Klaus Eylmann

Am Wasser

Der alte Mann kauerte auf der Bank des Ruderbootes und blickte auf das unruhige Meer hinaus. Schaumkronen breiteten sich auf den Wellen aus, hinter denen die Köpfe einiger beherzter Schwimmer wie Korken auftauchten und wieder verschwanden. Je mehr sich die Wellen dem Strand näherten, desto mehr verloren sie an Wucht und verliefen sich schliesslich im feuchten Sand, arbeiteten daran, jede Spur, jeden Fussabdruck auszulöschen, die Strandbummler hinterlassen hatten. Seit Urzeiten glätteten sie den nassen, hellbraunen Sand, legten Zeugnis darüber ab, dass es das Meer war, das seine Grenzen langsam, aber unaufhaltsam den Strand hochschob, unbemerkt von jener seltsamen Spezies, die lärmig und mit Holzkonstruktionen die Natur verfremdete. Es war, als ob das Meer, welches mit seinen Lebensformen den grössten Teil der Erde dominiert, es nicht zulassen wolle, dass menschliche Spuren über längere Zeit auf dem von ihm beherrschten Teil des Strandes zu sehen seien
Der alte Mann hegte diese Gedanken nicht, er schaute auf das Meer hinaus und träumte von vergangenen, lebhafteren Tagen. Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen. Etwas war ihm aufs Gesicht geflogen und er griff danach. Ein kleiner Fetzen Stoff, ein Bikinioberteil.
Gerade war ein Mann an ihm vorbeispaziert, war seinem Bierbauch gefolgt. Eine lächelnde Göttin ging hinter ihm her, setzte ihre stolzen Brüste der steifen Brise aus, die vom Meer herüberkam. Der Alte betrachtete das Oberteil in seiner Hand, dann blickte er auf den Stoff, der ihr Gesäss umspannte.
Das Oberteil kam von ihr. Er legte es in das Boot hinein. Die Natur hat seltsame Einfälle, dachte der Alte und sah dem ungleichen Paar nach. Was spielte sich wohl im Kopf der Frau ab?
Ich weiss nicht, was Hängi hat. Erst hat er mich die Brustvergrösserung machen lassen und nun will er nicht, dass ich oben ohne gehe.
Wenn Hängi gewusst hätte, dass seine Frau ihn in ihren Gedanken Hängi nannte, weil er einem Hängebauchschwein glich, wäre er nicht so sorglos vor ihr hergegangen, sicher auch nicht, wenn er sich umgedreht und gesehen hätte, dass sie sich ihren Wunsch erfüllt hatte. Die Frau blickte zu dem Alten zurück und winkte ihm lächelnd zu. Bald darauf war sie mit ihrem Mann aus seinem Gesichtsfeld verschwunden.
Die Ausläufer der Wellen schwappten an den nassen Strand, tilgten die Spuren ihrer Füsse. Der Alte sah, wie diese mit dem Sand zu einer Einheit verschmolzen, dann blickte er wieder aufs Meer. Etwas Dunkles schwamm auf dem Wasser, wurde langsam näher gespült. Der Alte stieg von seinem Sitz und kletterte vom Boot. Er ging auf den dunklen Gegenstand zu und zog ihn aus dem Wasser heraus. Ein Brett. Es musste einem Schiff gehören. Sinnend betrachtete der Alte das Stück Holz.
Was war mit dem Schiff geschehen? Hatte es eine Havarie, war es gekentert?
Der Alte ging zu dem Ruderboot zurück und legte das Brett daneben, dann kletterte er wieder in das Boot hinein und setzte sich auf die Bank.
Wie aus dem Nichts trabte ein Hund vorbei, hielt seine Nase auf dem Boden, als ob er etwas suchte.
Sein Stummelschwanz zitterte nervös hin und her. Ein Setter, dachte der Alte und sah zu, wie der Hund mehrere Male um das Ruderboot herumstrich. Was suchte er, eine Spur? Die Spur seines Herrchen, der gleichfalls nach ihm Ausschau hielt? Wenn der hier am Wasser entlanggegangen war, dann waren die Spuren verschwunden. Der Alte beobachtete, wie der Hund ins Wasser lief und einige Meter schwamm. Nach einer Weile kam er wieder aus dem Wasser heraus und schüttelte sich. Er blickte den Alten an und winselte. Dann setzte er sich neben das Boot. Gemeinsam blickten beide auf das Wasser hinaus.
Der Hund wurde müde, legte sich in den Sand und streckte alle Viere von sich. Die Gedanken des Alten begannen zu wandern. Er dachte an seinen Freund Erich, den mit der Straussenfarm. Der war dabeigewesen, den Zaun mit einem 13er Schraubenschlüssel zu reparieren und hatte den Schlüssel zur Seite gelegt, als er sich mit ihm unterhielt.
“Erich, dein Schraubenschlüssel ist weg,” hatte der Alte gerufen. In der Tat, als Erich sich umdrehte, war der Schraubenschlüssel verschwunden. Sie hatten sich angeblickt. Es war niemand ausser ihnen da, ausser ihnen und den Straussen. Dann hatten sie zu den Straussen hinübergesehen. Einer von ihnen hatte einen steifen Hals gehabt.
Der Hund knurrte plötzlich und jagte ins Wasser. Er paddelte in das tiefere Wasser hinein und schnappte nach etwas. Er schwamm zurück, hielt es in seinem Maul. Der Hund trabte aus dem Wasser heraus, schüttelte sich, lief zu dem Alten und legte den Gegenstand vor seinem Ruderboot ab.
Es war ein Menschenarm.
“Was hast du denn da gebracht!” rief der Alte verstört. “Bewege dich nicht von der Stelle. Ich hole jetzt den Bademeister.” Er kletterte aus dem Boot heraus und verschwand Richtung Bademeisterei. Als er mit dem Bademeister zurückkam, war der Hund verschwunden und der Menschenarm mit ihm.
“Sie wollen mich wohl für dumm verkaufen!” rief der Bademeister verärgert. “Mann, machen Sie das nicht noch mal!” Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Der Alte schwieg verdattert und ging am Wasser entlang, um ein anderes Ruderboot zu suchen, auf dem er sich ausruhen konnte.


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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