können sie die gemeinsame Musik nicht hören. Er findet sich im Flurschrank.

 

Nach dem Packen zieht Antje sich aus und nimmt ein herrliches Schaumbad. Sie wäscht sich die Haare und macht eine Haarkur. Hinterher reibt sie ihren Körper von oben bis unten mit einem duftenden Körperöl ein. Alles soll perfekt sein. Als sie im Bad fertig ist, schlüpft sie in ihren bereitgelegten Hosenanzug und begutachtet sich noch einmal im Spiegel. Ja, mit dem Ergebnis kann sie zufrieden sein. Ihre Figur hat sich in den all den Jahren nur unmerklich verändert.

Na ja, die paar Falten werden wir übersehen, schmunzelt sie. Wie ich mich freue.

 

Als letztes packt sie die CD aus dem laufenden CD-Player in ihren Koffer und klappt ihn zu. Nachdem sie die Wohnung kurz überprüft hat, ruft sie Gunnar im Büro an.

"Ich fahre gleich. Wirst du auch zurecht kommen?"

"Das weißt du doch. Ich komme klar. Fahr du nur. Auf Wiedersehen", antwortet ihr Mann.

 

Er lächelt in sich hinein.

Vorfreude breitet sich aus.

Darauf, sich an diesem freien Wochenende mit seiner Geliebten zu treffen. Sie wird sich freuen, dass er viel Zeit für sie hat.

 

Nachdem Antje den Hörer aufgelegt hat, wählt sie erneut und bestellt ein Taxi. Ihr Herz beginnt, heftiger zu klopfen.

Hoffentlich wird's so schön wie immer, sinniert sie, nimmt ihre Handtasche und den Koffer und verschließt die Wohnungstür.

Das Taxi bringt sie zum Bahnhof, wo sie in einen Schnellzug steigt.

 

Nach zwei Stunden erreicht sie eine malerische Kleinstadt. Hier hatten sie sich vor über 20 Jahren kennen gelernt.

Vom Bahnhof aus geht sie zu Fuß. Der Weg führt durch einen hübschen kleinen Park. Beflügelt von der Vorfreude auf dieses Wochenende beschleunigt sie ihre Schritte. `Vielleicht erwartet er mich schon`, überlegt sie.

 

In einem romantischen kleinen Hotel wird sie freundlich begrüßt.

"Wie immer, gnädige Frau?", fragt der Portier lächelnd, als sie schwungvoll durch die Drehtür die Hotelhalle betritt.

"Selbstverständlich", antwortet Antje. "Wie jedes Jahr."

 

Während sie die Anmeldung ausfüllt, fragt sie leise: "Ist er schon eingetroffen?"

"Ja, gnädige Frau. Ihr Mann ist eine halbe Stunde vor ihnen angekommen", entgegnet er und reicht ihr mit einer Verbeugung den Zimmerschlüssel. `Ein nettes Paar`, denkt er.

 

Freudig erinnert sich Antje an die Abmachung, die sie und Gunnar vor einigen Jahren gemeinsam getroffen haben.

 

Zur Auffrischung ihrer Beziehung treffen sie sich.

Wie zwei Verliebte.

Einmal pro Jahr.

Ein Wochenende lang.

In diesem wunderschönen kleinen Hotel in der Stadt, in der sie sich kennen gelernt haben.

Vor vielen Jahren.

 

Der Portier sieht ihr lächelnd nach, als sie rotwangig vor Erregung die Treppe nach oben besteigt. Flotten Schrittes ...

 

 

 

 

 

 

 

(c) Karin Ernst

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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