Stefanie Beck

Das Bild

 

Die folgende Geschichte trug sich zu, als ich Museumswärter bei einer Londoner Kunstausstellung war. Ich war mal wieder knapp bei Kasse und hatte über einen Freund, der eine renommierte Kunstgalerie betrieb und den Museumsdirektor kannte, glücklicherweise die Stelle vermittelt bekommen.

Es war kein besonders aufregender Job und daher auch kein übermäßig gut bezahlter. Man musste einfach nur den ganzen Tag an seinem Posten stehen oder – in einem Maximalbewegungsspielraum von fünf Metern – auf- und abgehen. Oder man lief Kreise: kleine Kreise um das zu bewachende Objekt und große Kreise, um seine Runden durch die Ausstellungsräume zu drehen.

Auf diese Weise kam ich zu einer umfassenden Schulung meines künstlerischen Auges, beziehungsweise, ich lernte, was unter dem Begriff „Kunst“ alles möglich ist. Heute noch kann ich die Lebensläufe sämtlicher moderner Künstler, die auf mattweißen Glastäfelchen mit schwarzem Text unter den Gemälden platziert sind, auswendig. Seither weiß ich auch, dass Museumsaufseher ein äußerst wichtiger Beruf ist, denn man kann sich heutzutage nicht einmal mehr bei der Benutzung eines Mülleimers sicher sein, dass dieser tatsächlich ist, was er zu sein scheint und nicht etwa ein modernes Kunstwerk.
Wie dem auch sei, eines nicht so besonders schönen Samstagmorgens jedenfalls, als ich nach der zweiten oder dritten Tasse Kaffee zu meiner ersten Runde aufbrach, fiel mir auf, dass alle Säle, die ich durchquerte, so gut wie verlassen waren. Wäre es Montag gewesen – ich hätte mich nicht weiter gewundert und mir einfach noch einen Kaffee geholt. Nein, das Auffällige war, dass an Wochenenden – ganz besonders dann, wenn das Wetter auf den meisten Gemälden sympathischer wirkt als das vor dem Fenster – bei den Menschen normalerweise mit einem Mal das Interesse an der Kunst zu erwachen scheint. Binnen der ersten zwei Stunden geht es dann zu wie auf dem Jahrmarkt, abgesehen natürlich von dem erdrückenden und künstlichen Schweigen, das wie ein Gewitter in der Luft hängt. Keiner traut sich, laut zu sprechen, und dann reden sie doch alle miteinander, bis das Gemurmel zum Summen eines angriffslustigen Bienenschwarms heranwächst.
An besagtem Samstagmorgen aber war alles ruhig. Mit jeder Ecke, um die ich meine Nase steckte, kam ich mir mehr vor wie ein Polizeispürhund, der eine Spur verfolgt, der kurz davor ist, etwas zu finden – ich wusste nur nicht, was. Ich durchschritt einen Raum nach dem anderen und in jedem von ihnen erwartete mich dasselbe: ein oder zwei verstreute Besucher, die entweder mit regem Interesse den Text auf den mattweißen Täfelchen studierten, die Kunstwerke auf sich wirken ließen oder sich zumindest bemühten, so auszusehen als ob. Oder eben solche, die mit selbstgefälligem Kennerblick und hinter dem Rücken ineinandergefalteten Händen vor den Ausstellungsobjekten stehen und hin und wieder nach rechts und links schielen, ob auch ja jeder merkt, wie viel Ahnung sie haben – und falls keiner guckt, lüpfen sie die Nase noch ein Stück höher und lassen ein gekränktes Hüsteln hören.

Ich hatte beinahe alle Ausstellungsräume kontrolliert, es war nur noch einer übrig, der größte und letzte. Bereits wenige Schritte vor dem Durchgang vernahm ich einiges Stimmengewirr und Unruhe. Als ich um die Ecke bog und den großen Saal betrat, fand ich mich vor einer Menschentraube aus etwa zwanzig Leuten wieder, die sich mitten im Saal gebildet hatte. Da ich nichts Genaues zu erkennen vermochte, trat ich näher ans Geschehen und erblickte inmitten der seltsamen Ansammlung meinen Freund, den Galeriebesitzer, emsig gestikulierend und mit den Umstehenden diskutierend. Erst da fiel mir auf, dass es sich bei den übrigen Leuten um bekannte Kunstverständige und studierte Professoren handelte, die in ein eifriges Streitgespräch verwickelt waren. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit hing ein neues Bild, das ich noch nicht kannte. Vermutlich hatte mein Freund es dem Museumsdirektor gerade erst verkauft.

Vor dem Gemälde stand ein wenig unbehaglich ein Mann, sein Sektglas so fest umklammert, dass die Knöchel seiner Finger weiß hervortraten und ich mit dem klirrenden Zersplittern des Glashalses rechnete. Er war nicht anders gekleidet als die Herren, die ihn umringten, doch gelang es ihm nicht, sich nahtlos in die Schar der Anzugträger einzureihen. Irgendetwas machte den feinen Unterschied. Irgendetwas – vielleicht war es sein Krawattenknoten, seine Körperhaltung, die Art, wie er sein Haar zu einem halbwegs glatten Seitenscheitel gebändigt hatte – jedenfalls erkannte ich in ihm sogleich den Schöpfer des Bildes.

Sobald eine Lücke zwischen zwei Professorenköpfen den Blick freigab, konnte ich den Aufruhr nachvollziehen, denn ich wurde sogleich wie magisch von dem Gemälde gefesselt. Ich kann nicht genau beschreiben, was das Motiv darstellte. Würde mich jemand fragen, was darauf abgebildet war, so würde ich sagen: Nichts. Und Alles. Gleichzeitig.

„Das ist eine wundervolle, surrealistische Pfingstrose“, bemerkte einer der Professoren gerade mit einem anerkennenden aber eisigen Lächeln in Richtung des Künstlers.

„“Quatsch! Das ist ein Sonnenuntergang!“, fuhr ihm ein Kunstverständiger ins Wort.

„Aber so ein Unsinn!“, schnaubte ein anderer, ein Dicker mit Glatze, „Pfingstrose! Sonnenuntergang! So ein Kitsch! Das ist eindeutig ein Pferd, sehen Sie nicht das Auge, da oben rechts?“

„Blödsinn!“, protestierte sogleich ein dritter, „da sind zwei Augen. Das ist eine Eule. Eine abstrakte Eule im Stile des späten Impressionismus, habe ich Recht?“

Bei der dicken Nickelbbrille, die den hageren Mann von der Welt abschirmte, konnte ich mir sogar vorstellen, dass er sah, was er sah. Ich hingegen hätte nicht zu definieren gewusst, was auf dem Bild zu sehen war. Es glich in keinster Weise dem, was ich jeden Tag sah. Es hatte auch keinerlei Ähnlichkeit damit, wie es aussieht, wenn Künstler sich mit Farbe übergießen und über eine Leinwand rollen oder einmal Pizza und einmal Hähnchen süß-sauer auf die Tischdecke klatschen und das Ergebnis dann rahmen lassen. Es war anders.

Während ich vergeblich nach dem Titel des Bildes suchte, hörte ich mir das gänsegleiche Geschnatter der Intellektuellen an, wie sie über die Details des Kunstwerks fachsimpelten und es dabei in seine Einzelheiten zerlegten. Mir entging auch nicht, dass sich die Kiefer des Künstlers zunehmend anspannten unter der Anstrengung eines freundlichen Lächelns. Er stand einfach nur da, bemüht, die ihn umgebende Meute zu ignorieren, während sich sein Blick verfinsterte und seine Hand verkrampfte.

Den diskutierenden und zankenden Herren galt seine Anwesenheit offenbar so wenig wie seine Meinung: Ein jeder wollte Recht haben, war überzeugt davon, seine Version sei die einzig wahre, weshalb er den anderen gar kein Gehör zu schenken brauche, und stetig wurden neue Thesen in den Raum geworfen. Irgendwann schließlich erbarmte sich mein Freund, der Galerist, und sprach den Künstler an: „Sagen Sie, was ist das denn nun, auf dem Bild?“

Der Mann warf einen vielsagenden Blick in die Runde, ehe er sagte: „Fragen Sie ihn!“

Ich stand so im Bann des Gemäldes, dass ich der Situation erst gewahr wurde, als all die Professoren und Sachverständigen plötzlich verstummten und mich erwartungsvoll fixierten. Ich erschrak, als ich die Geste des Künstlers wahrnahm, der auf mich wies. Sie starrten wie Fische. Ich schluckte und blickte verunsichert um mich.

„Ich?“, fragte ich und hoffte inständig, dass ein Irrtum vorlag.

Doch der Mann nickte mir nur ermutigend zu: „Was denken Sie? Was ist es?“

Sein erwartungsvoller Blick machte mich nervös, schließlich sagte ich: „Nun… Es ist… es ist eben ein Bild. Einfach … einfach nur ein Bild.“

Und zu meiner, vor allem aber zur Überraschung der anderen Anwesenden, entspannte sich der Künstler und ein zufriedenes, beinahe glückliches Lächeln legte sich auf sein Gesicht.

„Genau.“, wiederholte er. „Es ist einfach ein Bild.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.02.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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