Florence Siwak

Mord in der vierten Nacht

'Ich hatte doch schon mal ein Leben. Ein erstes Leben. Lange her.

Mein neues Leben, meine zweite Chance lasse ich mir nicht zerstören, nicht von Sasse.

 

Dieser Gedanke kreiste an diesem Dienstagmorgen unablässig durch Frank Königs Kopf.

 

Schließlich riss er sich zusammen und wandte sich der Frau zu, die ihn stirnrunzelnd betrachtete.

 

"Warum soll ich denn so plötzlich zu Mutter fahren - und das mitten in der Woche?"

Eigensinnig schüttelte Franziska ihre rotbraune Mähne; ihre grün-braun gesprenkelten Augen sprühten. Tigerauge hatte er sie oft genannt.

 

"Du kennst doch deine Mutter," beschwichtigte er sie. "Sie wollte dir keine Sorgen machen, aber seit ihrem Armbruch hat sie wohl doch Schwierigkeiten, allein fertig zu werden. Da habe ich ihr angeboten, Du würdest eine Woche oder so bei ihr bleiben; Du hast doch gerade Urlaub. - Aber wenn du nicht willst...!"

 

Achselzuckend legte Frank König seine Brille und dieses Thema zu den Akten, beobachtete Franziska aber aus den Augenwinkeln.

 

Er hatte nicht mit Einwänden gerechnet. Das passte ihm nicht; passte ihm ganz und gar nicht.

 

"Nein, nein. Eigentlich wäre es schon mal wieder schön..."

Sie zögerte, aber ihr Widerstand bröckelte sichtlich..

"Macht es dir auch wirklich nichts aus, Liebling?"

 

"Nein, sicher nicht, ich habe so viel zu tun, dann kann ich gleich ein paar Sachen aufarbeiten. Das beste ist, du fährst mit dem Zug, dann kannst du dich mal so richtig entspannen.."

 

Sie lachte. "Als ob ich Entspannung so nötig hätte..."

 

"Wenn du zurück bist, holen wir deine restlichen Sachen und dann - dann machen wir es offiziell. Ich kann dich ja mit dem Wagen abholen, dann können wir Deiner Mutter gleich die freudige Botschaft bringen."

 

Franziska schmiegte sich strahlend an ihn.

 

Liebevoll schob er ihr eine Strähne ihres dichten, lockigen Haares aus dem Gesicht.

'Wie bei Stefanie' dachte er. 'Sie haben so vieles gemeinsam'.

Das muss ein Ende haben. So oder so!'

Beinahe ungeduldig schob er sie von sich.

 

In dieser Nacht träumte er zum erstenmal seit langem wieder von Stefanie.

 

Sie lag vor ihm auf dem feuchten Rasen. Ihr Pullover war bis zum Kinn hochgerollt. Oliv-rot gestreift war er. Nie würde er diesen Pullover vergessen. Sie hatten ihn gemeinsam gekauft, erst ein paar Tage zuvor.

Er beugte sich über sie...

 

Und - wie immer - erwachte er an dieser Stelle in Schweiß gebadet.

 

Franziska lag ruhig und entspannt neben ihm, beide Arme hoch über dem Kopf. So hatte Stefanie auch immer neben ihm gelegen. Nicht lange, denn viel Zeit war ihnen nicht vergönnt gewesen. Wenn er diese Schlafpose einnehmen würde, begann er unweigerlich zu schnarchen. Frauen waren schon seltsame Geschöpfe!

 

Leise stand er auf, um zu duschen und sich anzuziehen.

 

Franziska musste noch heute wegfahren; das war besser für sie. Für sie und ihn.

 

Er setzte sich mit einem Becher Kaffee an den großen runden Küchentisch und breitete fächerförmig ein gutes Dutzend Fotos vor sich aus. Die Bilder zeigten eine elegante, bildschöne Frau, die mit dem Betrachter zu flirten schien; sich voll ihrer Wirkung bewusst.

 

Drei Tage hat es ihn gekostet, diese Fotos zu machen.

Seine Finger glitten zärtlich über die seidige Fläche. Dann schob er sie mit einer abschließenden energischen Bewegung in einen Karton, den er in der Besenkammer zwischen den Putzmitteln versteckte.

 

Es war höchste Zeit, Franziska zu wecken.

"Ich rufe dich heute Abend an, Schatz" murmelte er an ihrem Ohr und streichelte über ihren zerzausten Schopf.

"Schlaf nicht wieder ein. Am besten nimmst du den 8.20-Zug - und - vergiss nicht, deiner Mutter Bescheid zu sagen" fiel ihm noch ein.

 

Franziskas Arme umschlangen ihn und sie presste ihren schlafwarmen Körper an ihn.

Er zögerte kurz.

Fast hätte er sein Plan aufgegeben.

Fast.

 

Ein letzter Kuss, ein Klaps und er schloss die Tür hinter sich.

 

Da er als selbständiger beratender Mathematiker sehr gut im Geschäft war und sich die Aufträge mehr oder weniger aussuchen konnte, hatte er die meisten Termine auf die nächste Woche verschieben können. Trotzdem machte er sich auf seinen gewohnten morgendlichen Weg, fand aber noch die Zeit, kurz in der Praxis von Rechtsanwalt Dr. Behrend anzurufen, um sich bestätigen zu lassen, dass der Herr Dr. Behrend leider, leider auf Auslandsreise sei.

"Zu einer internationalen Konferenz" vertraute die Mitarbeiterin ihm voll Stolz an, so als fänden die internationalen Konferenzen einzig und allein zu dem Zweck statt, sie mit Stolz und Genugtuung zu erfüllen.

 

Nein - mit einem Sozius wollte er nicht verbunden werden.

Und nochmals 'Nein', auch einen Termin wünschte er nicht.

Ja, er würde sich wieder melden.

 

Er beendete dieses Gespräch mit so vielen guten Wünschen ausgestattet, dass sie für ein halbes bescheidenes Leben gereicht hätten.

 

Erleichtert lenkte er seinen Wagen in die gewohnte Richtung.

Wie fast jeden Morgen fuhr er an der Justizvollzugsanstalt vorbei.

Heute jedoch, am Mittwoch, nicht, um sich Horst Sasse ins Gedächtnis zu rufen; diesen Mann, der sowieso seit jener Zeit vor mehr als drei Jahren ständig in seinen Gedanken präsent war.

 

Diesmal parkte er den Wagen schräg gegenüber diesem festungsähnlichen Gebäude. Der Parkplatz war ein Glücksfall; er hätte aber sonst auch jeden Strafzettel riskiert.

Frank hatte von seinem Standort aus die Seitentür im Auge und richtete sich auf eine lange Wartezeit ein.

 

Gedankenverloren zündete er sich eine Zigarette an und blickte dem Rauch hinter.

Er hatte lange nicht mehr geraucht. Aber zu diesem besonderen Anlass war es vielleicht gerechtfertigt.

 

Während des Prozesses hatte er viel, zuviel geraucht.

 

Dabei dachte er wieder an Sasse, an den drei Jahre jüngeren Totschläger Horst Sasse, wie er auf der Anklagebank gesessen hatte, von Rechtsanwalt Behrend perfekt abgerichtet.

Behrend hatte ihm für den Prozess sogar einen Anzug gekauft und dafür gesorgt, dass er ordentlich und sauber auftrat. Auftrat! Das war das richtige Wort. Sein Akteur funktionierte.

 

Im Gerichtssaal waren unter den Zeugen und Zuschauern etliche Leute gewesen, die Sasse kannten. Er hatte für fast jeden Hausbesitzer in der Gegend kleinere Arbeiten erledigt; Rasen mähen, Reparaturen im Haus.

 

Er hatte auch bei Frank König und den anderen Mitparteien häufig im Garten geholfen, war über den Rasen geschlurft und hatte seine flinken farblosen Augen hin- und herschweifen lassen.

 

Bis Steffie irgendwann nicht mehr an sich halten konnte.

"Frankie, schmeiß diesen Freak bloß raus. Die Hennings sind auch genervt. Überall schnüffelt er und schielt um alle Ecken..."

 

Das war's dann. Mit einer lahmen Ausrede und einem Fünfziger hatten er und der Nachbar Henning Horst Sasse alles Gute für die Zukunft gewünscht und Steffie hatte aufgeatmet.

 

Frank verschluckte sich an dem Rauch, der in den Lungen brannte.

'Mangelndes Training' dachte er bitter und schnippte die Kippe durch das offene Fenster achtlos auf Straße; eigentlich gar nicht seine Art.

 

Er streckte sich; das Hemd klebte ihm am Rücken.

 

Die Verhandlung hatte er nur in Bruchstücken abgespeichert. Kleine, hässliche Mosaiksteinchen, die irgendwie nie ihren richtigen Platz finden wollten.

Sasses Befragung und seine eigene Zeugenvernehmung waren ihm jedoch fast wörtlich gegenwärtig.

 

Die Art, wie Sasse von Behrend gekonnt in Richtung Opfer gelenkt wurde und wie er devot darauf einging.

War ja auch irgendwie die Pflicht eines guten Anwalts, aber musste er denn Steffie, die gutmütige, fröhliche, beliebte Steffie als kokettes Frauenzimmer hinstellen, das sein Schicksal geradezu herausgefordert hatte?

 

"Nein" hatte Sasse mit weinerlicher Stimme gehaucht.

"Nein, ich kann mich nur ganz schwach erinnern. Habe ich ja auch schon ausgesagt. Nur daran, dass die Frau, die immer so nett war, plötzlich geschrieen hat. Geschrieen, geschrieen. Sie hörte gar nicht mehr auf..."

 

Er schloss theatralisch die Augen und presste seine Hände auf die Ohren.

 

"Ich bin dann weggelaufen, zu meiner Mutter, war ja nicht weit. Da habe ich mich versteckt. Aber plötzlich - da waren dann der König da und der andere, der alte aus dem Haus. Die haben geklingelt wie verrückt. Und meine Mutter hatte Angst. Da hat sie aufgemacht. Und die - die sind über mich hergefallen. Geschüttelt und geschlagen haben sie mich."

 

Sasse rieb seinen linken Arm, als ob er die Schläge immer noch spüren würde.

Bemitleidenswert!

 

Er gab zu, getrunken zu haben. Viel getrunken.

 

"Bin ja nicht daran gewöhnt, Euer Ehren."

 

Treuherzig blickte er in die Runde.

 

Den Einwand der Staatsanwaltschaft, dass es ja in der Vergangenheit schon mehrere Untersuchungen wegen Körperverletzung gegeben habe, wischte Behrend nonchalant vom Tisch.

"Nicht relevant. Unbewiesen"

Und so ging es immer weiter - tagelang.

 

Und dann der  Schuldspruch - drei Jahre wegen Totschlag! Wie betäubt hatte Frank die schützenden Arme von Steffies Eltern verlasse, um Behrend zur Rede zu stellen.

 

Der sprach gerade noch ein paar letzte Worte mit seinem Mandanten, als Frank sich ihm in den Weg stellte.

 

Die uniformierten Beamten standen bereit, aber er kam Sasse nahe genug, um ihn verstehen zu können: "Dich kriege ich, du Schwein. Dich und alles was du liebst"

 

Behrend passte diese Entgleisung sichtlich nicht und er brach in beschwichtigendes Gegacker aus.

 

"Tsch, tsch, ruhig, Herr Sasse, ruhig, wir wollen uns doch nicht aufregen."

So beruhigte er Sasse, den Mörder.

 

Frank zündete sich eine neue Zigarette an. Sollte es doch brennen!

Ein Blick zur Uhr zeigte ihm, dass es knapp 10 Uhr war.

 

Das Urteil war auch gegen 10 Uhr gesprochen worden und Behrend hatte vor dem Gericht sein Meisterstück abgeliefert, als Sasse zurück geführt worden war.

 

Er hatte Frank vertraulich am Arm gepackt und ihm druckreife Platitüden ins Gesicht geschleimt.

Schließlich waren eine Handvoll Reporter vor Ort; kein großes Aufgebot; Steffie war nur eine junge unbekannte Frau und Sasse strahlte nicht gerade vor Attraktivität - aber dennoch - Kleinvieh macht auch Mist.

 

Und so stand Rechtsanwalt Dr. Behrend an diesem Freitag Morgen auf der obersten Stufe und sah auf Frank herab.

 

Sah auf ihn herunter wie Gott. Seine blonden feinen Haaren wehten dekorativ in dem leichten Wind, seine schlanken Hände, die während des Prozesses die Einwände des Staatsanwalts zerschnitten hatten, ruhten auf seinen - Franks - Schultern und es floss über seine Lippen.

 

Medienwirksame Scheiße hatte es Henning später bei einem Schnaps kurz und bündig genannt, aber Frank hatte damals wie gelähmt da gestanden und sich angehört, er müsse vergessen, neu anfangen. Es täte doch allen so leid - auch Sasse war voller Reue ……

 

Frank wusste in dem Moment nicht, wer seinen Hass mehr verdiente, Behrend oder Sasse.

Auch heute stand es für ihn noch unentschieden.

 

Endlich. Da war er - er trug einen kleinen Koffer, genauso schäbig wie er.

Unentschlossen, den langen schmalen Körper nach vorn geneigt, den Kopf gesenkt, blinzelte er in die frühe Sonne.

 

Er sah noch genauso aus wie vor drei Jahren. Vielleicht lag das aber auch an dem Anzug; es war derselbe wie damals. Aber auch sonst: Die zu langen, strähnigen Haare waren glatt nach hinten gekämmt - der schleppende Gang, als er zögernd ein paar Schritte auf die Straße hinaus trat und sich dann nach links wandte - er hätte auch hinter einem Rasenmäher hergehen können. Nur die zerknitterte Latzhose und das verwaschene T-Shirt fehlten. Fast hätte Frank gelacht.

 

Ging er zu seiner Mutter? Nein, er machte vorher Halt, an einem Lokal, das schmalbrüstig zwischen zwei verstaubten Mietshäusern sein Dasein fristete.

 

Frank ließ ihm ein paar Minuten Zeit und folgte ihm. Drinnen schlug es ihn fast mit Blindheit. Die Gäste schienen ungepflegte Düsternis zu bevorzugen.

 

Er tastete sich zum Tresen vor und bestellte ein Bier - ein kleines.

Mit dem Rücken zur Theke musterte er die Gäste, die ein breites Spektrum boten. Ein Dutzend Männer aller Altersgruppen, die ihn gleichgültig musterten. Er blickte ebenso unbeteiligt zurück.

Sasse saß am Fenster; vor sich ein Bier und eine Boulette.

'Eine ungeheure Verbesserung gegenüber der Gefängniskost' dachte Frank sarkastisch.

 

Hatte er ihn erkannt?

Nein, noch nicht - scheinbar.

 

Der Wirt schien nicht geneigt, sich in ein Gespräch ziehen zu lassen und so blieb Frank nur die alte Taktik!

 

"Die Häuser hier sollen abgerissen werden, habe ich gehört? Wird da was Neues gebaut?"

Das reichte, um eine Diskussion in Gang zu bringen.

 

Aus den Augenwinkeln erkannte Frank, dass Sasse ihn wahrgenommen hatte, wahrgenommen und erkannt.

 

Er beendete für seinen Teil die prickelnde Unterhaltung und verließ langsam, ein Mann mit viel Zeit, das Lokal. Sein erster Teil der Arbeit war getan.

 

Er ließ den Wagen auf dem Parkplatz zurück und ging zu Fuß nach Hause; ein recht strammer Marsch, würde Henning beifällig bemerken, der Spaziergänge erst ab 10 km Länge gelten ließ

 

Zu Hause angekommen, warf er müde seine Schuhe in die Ecke und ging zum Fenster.

Unten stand er - unbeweglich - und blickte hoch zu ihm.

 

Unwillkürlich zuckte er zurück, obwohl er ihn auf keinen Fall sehen oder gar erkennen konnte, aber er konnte den Blick geradezu körperlich spüren.

Er holte den Karton aus der Kammer und beschäftigte sich ein paar Minuten konzentriert mit dem Inhalt; ging zwischen Wohn- und Schlafzimmer hin und her. Hier ein prüfender Blick, da ein kleiner Handgriff.

 

Genug für heute, für den ersten Tag, sagte er sich.

 

Dann duschte er minutenlang, um sich von dem Schweiß und den Erinnerungen zu säubern.

 

Die nächsten Minuten gehörten Franziska, die am Telefon aufgedreht von der Bahnfahrt berichtete. Während des zärtlichen Geplänkels begann er sich langsam wieder als Mensch zu fühlen.

 

Seufzend nahm er sich einige Arbeiten vor, die ihn die halbe Nacht wach hielten und ihn auch am nächsten Morgen noch mehrere Stunden beschäftigten.

 

 

12 Uhr.

Frank rieb seine entzündeten Augen.

Vier Stunden am Computer. Er hatte konzentriert gearbeitet, um seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.

Nach einer Tasse Espresso zog er sich besonders sorgfältig an.

 

Zielstrebig, ohne sich umzusehen, schlug er den Weg zum fünf Minuten entfernten Bistro ein, in dem er in den letzten Wochen öfter gegessen hatte.

 

Vor dem Lokal zögerte er und spähte durch die Scheibe.

 

Da saß sie; an einem Ecktisch; allein wie meist und wie er gehofft hatte.

 

Der ansprechende, nicht sehr große Raum war gut gefüllt. D I E  Gelegenheit.

 

Er trat ein, grüßte freundlich die Bedienung und zauderte einen Moment, bevor er lächelnd an ihren Tisch trat.

 

"Entschuldigung. Kann ich mich zu Ihnen setzen?"

 

Seine blitzenden grünen Augen baten mit, so dass sie nach kaum merklichem Zögern mit ihrer langen schmalen Hand in die Runde wies.

"Wenn Sie meinen... Nanu, hoppla, was ist denn?"

Erschrocken packte sie zu.

Frank war gestrauchelt und fasste sich schmerzverzerrt an seinen rechten Oberschenkel, während er mit der linken ihre Hand ergriff.

"Entschuldigung" keuchte er. "Ich hatte vor kurzem einen Beinbruch..."

 

Besorgt half sie ihm, sich hinzusetzen und mit einer Handbewegung rief sie die Bedienung herbei.

 

Das Gespräch in Gang zu halten, war ein Kinderspiel für den eloquenten Mittdreißiger und schon bald waren sie in eine angeregte Unterhaltung vertieft, die bis weit in den Nachmittag hinein dauerte.

 

Zum Abschied streichelte Frank der charmanten Frau - Linda - spielerisch die Wange, flüsterte ihr etwas ins Ohr, was sie in lautes Gelächter ausbrechen ließ und verließ, immer noch leicht humpelnd, das Bistro.

 

Als Frank an diesem Nachmittag mit elastischen Schritten die Treppe nach oben lief, trat gerade Herr Henning aus seiner Wohnungstür.

 

"Hallo, schön, Sie mal wieder so fröhlich zu sehen..."

 

Verlegen tätschelte der alte Herr Franks Schulter.

Er räusperte sich.

"Haben Sie schon gehört? Sasse soll raus sein..."

 

"Habe ich, ja. Sauerei. Aber was kann man da machen?

Nur hoffen, dass das Schwein nicht wieder zuschlägt."

 

Erleichterte registrierte Henning, dass sein Nachbar weniger gefühlsbetont reagierte, als er befürchtet hatte. Das lag ja wohl auch an seiner neuen Liebe, Franziska.

 

Eine wirklich reizende Frau, ein richtiges Schätzchen, sagte seine Frau immer.

Er verabschiedete sich aufgeräumt von Frank, um einen kleinen Spaziergang zu machen; einmal um den Pudding, meinte er und lachte. Der Pudding dauerte gute zwei Stunden; aber wenn es ihn denn frisch hielt!

 

Frank steckte den Schlüssel ins Schloss und stutzte.

Es war nicht abgeschlossen.

 

Vorsichtig betrat er die Wohnung und sah sich sorgfältig um.

 

Da - im Schlafzimmer sah er es. Jemand war hier gewesen.

Jemand? Sasse natürlich. Er hatte es geschafft, sich Zutritt zu verschaffen.

 

Frank hatte Franziskas Nachthemd nicht weggeräumt; er liebte es, auf dem Kissen neben sich den zarten Stoff zu berühren. Aber er hatte es sorgfältig zusammengelegt. Nun lag es ausgebreitet am Fußende.

 

Er bekam kaum Luft; zwang sich aber zur Ruhe. Nicht mehr lange.

 

Arbeit - die half.

 

Am späten Abend - er wollte gerade kurz Luft schnappen gehen, klingelte das Telefon.

Franziska vielleicht?

 

Es war Sasse.

Er erkannte die flache tonlose Stimme sofort und hörte sich stumm, wie gebannt an, was Sasse an Schmutz über ihn warf.

 

"Tolle Puppe ist das. Hast dich ja um Längen verbessert. Da hab' ich dir doch glatt einen Gefallen getan..."

 

Frank legte langsam und behutsam den Hörer auf. Er wollte nicht weiter zuhören.

 

In dieser Nacht träumte Frank wieder von Stefanie.

Diesmal ging er einen Schritt weiter in seinem Traum.

 

Er hatte sich einen Fuß gebrochen und Steffie hatte ihn nach Hause gebracht. Sie hatte ihm noch kurz zugewinkt und war über die Grünfläche gegangen.

 

Er öffnete, oben angekommen, ein Fenster, da hörte er es.

Schreie, erst laut, dann erstickt.

 

Panisch humpelte er zur Nachbarwohnung und klingelte Henning vom Fernseher weg.

 

Der alte Herr war schneller unten als Frank und auch vor ihm bei der kleinen Sträuchergruppe.

 

"Es war Sasse" keuchte er. "Er ist da lang gerannt. Habe ihn erkannt; war leider nicht schnell genug - zu alt." Er zeigte nach links.

 

"Soll doch mal einer die Polizei rufen" brüllte er zornig, denn inzwischen hatten sich noch zwei Schaulustige aus der Nachbarschaft eingefunden, die erschrocken einen Blick zu erhaschen versuchten.

 

Einer von ihnen hatte ein Handy dabei und wählte den Notruf.

 

"Nein, sehen Sie nicht hin, Frank, bitte nicht..."

 

Mitleidig versuchte Henning, den jungen Mann fortzuziehen. Der war aber schon auf die Knie gesunken und hielt schluchzend Steffies Kopf in seinem Schoß. Wiegte sie wie ein Kind hin und her. Um ihren Hals war ihr eigener Schal fest zugeknotet; ihre Augen, diese leuchtenden Augen, blickten ihn tot an.

Er brach über ihr zusammen, um nach einem kurzen Moment - die Wut hatte die Oberhand gewonnen - so gut es ging aufzuspringen.

 

"Wo wohnt das Schwein. Sagen Sie es mir!"

Er schüttelte den alten Herrn, der nur kurz zögerte.

 

"Warten Sie. Ich kenne die Adresse. Er wohnt bei seiner Mutter. Ist nicht weit. Ich fahre Sie hin."

"Sie warten doch auf die Polizei, ja?" wandte er sich an den Nachbarn, der die Polizei gerufen hatte und erschrocken nickte.

 

König und Henning fuhren also zu Sasse und dort spielte sich die Szene ab, die während der Verhandlung so genüsslich geschildert worden war.

 

Danach gab es für Frank kaum Trost. Einer vielleicht.

Sie war nicht vergewaltigt worden.

Obwohl - so was durfte er nicht denken.

Lieber vergewaltigt und am Leben!

 

Diesen letzten Satz wiederholte er ein paar Mal im Traum, dann sank er in einen tiefen, festen Schlaf, aus dem er endlich mal wieder erfrischt erwachte.

 

Heute wollte er mit Linda - seiner neuen chicen Bekannten - einen Ring aussuchen. Er hatte sie um Rat gebeten und sie war sofort bereit gewesen, diesem sympathischen, jungen Mann gefällig zu sein, der nicht nur attraktiv, sondern auch gut betucht zu sein schien.

 

'Wer weiß'? dachte sie, als er am späten Nachmittag das Bistro betrat, in dem sie sich verabredet hatten.

 

Wie zwei alte Freunde begrüßten sie sich und sie suchten einen Ring aus, der exquisit und teuer war.

 

"Probieren Sie ihn doch bitte auf" bat Frank sie.

"Ich glaube beinahe, meine Freundin hat die selbe Größe wie Sie"

 

Geschmeichelt probierte sie das Schmuckstück und sie verabredeten, es am Montag der nächsten Woche abzuholen.

 

'Soll der vielleicht für mich sein?' dachte sie amüsiert.

 

'Franziska wird sich freuen, dachte Frank.

 

So gingen ihren Vorstellungen und Gedanken zwar auseinander, ihre Schritte aber gemeinsam in ein kleines aber feines Restaurant.

 

Nach einem guten Essen mit reichlich Wein war es spät, sehr spät geworden.

 

"Meine Güte, mein Bein schmerzt wieder" rieb sich Frank den Oberschenkel.

 

"Ich bringe Sie nach Hause, Frank, kein Problem; auf mich wartet ja keiner..." seufzte sie und blickte ihn mit großen Augen an.

 

Sie parkte gegenüber seinem Haus in dem halbrund angelegten Parkhafen, so musste er nur noch über die Grünfläche gehen. Die Büsche waren in den drei Jahren gewachsen; sehr gewachsen.

 

"Ich bringe Sie noch bis zur Tür." Linda war ganz Besorgnis. Vielleicht hoffte sie ja, doch noch von Frank mit nach oben gebeten zu werden.

 

"Danke, ich bin todmüde. Diese Schmerzen erschöpfen mich immer sehr" stöhnte dieser jedoch - ganz Spielverderber.

 

Vor der Tür verabschiedeten sie sich mit einem Kuss, einem flüchtigen zwar, aber Linda war durchaus geneigt, Leidenschaft darin zu sehen.

 

Frank winkte ihr nach und stieg die Treppen hoch - langsam, schleppend.

 

Er machte kein Licht, öffnete aber das Fenster und blieb lauschend hinter der Gardine stehen.

Seine Finger krallten sich in den Vorhang.

Das gab Falten. Steffie würde murren. Nein - nicht Steffie, Franziska würde schimpfen; sie war so ordentlich....

 

Er starrte hinunter auf die schwach beleuchtete Grünfläche. Mit großer Anstrengung konnte er zwei Schatten wahrnehmen. Einen großen und einen kleinen, der sich heftig wehrte, bis beide seinem Blick entglitten. Schwache Schreie klangen durch das halb geöffnete Fenster. Auch diese erstarben.

 

Er zögerte, seufzte und ließ den Vorhang fallen.

 

Traurig eigentlich. Sehr traurig, aber...

Dann strafften sich seine Schultern, er rannte zur Tür, hinaus ins Treppenhaus und klopfte heftig gegen die Tür des Nachbarn.

"Herr Henning, Herr Henning..."

 

Vorsichtig wurde die Tür einen Spalt geöffnet und die eingefallenen Lippen nörgelten "Waf ift denn lof, ftill, ftill, Fie wecken ja meine Frau...."

 

"Haben Sie das nicht gehört? Die Schreie eben?"

 

"Welfe Freie? -Moment mal".

 

Herr Henning schloss die Tür und Frank hörte das Klappern der Sicherungskette.

"Bin fofort wieder da. Moment mal."

 

Bis der Nachbar zurück war, hatte Frank auf dem Handy die 110 gewählt.

"Hallo, Notfall, Kastanienstraße 12. Ich glaube, hier ist gerade ein Verbrechen passiert.

Ja - mein Name ist Frank König. Ja, ich warte unten."

 

Kurz danach öffnete sich die Tür und ein wesentlich stattlicherer Hubert Henning, Steuerrat a.D. baute sich strafend vor Frank auf - ganz Beherrscher der Situation.

 

"Welche Schreie denn? Doch halt, jetzt wo Sie es sagen....!

Haben Sie schon die Polizei gerufen?"

 

"Ja, habe ich gerade. Ich soll unten warten. Ich ziehe mir nur schnell was über..."

 

Er wandte sich noch mal zurück.

Ich melde mich dann bei Ihnen, Herr Henning. Oder - legen Sie sich doch einfach wieder hin. Wenn Sie sowieso nichts gesehen haben?..."

 

"Nein, nein, ich kenne meine Pflicht. Die Polizei wird mich befragen wollen."

 

Mit straffen Schultern und gut unterfüttertem Gebiss zog er sich zurück, um seine Frau zu wecken, die wieder einmal alles verschlafen hatte.

 

Frank war inzwischen in die Wohnung zurück gegangen.

Einige Minuten blieben ihm noch.

Er schaute sich prüfend um.

Dann ging er daran, die Bilder abzunehmen, die in großer Zahl in kostbaren Silber- und schlichten Holzrahmen im Wohn- und Schlafzimmer standen und hingen. Er leerte mit geschickten Fingern die Rahmen.

Dann öffnete er den alten Schuhkarton, der unscheinbar im Kleiderschrank auf dem Boden stand.

 

Er nahm vorsichtig die Fotos heraus und fügte sie in die Rahmen ein; die Fotos von Franziska, die bald seine Frau werden würde.

 

Die Bilder, die Sasse so bewundert und lüstern kommentiert hatte, steckte er in einem Umschlag in seine Jackentasche, nicht ohne sie vorher noch mal mitleidig gemustert zu haben. Schade um die Frau, um Frau Gerlinde Behrend, die von ihrem Mann so abgöttisch geliebt wurde; eine etwas einseitige Zuneigung, wie er am eigenen Leib erfahren hatte.

 

Pech für sie, dass sie nicht dunkelblond und üppig geblieben war, dann hätte Sasse sie auch nach drei Jahren wieder erkannt. Aber sie war in den letzten Jahren seiner rotbraunen, schlanken, fröhlichen Franziska immer ähnlicher geworden; Imagewechsel nannte man das wohl.

Wirklich schade um sie.

Obwohl - wie hatte sie noch nach dem Mord - eng an ihren Mann geschmiegt - seine Steffie mit Dreck beworfen!

Also - doch nicht wirklich schade und - lieber sie als Franziska.

Denn irgendwann - das hatte er schon nach dem Prozess gewusst - irgendwann hätte Sasse seine Drohungen wahr gemacht. "Dich kriege ich, du Schwein. Dich und alles was du liebst"

Und in seinen Augen hatte er das schon vorher hundertfach lesen können.

 

"Jetzt werde ich wohl wieder als Zeuge auftreten müssen" murmelte er vor sich hin, als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, um vor dem Haus auf die Polizei zu warten.

 

Vor dem Haus rauchte er seine definitiv letzte Zigarette. Genau eine Zigarettenlänge dauerte es, seine Aussage zu rekapitulieren.

 

"Wieso Frau Behrend mich nach Hause gebracht hat? Mein Bein schmerzte und sie war so nett....

Getroffen? Wir hatten doch nichts miteinander; wir haben uns zufällig getroffen und sie ist mir bei einem Einkauf für meine Verlobte behilflich gewesen."

 

'Ja' dachte er. Auf alles gab es eine Antwort, wie schon damals im Prozess. Zwar nicht immer die richtige, aber jetzt würde Sasse wieder für einige Jahre gut aufgehoben sein.

 

 

Und er - Frank? Und Franziska? Und ihr noch ungeborenes Kind?

Er würde endlich diese Wohnung aufgeben, alles hinter sich lassen, auch das Grab von Stefanie. Sie würde es verstehen. Sie hatte immer alles verstanden.

 

 

Da hörte er auch schon das Martinshorn.

 

"Mal sehen, wer ihn jetzt vor Gericht vertritt. Behrend sicher nicht."

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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