Karin Ernst

Eine neue Chance

Müde kommt Nora Fröhlich mittags von der Bibliothek nach Hause. Dort arbeitet sie halbtags. Sie schließt die Wohnungstür auf und betritt den Flur.

"Hallo Sven, bist du da?", ruft sie, aber nichts rührt sich. 'Er wird wieder im Clubhaus sein', überlegt sie.

Sven, ihr Mann, ist schon seit einigen Jahren Pensionär. Oft ist es ihm tagsüber langweilig zu Hause. Er spielt Golf und verbringt seine Freizeit daher gerne im Golfclub. Manchmal hat Nora die Vermutung, er hat dort auch eine kleine Liaison. Vielleicht mit der hübschen Kellnerin des Golfclub-Restaurants? Aber auch bei anderen Damen ist ihr Mann sehr beliebt, denn ihnen gegenüber spielt er gerne den Charmeur.

 

Während Nora ihren Mantel an die Garderobe hängt und den Schlüsselbund an den entsprechenden Haken, sinniert sie ein wenig über ihre Ehe. Sie ist bereits seit 27 Jahren mit Sven verheiratet. Viel haben sie sich nicht mehr zu sagen. Alles geht seinen Gang. Sven nimmt es ihr übel, dass sie weiterhin arbeiten geht. Aber diese Aufgabe möchte sie, solange sie kann, nicht beenden. Sie liebt ihren Beruf über alles und ist froh, dass sie ihn wieder aufnehmen konnte, nachdem ihre Kinder das Haus verlassen hatten. Beide haben ihre eigenen Familien und leben jeweils in einer anderen Stadt. Weit entfernt von Nora und Sven.

 

Sven war Gymnasiallehrer und genießt seinen Ruhestand. Neues im Leben mag er allerdings überhaupt nicht. Seit vielen Jahren bewohnen sie eine Dreizimmerwohnung mit Balkon. Diese ist wunderschön geschnitten, aber Nora würde gerne kleine Veränderungen vornehmen. Sie hatte sich Gedanken darüber gemacht, dass sie vielleicht einen eigenen Raum für sich einrichten könnte. Aber Sven reagierte mit Ablehnung, als sie ihn eines Tages mit dieser Idee überraschte.

 

Ein Problem hatte es auch gegeben, als sie einen Computer anschaffen wollte. In der Bibliothek, in der sie arbeitet, hantiert sie täglich damit. Also beschloss sie, zu Hause auch einen zu besitzen. Sven war ganz und gar dagegen, weil er sich mit dieser Errungenschaft der Neuzeit, wie er den Computer nennt, überhaupt nicht anfreunden möchte.

 

In diesem Falle aber setzte Nora sich durch. Sie suchte in einem Fachgeschäft ein für sie geeignetes Modell aus und ließ es eines Nachmittags, als Sven mal wieder in seinem geliebten Golfclub weilte, anliefern und sofort im Arbeits- und Gästezimmer installieren. Mit der Technik kam sie bald zurecht.

Nie wird Nora den Tag vergessen, als ihr Mann abends nach Hause kam. Er betrachtete den Computer kurz von allen Seiten, machte auf dem Absatz kehrt und verhält sich seitdem, als wenn es dieses Gerät nicht gäbe. Nur noch selten betritt er dieses Zimmer, in dem der Computer auf einem Schreibtisch seinen Platz hat.

 

Nora unterbricht ihren Gedankengang und geht ins Schlafzimmer, um sich bequeme Sachen anzuziehen. Für einen Moment legt sie sich der Länge nach aufs Bett und entspannt sich. Dann schaut sie in die Küche, ob Sven irgendetwas zum Mittagessen vorbereitet hat. Aber die Küche sieht noch genauso aufgeräumt aus, wie Nora sie am Morgen verlassen hat. 'Na, er wird wieder im Golfclub essen. Ist doch ganz klar', überlegt sie. Sie nimmt ein Holzbrettchen aus dem Schrank, schneidet eine Scheibe Brot ab und belegt diese mit Butter und Käse. Einen geviertelten Apfel dazu, das wird ihr schmecken. Diese Mahlzeit genügt ihr, denn großen Hunger hat Nora nicht. Sie gießt sich noch ein Glas Apfelschorle ein, stellt alles auf ein Tablett und begibt sich damit auf den Balkon. Das Wetter ist herrlich. Dieses Jahr ist ein wunderbarer September, freut sie sich mit einem Blick vom Balkon in den Nachbargarten.

Genüsslich verspeist sie ihr kleines Mittagsmenü.

 

Ein wenig träge von der Herbstsonne gönnt Nora sich anschließend etwas Muße. Sie lässt den Tag in der Bibliothek Revue passieren, denkt an ihre Lieblingsbücher, die sich im Wohnzimmer auf einem Beistelltischchen stapeln, und freut sich auf den morgigen Tag. Morgen ist Mittwoch und am Abend geht sie regelmäßig zur Gymnastikstunde. Sie trifft sich dort mit ihrer Freundin Ulla und genießt die Abwechslung. Ansonsten sind Bücher und neuerdings noch der Computer ihr Hobby.

 

Außerdem mag sie Zimmerpflanzen. Der kleine Balkon bietet keine große Stellfläche, so dass sie dort nur wenige Pflanzen unterbringen kann. Sven interessiert sich nicht besonders für Gartenarbeit, sonst hätte sie vielleicht ihren Wunsch durchsetzten können, eine Erdgeschosswohnung mit Garten zu bewohnen. Diesen Traum hat sie aber seit langem aufgegeben. Wie auch den eines eigenen Zimmers. Sie seufzt ein wenig, holt dann aber die Blumengießkanne. Liebevoll bekommen ihre Kinderchen, wie sie die Zimmer- und Balkonpflanzen nennt, etwas zu trinken. Sie danken es ihr mit üppigem Wachstum.

 

Anschließend vertieft sich Nora in ihr momentanes Lieblingsbüchlein von Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. Leihweise hat sie sich aus ihrer Bibliothek außerdem einen herrlichen Bildband mitgebracht: Ein Zimmer für Sie allein - Frauen und ihre Refugien. Als sie den Bildband aufschlägt, versinkt sie in eine andere Welt. Sie erfährt von Frauen und deren Chancen, sich zurückziehen zu können, sich zu besinnen und neue Kraft zu schöpfen. Der Bildband lehnt an das Woolf-Thema an und lädt Frauen dazu ein, sich ihren persönlichen Freiraum zu gestalten. 'Ja', denkt Nora, 'es wäre schön, wenn ich das Arbeitszimmer eigens für mich umgestalten könnte.' Doch ihr ist klar, dass sie dieses Thema nicht noch einmal mit Sven bereden kann.

 

Früher steckten sie voller Pläne. Sie kann sich gut an diese und gemeinsame Freuden erinnern. Soweit es finanziell möglich war, hatten sie ihre Ideen und Träume verwirklicht. Viele Zweisamkeiten gab es damals zwischen ihnen. Nora hat das Gefühl, dass diese Zeiten Lichtjahre her sind. Sobald sie mit irgendwelchen Änderungsvorschlägen kommt, wird Sven nervös. Er möchte alles so lassen, wie's ist. So haben sich beide seit langem arrangiert. Bequemlichkeit bestimmt den Alltag. Nora gestattet sich wenigstens, in Büchern ihre Träume zu leben. Abwechslung bietet ihr dazu auch der Computer. Tauscht sie sich mit ihren Mailfreundinnen aus, vergeht die Zeit wie im Fluge.

 

Am Abend kommt Sven heim. Er wirkt leicht angetrunken, aber fröhlich. Diese Fröhlichkeit verschwindet, sobald er seine Frau sieht. "Ach, bist du da?", fragt er Nora.

"Wo soll ich sonst sein?", fragt sie zurück. "Du weiß doch, wann ich Feierabend habe. Warst du im Golfclub? War's denn schön?", ergänzt sie ihre Frage.

"Hm", antwortet Sven, "wie immer. Kann ich die Tageszeitung haben?"

Damit ist für ihn die Unterhaltung beendet. Nora reicht die Tageszeitung und Svens Gesicht verschwindet hinter dieser. Mit einem Seufzer erhebt sich Nora und geht zum Computer. 'Wir könnten auch getrennt leben', denkt sie.

 

Als Sven es sich später vor dem Fernsehgerät bequem macht, kann sie in Ruhe die Tageszeitung durchstöbern. Gerne sieht sie sich die Immobilienangebote an. Plötzlich stutzt sie bei einer kleinen Anzeige. Sie liest leise mit: "Zwei-Zimmer-Erdgeschosswohnung. Altbau mit hohen Räumen. Nicht einsehbarer kleiner Garten. Wohnzimmer mit kleinem Erker. Neue Heizung, neues Bad, Einbauküche. Vollrenoviert." Die Anzeige endet mit der Telefonnummer einer Maklerfirma. 'Das kann doch gar nicht sein', überlegt sie. 'Das hört sich nach Traumwohnung an. Wieso ist die nicht vermietet?' Sie lächelt in sich hinein und Sven, der sie kurz beobachtet, wundert sich.

"Steht irgendetwas Lustiges in der Zeitung?", fragt er, wartet die Antwort jedoch nicht ab, sondern wendet seinen Blick sofort wieder zum Fernseher.

"Nein, nein, nichts Besonderes", antwortet Nora schnell. Warum sollte sie ihm von diesem Wohnungsangebot erzählen?

 

Am nächsten Morgen kann sie es gar nicht erwarten, zu ihrer Arbeitsstelle zu kommen. Die Wohnungsanzeige hat sie ausgeschnitten und ruft sofort die Maklerfirma an. Als sie den Hörer auflegt, fragt sie sich: 'Was soll das denn werden? Ich bin ja wohl verrückt!' Sie hat einen festen Termin mit einer sehr nett klingenden Maklerin vereinbart, um sich ihre Traumwohnung anzusehen. Bereits am Nachmittag.

Die Zeit scheint heute endlos zu laufen. Da sie kein eigenes Auto besitzt, fährt sie nach der Arbeit mit dem Autobus zu der von der Maklerin angegebenen Adresse. Unterwegs achtet sie gut auf den Weg. Der Stadtteil, in der sich die Wohnung befindet, gehört zu den vornehmeren. 'Hier wird die Miete zu hoch sein. Bestimmt kann ich mir die Wohnung gar nicht leisten', überlegt sie, als sie aus dem Bus steigt.

 

Nora ist angenehm überrascht, als sie von der Haltestelle nur noch knappe zehn Minuten zu Fuß gehen muss, um das Haus zu erreichen, vor dem sie mit der Maklerin verabredet ist. Flotten Schrittes nähert sie sich ihrem Ziel. Dort angekommen, schaut sie sich ein wenig um. Was sie erkennen kann, gefällt ihr gut. Es ist ein villenartiges Gebäude, in dem sich die kleine Wohnung befindet. Von solider Bauweise und mit gepflegten Anlagen ringsherum schmeichelt es ihren Augen.

Nach einigen Minuten kommt eine junge Frau eilig auf sie zu. "Guten Tag. Sind Sie Frau Fröhlich?", fragt sie Nora.

"Ja, mein Name ist Nora Fröhlich."

Sie geben sich die Hand und die Maklerin holt einen dicken Schlüsselbund aus ihrem Aktenkoffer. Sie schließt die schwere hölzerne Eingangstür auf und beide Frauen betreten das Haus. Ehrfürchtig blickt Nora sich im Treppenhaus um. Die Wände sind mit alten bemalten Fliesen beklebt.

 

An einer der drei Wohnungstüren im Erdgeschoss sucht die Maklerin einen weiteren Schlüssel aus dem Bund und schließt eine hübsch gemaserte Tür auf, die mit einer Messingklinke verziert ist. Nachdem Nora vorsichtig die Wohnung betritt, fragt die Maklerin: "Sie würden allein hier einziehen? Denn sehr groß sind die Räume nicht, aber hoch. Deshalb konnten wir diese kleine Wohnung bisher auch nicht vermieten."

Nora zögert einen Moment und antwortet dann souverän: "Ja, ich würde die Wohnung allein bewohnen." 'Puh, das ist geschafft. War gar nicht so einfach', fügt sie im Stillen hinzu.

 

Die Maklerin setzt sich auf einen kleinen Hocker, der vergessen in einem der Räume steht. Sie sieht aus, als könne sie eine kleine Pause gebrauchen.

Beinahe andächtig durchstreift Nora die Räumlichkeiten dieser freundlichen kleinen Wohnung. Angetan ist sie von dem Erker mit den kleinen runden Fenstern. So etwas Hübsches hat sie selten gesehen. 'Hier müsste ein Schaukelstuhl stehen', plant sie gedanklich bereits einen Teil der Einrichtung. Ihre Blicke verweilen in jeder Ecke der Zimmer und mit dem, was sie überall sieht, ist sie voll zufrieden.

 

"Wollen Sie sich jetzt vielleicht den Garten ansehen?", bittet nach einer Weile die Maklerin. Nora folgt ihr durch die Wohnzimmerglastür nach draußen auf die Terrasse. Ihre Augen weiten sich. Schlagartig erinnert sie sich an das Klassiker-Jugendbuch Der wilde Garten, das sie immer mal wieder gerne liest.

"Ach, ist das hübsch", gibt sie ihrem Entzücken Ausdruck. Eine kleine grüne Oase liegt vor ihr. Ja, so soll er aussehen, ihr Traumgarten. Es gibt nichts daran auszusetzen. Am meisten freut sie sich allerdings darüber, dass tatsächlich niemand hineinsehen kann. Herrliche alte Hecken umschließen ihn. Das Schönste an diesem Traum aber ist für Nora der große Walnussbaum, der majestätisch in der Mitte dieses kleinen Paradieses steht. Wie ein Wächter über das kleine Gärtchen.

 

Am liebsten würde Nora sich auf den Rasen legen und ein wenig träumen, aber die Maklerin hat es eilig und spricht sie an: "Wie sieht's denn aus? Können Sie sich heute schon entscheiden?"

Nora zögert einen Moment, bevor sie antwortet: "Darf ich um ein wenig Bedenkzeit bitten? Ich kann heute noch nichts Genaues sagen."

"Kein Problem", entgegnet die Maklerin. "Wenn Sie wissen, ob Sie die Wohnung möchten, rufen Sie mich an. Sie hat jetzt so lange leer gestanden, da wird sie wohl auch weiterhin nicht so schnell vermietet werden. Die hohen Räume schrecken viele Interessenten ab, weil sie die Heizkosten fürchten. Meine Handy-Nummer haben sie ja."

Beide verlassen die Wohnung. Die Maklerin schließt die Wohnungstür ab und verabschiedet sich von Nora.

 

Als sie in ihr Auto einsteigen will, fällt Nora noch etwas ein. "Könnte ich vielleicht einen Wohnungsschlüssel bekommen, damit ich eventuell schon mal Maß nehmen kann? Für Gardinen und so weiter", bittet sie.

"Kein Problem", antwortet die Frau, löst einen Schlüssel aus dem dicken Bund und gibt ihn Nora. Wie benommen schaut Nora dem abfahrenden Auto hinterher. In ihrer Hand hält sie den Wohnungsschlüssel fest umschlossen und kann nicht glauben, dass sie im Begriff ist, eine für sie neue Chance zu ergreifen. So viel Mut hätte sie sich gar nicht zugetraut.

 

Am Abend trifft sie sich mit ihrer Freundin Ulla zum Gymnastikunterricht. "Was ist denn mit dir los? Du strahlst ja so", empfängt Ulla sie vor der Turnhalle und umarmt die Freundin.

"Ach, es ist weiter nichts. Nur ...", antwortet Nora lang gezogen.

"Nur was?", bohrt Ulla. "Nun erzähl schon. Ist etwas passiert?"

Nora kann die Neuigkeit nicht länger für sich behalten. So platzt sie mit der ganzen Idee heraus. "Und denk dir, Ulla, die Miete ist gar nicht so hoch, wie ich dachte", schließt sie.

Nach einer Pause lacht Ulla schallend los. "Meine Freundin Nora möchte sich selbständig machen. Endlich überlegt sie, eigene Wege zu gehen und ihren Langweiler von Ehemann zu verlassen. Das hättest du schon lange tun sollen." Skeptisch betrachtet sie die Freundin, ob diese wohl einen Rückzieher machen wird. Nora aber steht rotwangig und mit glänzenden Augen vor ihr.

 

"Weißt du was", schlägt Ulla plötzlich vor, "wir schwänzen heute die Gymnastik und gehen in die kleine Eckkneipe zum Quatschen. Dort kannst du mir alles haarklein erzählen. Ich will es ganz genau wissen." Sie hakt Nora unter und beide machen ihr Vorhaben wahr.

"Du weißt, dass du meine volle Unterstützung hast", bietet Ulla später ihre Hilfe an. "Gemeinsam kriegen wir das schon hin. Auch auf Paul kannst du zählen.“

Nora muss lachen, weil Ulla ihren Freund verplant. Aber sie kennt Paul als gutmütigen Mann und kann sich vorstellen, dass er beim Umzug helfen würde. Wenn Ulla und Paul auch nicht zusammen leben, so sind sie doch seit langer Zeit ein Paar. Das hält die Liebe frisch, ist Ullas Devise.

 

Die Zeit vergeht wie im Fluge, als Nora ihrer Freundin von ihren Plänen berichtet. Erschrocken sieht sie auf ihre Armbanduhr. "Jetzt muss ich aber los. Sven wird sich wundern, wo ich bleibe."

"Bist du dir da so sicher?", fragt Ulla zurück. "Vielleicht ist er noch im Club." Lange bereits hat sie den Verdacht, dass der Mann ihrer Freundin eine Geliebte hat. Das spricht sie jedoch nicht aus.

Sie verabschieden sich herzlich voneinander, und Ulla wünscht Nora bei ihrem weiteren Vorhaben viel Glück.

 

Als Nora zu Hause den Schlüssel ins Wohnungstürschloss steckt, ist diese unverschlossen. Sven ist also daheim.

"Du kommst aber spät", begrüßt er sie. "Konntest dich wieder nicht von deiner Freundin losreißen?"

"Du weißt ja, wie das ist", antwortet Nora. Sie überlegt, ob sie den Moment nutzen soll, ihm von ihren neuesten Überlegungen zu erzählen. Doch der Zeitpunkt ist verpasst, denn Sven macht sich bereit, ins Bett zu gehen.

'Na, dann eben morgen', beschließt Nora und geht ebenfalls schlafen.

 

Nach Arbeitsende am nächsten Tag kauft sie sich einige Einrichtungszeitschriften, die sie zu Hause in aller Ruhe durchstöbert. Sven wirft irgendwann einen kurzen Blick auf die Hefte, äußert sich aber nicht näher dazu. Nora merkt, dass sie sich verändert. Sie steckt voller Pläne, die die kleine Wohnung betreffen. Farb- und Stoffmuster für Gardinen und Wände hat sie sich besorgt und plant und träumt weiter. Sie blüht richtiggehend auf.

 

Ein paar Tage später ergibt sich ein geeigneter Moment, mit Sven zu reden. "Wie siehst du eigentlich unsere Ehe, Sven? Wir könnten auch gut getrennt leben, bei dem Wenigen, was wir uns noch zu sagen haben. Du gehst deine eigenen Wege. Ich weiß gar nicht mehr, was du so machst."

Irritiert blickt ihr Mann sie an, forscht in ihrem Gesicht. "Ist das dein Ernst? Was willst du damit sagen?", fragt er zurück. "Willst du etwa ausziehen?"

"Und wenn's so wäre?", entgegnet sie leise. Eine Pause entsteht. Beide schweigen.

"Vielleicht gar keine so schlechte Idee. Mach doch, was du willst. Du immer mit deinen sonderbaren Plänen und Vorstellungen", ereifert er sich plötzlich und wendet sich abrupt ab. Sprachlos vor Erstaunen sieht Nora ihm nach. Was soll sie von dieser Antwort halten? Ob er doch eine Neue hat?

Nach einigen Minuten ist sie sich ihrer Entscheidung sicher.

 

Am darauf folgenden Tag fährt sie ein zweites Mal zu ihrer neuen Wohnung. In dem Moment, als sie die Eingangstür aufschließt, öffnet sich die Tür der Nachbarwohnung.

"Hallo, dort wohnt niemand. Kann ich Ihnen helfen?", fragt ein Mann und kommt ins Treppenhaus.

Nora stutzt, denn der Nachbar hat eine angenehm tiefe Stimme. "Ich interessiere mich für die Wohnung, so dass mir die Maklerin den Schlüssel überlassen hat. Heute möchte ich Maß nehmen und Farbpläne machen", antwortet sie.

"Soso, Sie werden also eventuell meine neue Nachbarin. Das ist aber nett. Dann möchte ich mich gleich vorstellen. Rehberg mein Name. Joshua Rehberg."

"Angenehm", antwortet Nora. "Nora Fröhlich."

Eine große Hand umschließt kräftig ihre und sie sieht in ein warmes, wenn auch grobes Gesicht.

"Wenn Sie mögen, würde ich Sie gerne auf eine Tasse Kaffee einladen. Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben. Und wenn Sie mit der Arbeit fertig sind."

Nora überlegt nur für Sekunden, dann sagt sie zu.

 

Nachdem sie in der Wohnung Maß genommen hat, sich klar über ihre Farbvorstellungen geworden ist, verlässt sie ihre Wohnung und verschließt sie ordnungsgemäß. Danach klingelt sie an der Nachbartür. Herr Rehberg bittet sie herein. Der Kaffeetisch ist gedeckt und sie nimmt Platz. Ohne große Fremdheit beginnen sie ein unterhaltsames Gespräch. Der Nachbar erzählt, dass er Witwer ist und sein Sohn in Frankreich lebt. Als Professor für Literaturwissenschaften arbeitet er an der hiesigen Universität. Nora beobachtet ihn zaghaft. Er mag etwas jünger sein als sie. Als er von ihrem Beruf hört, ist er Feuer und Flamme. Die gemeinsame Liebe zu Büchern führt zu einer interessanten Unterhaltung, so dass die Zeit vergeht, ohne dass sie es bemerken.

 

Nach einiger Zeit, als ihr Kaffee inzwischen kalt geworden ist, erhebt Nora sich von dem bequemen Ledersessel. "Jetzt muss ich aber wirklich gehen. In der nächsten Zeit habe ich viel vorzubereiten", sagt sie und verabschiedet sich von Herrn Rehberg.

"Wir werden uns jetzt wohl häufiger sehen", sagt er lächelnd. "Ich freue mich."

Beim Hinausgehen schaut sie sich verstohlen um und ist von der Einrichtung seiner gemütlichen Junggesellenwohnung recht angetan. An der Tür reichen sie sich zum Abschied die Hand.

"Mir fällt noch ein, was ich Ihnen sagen wollte. Scheuen Sie sich bitte nicht, bei mir zu klingeln, falls Sie Hilfe benötigen", sagt Herr Rehberg.

Beschwingten Schrittes verlässt sie das Haus.

 

Auf der Heimfahrt überlegt Nora in leichter Panik, ob sie die Umzugsvorbereitungen allein schaffen kann. Doch Ulla und Paul stehen zur Verfügung. Sie wird es schon packen. Und der nette neue Nachbar hat ebenfalls seine Hilfe angeboten, ruft sie sich lächelnd ins Gedächtnis.

 

Dann freut sie sich auf das Gardinennähen, das sie sich für heute Abend vorgenommen hat, und denkt:

 

'Morgen werde ich meine neue Chance nutzen.

 

Ich werde den Mietvertrag unterschreiben’...

 

 

 

********** E N D E **********

 

 

 

 

 

 

 

(c) Karin Ernst

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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