Angelika Röhrig
Das Mädchen war nicht mehr jung.
Die mausgrauen Haare trägt sie zu Rattenschwänzen gebunden hinter den
kleinen Ohren. Die Augen sind von unbeschreiblicher Farbe: in einem
hellen Bernsteinbraun tanzen grüne Sprenkel. Ein tiefes Grau umrahmt
die Iris.
Das schmale Mädchen gleicht einem Knaben. Winzige Brüste zeichnen
sich ab unter dem engen geblümten Trikot, und die kaum gerundeten
Hüften wiegen sich beim Gehen. Ein langer Schal flattert feminin um den
Hals und wippt mit den Zöpfen im Takt - fast, als sei er eine Fahne im
Wind.
Lacht dieses alte Mädchen jemals? Unter großen ausdrucksvollen
Augen und einer zierlichen Nase wirken die zusammengepressten Lippen
schmal und streng.
Die Haut ist hell und einzelne Sommersprossen zieren die Wangenknochen.
Und doch, in diesem Wesen liegt etwas ungemein Bezwingendes.
Es schaute die Menschen an, verschenkte ohne Koketterie tiefe Blicke. Entgeht diesem Blick jemals etwas?
Wie aus heiterem Himmel lacht dieses Gesicht plötzlich, verzieht sich spitzbübisch, fast koboldhaft.
Faszinierend: im einem Augenblick erscheint das Gesicht uralt und
im übernächsten schon jung, wie das blühende Leben. Es kommt wohl auf
das Licht und die Tagesform an.
Über den Augenblick schiebt sich ein stummer Film: ich sehe eine
Clownin auf dem gespannten Seil. Sie dreht dem Publikum eine lange
Nase.
Bevor sie aussteigt und meinen Blicken entschwindet, beugt sie sich zu mir herüber: "Übrigens, ich heiße Aurora."
@angelika röhrig
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.04.2008.
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