Wolfgang van Heesen

Phönix


Der Tag war schwül und heiß, und endlich, jetzt, zur Nacht hin, kühlt die Luft ganz langsam ab, der Wind weht leicht durch die Bäume und lässt die Blätter zärtlich aneinander rascheln - so, als wüssten sie, dass der Herbst naht und sie bald vergehen würden, um im Mai wie der Vogel Phönix, neu zu gedeihen und zu wachsen.
 

 
Noch sind die meisten Blätter aus dunkelgrünem Licht, Waldfeenlicht. Doch während der langen Trockenzeit, der Zeit der brennenden Sonne, die gnadenlos die ungeschützten Blätter traf, die Wiesen verbrannte und bräunte, fallen sie schon, manchmal durch die Luft gewirbelt, ziellos dem Boden des Phönix entgegen, manchmal bedacht und ruhig, so als sei die Zeit des Alten bereits erreicht und bereit, dass neue zu beginnen.
 

 
Sie sitzt am Fenster, das geöffnet die verbrauchte Luft aus ihren Zimmern weichen lässt. Sie wartet. Leicht und leise genießt sie den kühlen, frischen Atem der Nacht. Fern von ihr ein Wetterleuchten - der Regen ist weit entfernt. Und während der kleine Wind die Blätter der Bäume sammelt, erinnert sie sich. Erinnert sich an die Zeit des Phönix.
 

 
Schon als Kind wurde ihr die Geschichte des Phönix immer und immer wieder erzählt. Und in ihren Gedanken und Gefühlen sieht, hört und fühlt sie ihn immer wieder. Sie stellt sich vor, wie der Vogel immer dann, wenn der Mut sie verlässt und sie die Hoffnung verliert in ihrem Herzen aus seiner eigenen Asche wieder aufersteht, groß, aufrichtig und mutig. Und er fliegt, fliegt dicht über sie hinweg, sie spürt seinen Hauch, die innere Kraft des neuen Tages, der langen, beruhigenden, traumlosen Nacht. In ihrer Phantasie sieht sie den Vogel um die ganze Welt fliegen, nach Norden und Süden, Westen und Osten, sieht und fühlt die Hoffnung und Stärke des Anfangs, die Unvergänglichkeit des Endes, Zeitlosigkeit, Ewigkeit. Ihr Herz klopft bei dem Gedanken, einmal, nur ein einziges Mal eine Feder des Vogel zu finden. Und deswegen sitzt sie am Fenster. Minuten und Stunden - an diesem Tag, in dieser Nacht. Dem Tag des Phönix.
 

 
Sie sitzt dort, an ihrem Fenster. Sie fühlt, er wird kommen. Heute. Mit jeder Faser ihres Körpers, ganz tief in ihrem Inneren hört sie ihn schon. Und während sie einfach nur wartet, ohne Ungeduld, wissend, dass die Zeit reift, zählt sie die Augenblicke der Gegenwart, ist ganz bei sich und ihm. Gefühle tauchen auf und vergehen wieder um Platz zu schaffen für den nächsten Augenblick. Sekunden sind Tage, Nächte sind Minuten, und sie...... wartet. Ganz allein, wie schon so oft. Heute will sie sich nicht erinnern. Heute denkt sie nicht an morgen. Heute nicht. Ohne Gedanken, einfach nur Augenblick.
 

 
Zu oft hat sie gewartet, viel zu oft vergebens.
 

 
Sie glaubt an ihn, den Vogel Phönix. Er, der alle tausend Jahre aus seiner eigenen Asche für einen kurzen Tag, eine kurze Nacht aus seiner eigenen Asche aufersteht und den Menschen Kraft gibt, um dann wieder zu verbrennen und tausend Jahre zu ruhen. Dieser Tag, nur dieser eine Tag genügt, um die Hoffnung in ihr immer wieder aufflammen zu lassen - tausend Jahre und ein Tag, ein Augenblick fuer sie.
 

 
Dann war er da, ohne ein Wort, fast schmächtig, abgekämpft. Sie hatte den Eindruck, er fühlte sich allein, überfordert vom Schicksal des Vergehens, des Auferstehens. Sie wusste, fühlte, jetzt, in diesem Augenblick konnte sie ihm nicht helfen, alle Kräfte des Universums würden nicht ausreichen, seine Schwäche zu lindern und seine Stärke zu finden.
 

 
Er setzte sich an den Tisch, seinen Platz, den Kopf auf die Arme gelegt - weinte er? Sie erfuhr es nie. "Möchtest Du etwas essen" fragte sie, er schüttelte nur den Kopf. "Oder etwas trinken, oder schlafen?" Doch wieder verneinte er, kraftlos und irgendwie haltlos. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, Überhaupt hatte sie eine ganz andere Erinnerung an ihn - war es nicht erst einen Tag her? Wie konnten vierundzwanzig Stunden einen Menschen derartig verändern?
 

 
In vierundzwanzig Stunden kann  die ganze Menschheit vergehen, ging ihr ein Gedanke durch den Kopf. Und während sie in seinen Augen zu lesen versuchte, sah sie die Bilder von Blut, Einsamkeit, unendlicher Leere in seinem Blick, der in der Gegenwart einen Punkt zu fassen suchte. Es gelang nicht. Wie viel hätte sie dafür gegeben, wenn er darüber gesprochen hätte, ein paar Sätze über sein Leiden, seine Schmerzen, sie hätte sie mit ihm geteilt - er war so weit entfernt, vielleicht in der Vergangenheit, der Zukunft. So weit entfernt.
 

 
Und sie sah, wie er verbrannte. Jeden Tag.
 

 
Sie lag neben ihm, rauchte ganz langsam eine Zigarette, dass einzige Licht in der umfassenden Dunkelheit, ein Lichtpunkt, der rasch aufflammte, dann wieder langsam verging. Er schlief, unruhig, aber er schlief. Für ein paar Minuten waren sie nicht getrennt gewesen, sie fühlte, ein paar Sekunden waren sie beide zusammen in der Gegenwart, dem Augenblick gewesen, voller Leidenschaft hatten sie sich geliebt, ihre Leiden gelebt, entbrannt in gegenseitiger Achtung, Aufnahme und Offenheit, animalischer Ehrlichkeit und - Liebe. Und während er sie streichelte, zugriff, ihren Körper nahm, ohne viel zu sprechen, wurde ihr bewusst, dass jetzt - jetzt - einer der Sekunden vergingen, wo er ihr Leben nahm und Leben gab - und kurz danach in diesen unruhigen, oberflächlichen und erschreckenden, traumlosen Schlaf zu fallen. In diesen Sekunden verlor er sich in ihr, sie fühlte sich und ihn - in diesen Bruchteilen des Lebens verbrannte er ganz zu Asche. Und während tausend Jahre vergingen sah sie ihn wie er aus seiner eigenen Asche wieder auferstand, kraftvoll und mächtig, seine Flügel ausbreitete und sich in die Luft erhob. Er brauchte einige Zeit, bis er sich entschied, in Richtung der untergehenden Sonne zu fliegen, dem vergehenden Tag nachjagend, immer wieder, immer wieder und wieder.
 

 
"Wieso erlebe ausgerechnet ich dies alles?"  fragt sie sich in Gedanken. Fragen drängen in ihren Kopf, Fragen, die unlösbar scheinen, und Gefühle, die verwirren. Ihre Gefühle. Seine Gefühle. Und dann die Angst. Zu besitzen, zu verlieren. Zu sagen, nicht zu verstehen. Zu lieben - und soviel Angst. Unsicher schaute sie aus dem Fenster - kam der Morgen schon? Nein, es ist dunkel. Sie hört seinen Atem, jenes Geräusch, was irgendwelches Leben zeigt, sanft legt sie ihr Ohr an seine Brust, sein Herz schlägt langsam, rhythmisch, gleichmäßig.
 

 
Manchmal erkennt sie ihn nicht. Er geht an ihr vorbei, und: Sie erkennt ihn nicht. Manchmal lacht er, spricht er, hört er zu, versucht, in den Augenblick zu gleiten. Doch oft, viel zu oft, lebt er in einer toten Welt, weit entfernt. Weg von ihr, weg von sich selbst - und sie fühlt oft, dass er wegfliegen will, doch er fliegt nicht. Nein, er fliegt nicht. Kann er nicht? Will er nicht?
 

 
Und wieder fragt sie sich: "Warum?"
 

 
Er spricht im Schlaf, leise und fast unhörbar. Er spricht von Blut. Er spricht vom Tod seines Freundes. Er spricht von dem, was ihn zerbrach. Und während sie ihn streichelt, in den Arm nimmt, was er in seinem Schlaf nicht merkt, hört sie zu, aufmerksam, akzeptierend. Er versteht die Welt nicht. Er will kämpfen, immer wieder kämpfen. Doch der Kampf, so sagt er, ist vorbei.
 

 
Für ihn gibt es keine Feinde mehr.
 

 
Er spricht von dem Berg. Von hier ist er gestartet zu seiner Reise, von hier hat er immer wieder versucht, neu zu entstehen und es gelang ihm auch oft. Er spricht von den ungeweinten Tränen der tiefen Traurigkeit, der Mauern aus Stein, die ihn umgaben. Und jetzt: Nichts.
 

 
Er will kämpfen, für die Menschen, mit all seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten, mit all seiner Ausdauer und Energie, seiner Magie, seinem Vertrauen, welches er schon längst verloren glaubte. Kampf ist er gewohnt - und das Gefühl von Friedfertigkeit erscheint ihm neu, ungewohnt - und damit beängstigend. Und während er über seine Kämpfe spricht, wo Niederlagen sich immer wieder in Siege verwandelten, wo aus jedem Schlechten und Bösen das Richtige und Gute entstand, sieht sie in ihrer Phantasie den Berg. Er schildert ihn: Nur ein kurzer Weg, einige hundert Meter nur, dann ist er dem Himmel ein kleines Stück n„her. Von hier, so sagt er, sprach er mit Gott, hörte er sybillische Antworten auf ungestellte Fragen, bekam er Kraft, die kalten Nächte zu überstehen. Und er sprach mit seinem Vater, der längst tot war, an dessen Grab er oft stand und betete zu einem ihm unverständlichen Gott. Und er sprach mit sich selbst, beurteilte, urteilte, verurteilte sein Tun und Handeln, wieder und wieder. Er spricht vom Hoffen und Harren, den Sekunden der Ewigkeit, die zu Tagen und Wochen, gar Monaten wurden.
 

 
Sie versteht ihn. Auch sie hat viel zu oft auf andere gehört, ihr Leben nach anderem Leben gerichtet. Sie erinnert sich an das Buch des Pumas und des Bären, die einander fanden, so zufällig, wie die Sonne jeden Tag im Osten aufgeht und im Westen mit ihrer Wärme versinkt. Und während er ruhiger wird in ihrem Arm, doch noch in tiefen Schlaf versinkt, erinnert sie sich. Erinnert sich an ihre Kindheit, an Vater, Mutter; das Gefühl, klein und winzig zu sein, und doch: Zu wachsen. Jeder Mensch wächst, denkt sie, es ist wahr. Ein Mysterium, das sie und ihn verbindet. Und jetzt schläft sie ein.
 

 
Nur langsam erwacht sie, innerlich widerstrebend. Sie ist allein. Sie hat dies erwartet.
 

 
Sie weiß, der Vogel Phönix wird zurückkehren. Vielleicht wird sie ihn nie verstehen. Vielleicht. Und doch weiß sie, dass er aus seiner eigenen Asche wieder auferstehen wird.
 

 
In tausend Jahren. In tausend Stunden. In tausend Minuten.
 

 
Heute.
 

 
Sie sitzt am Fenster. Und in der Morgendämmerung erscheinen ihr die Bäume wie in Waldfeenlicht gehüllt.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.03.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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