Konrad schloss schnell
die Wohnungstür hinter sich. Dann zog er Mantel und Schal aus, hängte seinen
Hut an die Garderobe und schlüpfte aus den dicken Winterschuhen. Es war
bitterkalt draußen, obwohl es schon Ende Februar war. Der Winter wollte sie
dieses Jahr einfach nicht loslassen. Während er in die Küche ging, rieb er sich
die Nase, die kalt und gefühllos geworden war im schneidenden Wind. Konrad
setzte Wasser auf und hing einen Teeeutel in je eine große Tasse. Dann
schlurfte er hinüber ins Wohnzimmer.
„Da bin ich wieder,
mein Gott, war das heute ein Gedränge in der Stadt. Als ob es Morgen nichts
mehr geben würde in den Geschäften. Da kommen wir als alte Menschen gar nicht
mehr mit. Dann war da ein junger Mann an der Bushaltestelle, der ……
entschuldige, das Teewasser ist fertig". Konrad erhob sich aus seinem
Sessel und begab sich erneut in die Küche. Er schaltete die Elektroplatte unter
den Wasserkessel ab und goß die Tassen voll. Zurück im Wohnzimmer stellte er
eine Tasse vor seinem Lieblingssessel auf den Tisch, die andere gegenüber.
„Wo war ich stehen
geblieben? Ach ja, ich hatte gerade den Bus bestiegen und schaute, da der Bus
recht gut gefüllt war, nach einem Sitzplatz. Ungefähr in der Mitte entdeckte
ich einen und bewegte mich darauf zu. Da stieß mich ein junger Mann, gerade mal
20 oder so, fast um, stürmte auf den freien Platz zu und nahm ihn in Beschlag.
Da es der einzige freie Platz im Bus war, fragte ich ihn, ob ich mich
vielleicht dorthin setzen könne. Er allerdings erwiderte nur, dass er erschöpft
sei vom ganzen Tag in der Uni. Außerdem koste sein Ticket genauso viel wie
meines, sodass er das gleiche Recht auf einen Sitzplatz habe, wie ich.
Schließlich erhob sich eine Frau mit einem Baby auf dem Arm, eine Türkin glaube
ich und bot mir ihren Platz an. Ich wollte das nicht, aber sie bestand darauf.
Dabei lächelte sie mich an und warf dem Burschen einen Blick zu, der mir ein
wenig Angst machte. Der aber reagierte gar nicht darauf und blätterte in einem
Heft herum.
Ja meine Liebe, so hat
sich unsere Welt verändert. Nicht mehr zu vergleichen mit früher, als Anstand
und Höflichkeit … sag mal, erinnerst du dich noch an unseren ersten Urlaub? Das
war 1949, nein 1950. Da waren wir doch im Teutoburger Wald. Mein Gott war das
herrlich. Alles war grün und so still und friedlich, obwohl in den großen
Städten drumherum immer noch ein gewisses Chaos herrschte. Die Spuren des
Krieges waren allgegenwärtig, auch wenn der Aufbau stetig voranschritt.
Wir hatten uns in dem
kleinen Gasthof eingemietet direkt an dem Birkenwäldchen. Die Reise dorthin war
anstregend gewesen und wir sind nach dem Abendbrot direkt ins Bett gegangen und
haben geschlafen, wie die Toten. Am nächsten Tag haben wir eine Wanderung
gemacht. Ich erinnere mich genau, wir sind ganz früh aufgestanden und gleich
nach dem Frühstück losmarschiert. Mittags haben wir dann auf einem Bauernhof
Rast gemacht. Ich hatte seit Jahren keine so riesigen Schnitzel mehr gesehen
und geschmeckt haben die --- himmlisch. Als wir abends in der Pension ankamen,
war der Schreck allerdings groß, denn ich hatte auf dem Bauernhof meine Brille
vergessen. Ohne die war ich, wenn es darum ging, etwas zu lesen,
aufgeschmissen. Weil wir keine Lust hatten, den ganzen Weg noch einmal zu Fuß
zurückzulegen, fragten wir die Gastwirtin, ob es eine Busverbindung in die Nähe
des Bauernhofes gäbe. Sie versprach, sich zu umhören und uns am nächsten Morgen
Bescheid zu sagen. Wir bedankten uns und an dem Abend hast du mir alles
Wichtige einfach vorgelesen.
Am nächsten Morgen
haben wir etwas länger geschlafen und fürchteten schon, kein Frühstück mehr zu
bekommen. Als wir den Gastraum betraten, war unser Tisch gedeckt und zu unserer
Verwunderung lag neben meiner Kaffeetasse das Etui mit meiner Lesebrille. Die
Wirtin brachte die Brötchen und den Kaffee und berichtete uns, das sie ihren
Sohn mit dem Fahrrad zu dem Bauernhof geschickt habe, um uns den beschwerlichen
Weg zu ersparen. Ich habe mich damals sehr darüber gefreut und wollte dem
Jungen 2 Mark geben.
Der lehnte jedoch ab und
weigerte sich, die Belohnung anzunehmen. Nachdem wir zurück waren aus dem
Teutoburger Wald, fanden wir den Brief von unserer Bank im Briefkasten. Der
Kredit für den Bau unseres Häuschens war bewilligt worden. Ui, da haben wir uns
gefreut. Ich bin gleich zu Frau Kramer in den Laden an der Ecke gelaufen und
habe eine Flasche Sekt gekauft. Damit haben wir dann auf eine gute Zukunft
angestoßen. Ich war froh, nach dem Krieg die Anstellung bei der Post bekommen
zu haben. Ich konnte mich im Laufe der Jahre bis zum Postinspektor
hocharbeiten, sonst hätten wir uns das alles nicht leisten können. Jahrelang
haben wir nur für das Haus gearbeitet, aber 1962 konnten wir dann endlich
wieder einmal in Urlaub. Weißt du noch, wie du dich gefürchtet hast, weil wir
nach Mallorca FLIEGEN wollten? Du wärest viel lieber mit unserem VW – Käfer
gefahren, aber die Strecke war unvorstellbar lang, deshalb entschied ich mich
seinerzeit, zu fliegen. Das erste Mal im Ausland, meine Güte, war das
aufregend, aber das Land war wunderschön und die Leute die Freundlichkeit in
Person.
Das erste Glas Wein
schmecke ich heute noch, spüre das Prickeln des frischen Rebensaftes auf meiner
Zunge und … weißt du was mein Liebling, wir haben noch eine Flasche Wein im
Schrank. Sollen wir nicht ein Gläschen trinken? Das haben wir schon so lange
nicht mehr gemacht. Ich gehe die Flasche öffnen und hole die Gläser, ich bin
sofort wieder hier".Konrad erhob sich aus seiner gemütlichen Sitzgelegenheit
und ging hinüber zum Wohnzimmerschrank.
Dort öffnete er das Barfach
und entnahm ihm eine Flasche spanischen Rotwein. Den hatte er einmal im
Supermarkt gekauft. Im Schrank war er dann aus irgendeinem unerfindlichen Grund
in Vergessenheit geraten. Ein Glück, das sich Konrad just während dieser
Unterhaltung an ihn erinnerte. Konrad hatte einige Mühe, den Korken aus der
Flasche zu ziehen, aber schließlich war es doch geschafft. Er füllte die Gläser
zur Hälfte und stellte die Flasche in die Mitte des Tisches. Dann lehnte er
sich mit dem Glas in der Hand zurück, prostete seiner Lisa zu und nahm mit
einem Augenzwinkern einen Schluck. Danach stellte er sein Glas wieder auf der
Tischplatte ab. „Schmeckt der nicht ausgezeichnet? Ach ja, Mallorca, eine
fantastische Insel. Ich habe mich ja nicht so recht getraut, als du mich gebeten
hast, einen Wagen zu mieten, damit wir uns etwas von der Insel ansehen können.
Wir waren in einem fremden Land und ich hatte Angst, dass etwas passieren
könne. Schließlich habe ich es doch gemacht, denn du wolltest Land und Leute
kennenlernen. Das habe ich auch nicht bereut. Denk nur mal an den Kellner aus
dem Speisesaal, der uns eine Route zusammengestellt hat, damit wir in möglichst
kurzer Zeit vieles von der Insel bewundern können?
Und als wir dann
mittags bei der Rast den Fisch gegessen haben, der uns so fantastisch
geschmeckt hat. Aber nachmittags habe ich dann einen gehörigen Schreck
bekommen, als dir plötzlich übel wurde und du dich übergeben musstest. Ich habe
schon gefürchtet, wir hätten uns vergiftet, aber mir war ja nicht übel, nur
dir. Ich habe dann, auch wenn du das nicht wolltest, einfach in der nächsten
Stadt angehalten und dich zu einem Arzt geschleppt, ich hatte halt Angst um
dich.
Als der Arzt uns,
nachdem er dich eingehend untersucht hatte, sagte, dass du schwanger bist, da
bin fast verrückt geworden vor Freude. Ja mein Ein und Alles, drei gesunde
Kinder hast du mir geschenkt und damit mein Leben zu etwas Unvergleichlichem
gemacht. Denk nur an Bernd, den Teufelsbraten. Hat jeden Tag andere Streiche
ausgeheckt und uns damit manches Mal bis zur Weißglut getrieben. Dann, als er
11 Jahre alt war, passierte der grässliche Unfall, als er beim Fahrrad fahren
unter den Lkw geriet. Wir haben schon gedacht, er schafft es nicht. Tag und
Nacht haben wir abwechselnd an seinem Bett im Krankenhaus ausgeharrt, bis es
ihm endlich besser ging. Schau ihn dir heute an, den Lausebengel. Groß, stark
wie ein Bär und äußerst erfolgreich in seinem Beruf. Er hat es wirklich weit
gebracht im Leben. Seine Frau und die beiden Kinder können mit Fug und Recht
stolz auf ihn sein, und ich bin es auch. Auch aus den beiden Anderen haben sich
wahre Prachtexemplare entwickelt.
Schau dir Susanne an.
Trotz Haushalt und Beruf schafft sie es, zweimal in der Woche nach uns zu
schauen und das in unserem Haushalt zu erledigen, was wir nicht mehr schaffen.
Und Rainer, seit Jahren schon lebt er in Amerika und arbeitet dort als Manager
eines großen Unternehmens. Doch egal, wieviel Arbeit ihn auch fesselt, einmal
pro Woche klingelt unser Telefon und er erkundigt sich, ob bei uns alles in Ordnung
ist. Sag selbst mein Schatz, sind das nicht prächtige Kinder?
Alles in allem muss ich
sagen hatten wir doch ein schönes und erfülltes Leben, findest du nicht?
Sicher, es gab Höhen und Tiefen, aber wo gibt es die nicht. Jedenfalls haben
wir alle Probleme gemeinsam aus dem Weg geräumt und können jetzt glücklich und
zufrieden unseren Lebensabend genießen. Eins jedoch weiß ich, ohne dich ist das
Leben nicht lebenswert und ist es nie gewesen. Du warst und bist mein Leben und
meine einzige und große Liebe. Ach du lieber Himmel, hast du einmal auf die Uhr
geschaut? Es ist schon kurz nach Mitternacht und wir haben fast die ganze
Flasche Wein ausgetrunken. So langsam wird es Zeit, schlafen zu gehen. Geh du
schon einmal hinüber, ich komme gleich nach. Ich trinke nur den letzten Schluck
Wein noch aus.
Susanne schloss die Tür
auf und wunderte sich, keine Musik zu vernehmen, denn in der Regel lief hier
das Radio den ganzen Tag. Sie stellte ihre Handtasche auf den Boden, zog den
Mantel aus und ging dann hinüber ins Wohnzimmer. Dort fand sie ihren Vater
schlafend in seinem Sessel vor. Sie lächelte, als sie sein friedliches Gesicht
mit dem leichten Lächeln auf den Lippen erblickte. „Guten Morgen Papa, na, wie
geht es dir heute?“ Da Konrad nicht reagierte, rüttelte Susanne leicht an
seiner Schulter, aber auch das weckte ihn nicht auf.
Susanne bekam einen
Riesenschreck und fühlte sogleich den Puls, da erst merkte sie, dass ihr Vater
nicht mehr am Leben war. Der eilends herbeigerufene Arzt stellte fest, dass
Konrad in seinem Lieblingssessel einfach eingeschlafen und nicht mehr erwacht
war. Nun war sein Wunsch, von dem er in letzter Zeit sehr häufig gesprochen
hatte, endlich in Erfüllung gegangen. Konrad wünschte sich nichts sehnlicher,
als wieder mit seiner Lisa vereint zu sein, die vor etwa zwei Jahren plötzlich
und unerwartet verstorben war. Wer allerdings der Besuch war, den er am letzten
Tag seines Lebens noch empfangen hatte, dieses Geheimnis nahm Konrad mit ins
Grab. Die Tasse Tee und das Glas Rotwein, dass ihm gegenüberstand, waren
jedenfalls unberührt.
©
2008-02-21 by Peter Bochanan
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Peter Kropidlowski).
Der Beitrag wurde von Peter Kropidlowski auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.02.2008.
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